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Das Fest

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Von Anton Holzer/

300 Jahre Wiener Zeitung!Ein langer, diagonal in die Bildtiefe hineinreichender Raum, ein langer Tisch, hinter dem sich Menschen in festlicher Kleidung versammeln. Fast alle blicken in die Kamera. Die Regie der Aufnahmeapparatur hat die Zügel fest in der Hand. Nur vier Personen - zwei Männer und zwei Frauen - folgen dieser machtvollen Aufforderung nicht: die alte Frau, die in der Mitte des Tisches sitzt und der alte Mann links neben ihr sowie der Mann, der im Vordergrund in der hinteren Reihe steht und die Frau, die vor ihm sitzt. Sie fixieren, so scheint es, einen anderen Punkt im Raum. Sie durchkreuzen die Diagonale, die der Fotograf auf subtile Weise eingerichtet hat.
Was ist es wohl, das sie veranlasst, den Raum im Augenblick der Aufnahme anders zu vermessen als all die anderen, die mit ihnen den Tisch teilen.


Das Serviermädchen, das soeben durch die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes hereinkommt und die Suppe aufträgt? Ein Verwandter, der sich im letzten Augenblick noch zur Festgesellschaft gesellt? Eine Tür in den Garten, ein Fenster, das das helle Sonnenlicht in den Raum wirft und die scharfen Schatten der Stühle zu einem irreale Muster auf der weißen Tischdecke verdichtet? Wir wissen es nicht.


Das Serviermädchen, das soeben durch die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes hereinkommt und die Suppe aufträgt? Ein Verwandter, der sich im letzten Augenblick noch zur Festgesellschaft gesellt? Eine Tür in den Garten, ein Fenster, das das helle Sonnenlicht in den Raum wirft und die scharfen Schatten der Stühle zu einem irreale Muster auf der weißen Tischdecke verdichtet? Wir wissen es nicht.
Die Festgesellschaft, die sich im Blick in die Kamera als Gemeinschaft konstituiert, gehorcht einem strengen Regelwerk. Um die Jahrhundertmitte, als dieses Bild in Budapest aufgenommen wurde, waren die Bildachsen der Fotografie und der gesellschaftlichen Übereinkunft noch nicht ins Wanken geraten. Die Fotografie und das Fest - beide sind Übungsorte für gesellschaftliche Rituale. Beide haben sich u. a. dem unausgesprochenen Zweck verschrieben, Gemeinschaften zu konstituieren. Beide dirigieren Haltung, Gestik und die Bewegung im Raum durch die Macht einer "unsichtbaren Hand". Die Regeln, die diese "unsichtbare Hand" vorgibt, haben wir gelernt: Blicke in die Kamera, iss mit Messer und Gabel, verdecke von deinem Nachbarn nicht das Gesicht, löffle nicht aus der Suppenschüssel! Das Festmahl wie die Fotografie funktionieren nach einem besonderen gesellschaftlichen Kodex. Wer wo sitzt ist ebenso vorgeschrieben wie die Abfolge des Menüs. Auch die Fotografie hat sich ein solches Regelwerk gegeben. Den Anweisungen in den Handbüchern für die Fotoamateure entsprechen die Regeln in Benimm-Dich-Büchlein und in Kochbüchern: "Deshalb ist es so wichtig", heißt es in einem, "die Gerichte nicht nur appetitlich anzurichten, sondern auch auf einem schönen Tisch zu servieren." Demnach gilt für die klassischen Regeln des Tischdeckens: "Das Tischtuch ganz nach Anlass auswählen. Weiß wirkt besonders festlich." Oder: "Links vom Teller liegen die Gabeln, rechts die Messer und - falls nötig - die Suppenlöffel.

Für jeden Gang wird ein komplettes Besteck gedeckt. Dessertlöffel und -gabeln sowie Spezialbesteck wie Hummergabeln liegen oberhalb des Platztellers quer." Und was die Gläser betrifft: Sie stehen "je nach Getränkefolge von rechts außen nach links innen; also das Sektglas ganz nach außen, das Wasserglas ganz nach innen.

Für jeden Gang wird ein komplettes Besteck gedeckt. Dessertlöffel und -gabeln sowie Spezialbesteck wie Hummergabeln liegen oberhalb des Platztellers quer." Und was die Gläser betrifft: Sie stehen "je nach Getränkefolge von rechts außen nach links innen; also das Sektglas ganz nach außen, das Wasserglas ganz nach innen."
Diese ehern inszenierte Tischgemeinschaft hat sich mittlerweile fast ebenso aufgelöst wie die frontale Gruppenfotografie. Klassen- und Familienfotos, die im epischen Nebeneinander und Hintereinander ganze Gemeinschaftsromane erzählen, gehören mittlerweile der Vergangenheit an. Und auch die Kultur des Festmahls ist brüchig geworden. Die scheinbar so zwanglose Party, die den Eintretenden mit dem Campariglas auch sogleich das Du-Wort anbietet, ist an die Stelle des traditionellen Festessens getreten. Vielleicht deutet der Blick aus der Kamera auf unserem Bild diese Bruchlinie bereits schüchtern an. Freilich ist es hier noch nicht die Rebellion der jungen Generation gegen das Korsett des Anstandes, das die Regeln des klassischen Festmahls untergräbt.
Die zentrale Achse, die das klassische Festmahl strukturiert, ist horizontal und vertikal zugleich. Der Tisch steht im Zentrum dieser Inszenierung. Er schafft Ordnung in der Gemeinschaft und im Raum. Nicht zufällig sitzen die wichtigsten Personen in der Mitte oder am Tischende (capo tavola), und um sie herum in abnehmender Wichtigkeit: Verwandte, Untergebene, Bekannte. Der Tisch schafft aber auch Ordnung zwischen Oben und Unten. Diese Ordnung freilich begann sich spätestens seit den 60er-Jahren aufzulösen: Der Tisch als Ort gesellschaftlicher Übereinkünfte und strenger Ordnungen wurde zum Ort möglicher Überschreitungen.
Die Doppelbödigkeit bürgerlicher Moral ist in den 60er- und 70er-Jahren vermutlich kaum irgendwo so deutlich aufs Korn genommen worden wie bei Tisch. Über der Tischplatte herrscht starres Benehmen, die Prüderie der Familie und das Diktat des Anstands. Nur heimlich, unter dem Tischtuch macht sich Auflehnung, Chaos, Sex und womöglich Perversion breit.
Bei Bunuel beispielsweise gerät nicht nur die Ordnung über dem Tisch, sondern sogar der heimliche Exzess unter dem Tisch unversehens zur Farce. In "Das Gespenst der Freiheit" (1974) etwa ist die Tischgesellschaft, auf Kloschüsseln samt eingebauter Spülung sitzend, in eine "anständige" Unterhaltung über dem Tischtuch vertieft. In "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" (1972) schließlich wird die friedliche Tischgesellschaft von einem Terrorkommando überrascht. Ein einziger der Gäste kann sich unters Tischtuch retten und während Maschinengewehre zu rattern beginnen, schiebt sich seine gierige Hand noch einmal von unten über die Tischkante, um ein saftiges Stück Braten ins Versteck zu holen. Mit dem Fleischkloß im Mund wird er unter dem Tischtuch entdeckt und - erwacht. Aus einem Alptraum.


Erschienen am: 28.04.2000

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