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MorgenWelt
19. Oktober 2000
 

Ameisen ins Netz!

Soziale Insekten entwickeln eine "Schwarmintelligenz", welche die Informatiker fasziniert. Mittlerweile wimmeln Netzwerke von virtuellen Ameisen und künstlichen Pheromonen.

von Francoise Dupuy-Maury

Wer hätte gedacht, daß Handlungsreisende sich einmal von Ameisen inspirieren lassen sollten, um ihre Reisen von Stadt zu Stadt zu optimieren? Und sogar für überlastete Telekommunikationsnetze könnten die kleinen Tiere sich als Segen erweisen. Bei Ameisen wie auch bei Bienen gilt: Gemeinsam sind wir stark! Und obwohl Insektenforscher dieses Phänomen schon lange beobachten, machen Informatiker und Ingenieure es sich erst seit kurzem zunutze. Heute ist diese kollektive Intelligenz oder "Schwarmintelligenz" - so nennen sie Guy Theraulaz vom französischen CNRS (Centre National de Recherche Scientifique) und seine Kollegen Marco Dorigo vom Brüsseler IRIDIA (Institut de Recherches Interdisciplinaires et Développements en Intelligence Artificielle) und Eric Bonabeau von der Pariser Firma Eurobios - ein echter Glücksfall für Forscher auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz.


Die Haupteigenschaft von sozialen Insekten wie Ameisen oder Bienen ist das Agieren in selbstorganisierten Gruppen, deren oberstes Gebot die Einfachheit ist. Ameisen lösen ständig komplexe Probleme, nur durch die Summation einfacher Interaktionen zwischen den Individuen. Beispielsweise kann eine Ameise, der Pheromonspur einer Artgenossin folgend, den kürzesten Weg vom Bau zu einer Nahrungsquelle nehmen. Einem Weg zu folgen ist einfach - das Finden des Weges definitiv nicht.


Guy Theraulaz, Experte für Verhaltensforschung, hat dieses Phänomen an Kolonien einer argentinischen Ameise, Linepithema humile, untersucht. Er bot den Tieren zwei Äste unterschiedlicher Länge an, auf denen sie zu Futter gelangen konnten. Zunächst war die Wahl der Ameisen zufällig. Diejenigen Ameisen aber, die den kürzeren und damit schnelleren Weg genommen hatten, konnten in der gleichen Zeit öfter zwischen Nest und Nahrung hin- und herlaufen. Dadurch erhöhte sich nach und nach die auf dem kürzeren Ast hinterlassene Pheromonmenge. Diese Duftnachricht wurde auch von den übrigen Ameisen verstanden - und so fanden sie schließlich ebenfalls auf den optimalen Weg.
Lange Zeit träumten die Informatiker davon, diese Fähigkeiten nachbilden zu können.

Heute tun sie es. Virtuelle Ameisen und künstliche Pheromone haben bereits mit dem klassischen Problem des Handlungsreisenden (travelling salesman problem, TSP) aufgeräumt. Bei diesem Problem sucht man die kürzeste Reiseroute durch mehrere Orte, ohne einen Ort mehrmals besuchen zu müssen bzw. dürfen. Das Prinzip mag simpel erscheinen, aber bei nur 15 Orten liegt die Zahl aller möglicher Routen schon bei fast 90 Milliarden... Durch Nachahmen der Strategie von Ameisen bei der Futtersuche konnten Marco Dorigo und seine Mitarbeiter die Reiserouten von virtuellen Insekten optimieren. Indem diese unterschiedliche Mengen künstlicher Pheromone auf den Wegen deponierten - und diese Duftstoffe allmählich wieder verdunsteten - konnten die Insekten schließlich die kürzeste Route finden. Und somit auch der Handlungsreisende.


Eine Ameisenkolonie besitzt noch weitere Eigenschaften, die sich Informatiker zunutze machen können. Sie verfügt über eine große Anpassungsfähigkeit an wechselnde Bedingungen und ist sehr robust gegenüber einem Versagen einzelner Individuen. Eine Flexibilität, die nur allzu gut zu den sich ständig ändernden Kommunikationsnetzen paßt. Daten, die darin zwischen verschiedenen Rechnern ausgetauscht werden, stellen gleichsam Ameisen dar. Sie durchqueren das Netz, indem sie von einem Netzknoten zum anderen laufen - und wollen dabei so schnell wie möglich sein. Doch wie es im Leben ist: manche Wege sind schlecht passierbar. Eine dadurch aufgehaltene Ameise wird am nächsten Netzknoten nur wenig Pheromone hinterlassen. Im Gegenzug sind diejenigen Ameisen, die auf einem Abschnitt gut vorangekommen sind, großzügiger beim Deponieren von Duftstoffen. Aufgrund dieser Information wird die Kolonie verstärkt die schnelleren Strecken nutzen. Das Netzwerk reguliert sich so "selbsttätig" - ohne Eingriffe von außen.


Dies sind nur zwei Anwendungsmöglichkeiten von vielen. Beispielsweise können Banken ihre Kunden heute auf die gleiche Art wie Ameisen ihre Leichen sortieren. Ein wenig verlockendes, aber funktionelles Prinzip. Schon bald werden alle möglichen Arten kleiner Siliziumchips Teil unseres täglichen Lebens sein. "Diese Unmenge von taubstummen Biestern werden die Informatiker dazu bringen müssen, miteinander zu kommunizieren", betonen Guy Theraulaz und seine Kollegen in der Zeitschrift Nature. Daher haben die Forscher "keinerlei Zweifel, daß laufend weitere Anwendungen für die künstliche Intelligenz entstehen werden."

Übersetzung: Emma Simon & Carsten Meinke


Beitrag des französischen Magazins InfoScience für
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