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Datum:   22.10.2002
Ressort:   Blickpunkt
Autor:   Lutz Krusche
Seite:   03

Der gute Mensch von Frankreich

Abbé Pierre ist neunzig Jahre alt und Kapuziner-Abt. Sein Name ist in Frankreich so bekannt wie der von Asterix - doch der Mönch ist noch beliebter

PARIS, im Oktober. Auf der Speisekarte des Restaurants "Le Chateau Rouge" stehen an diesem milden Herbsttag Artischocken in Weinsauce und Truthahn-Medaillons mit gefüllten Tomaten. "Le Chateau Rouge", das rote Schloss, befindet sich in einem burgähnlichen Backsteingebäude mit einem hohen Turm darauf, in dem Dorf St.-Martin-de-Seignanx in Südwestfrankreich. Bestecke klappern im Saal, Gespräche mischen sich mit Gelächter - ein Restaurant wie tausend andere, so scheint es jedenfalls. Nur die Bewegungen des bedienenden Personals sind auffallend langsam, schwerfällig geradezu. Ein Koch steht in der Küchentür und lächelt zufrieden über den sichtlich guten Appetit seiner sechzig Gäste. Er ist mongoloid. Alle Menschen, die in dem Restaurant arbeiten, sind geistig behindert oder psychisch krank.

Auch die Angestellten der angegliederten Metallwerkstätten und der Schreinerei sind es. Dreiundsechzig Menschen wohnen in dem zwischen Maisfeldern und knorrigen Eichen gelegenen Heim. "Bei uns leben und arbeiten Frauen und Männer, die sonst niemand haben will", sagt Dominique Verot, Leiter des "Zentrums für Hilfe durch Arbeit". Es gehört zu dem Wohltätigkeitsverein Emmaus, und wer in Frankreich Emmaus sagt, der assoziiert damit einen Namen: Abbé Pierre.

Abbé Pierre ist Kapuzinerabt, neunzig Jahre alt und Gründer und Chef einer in Frankreich und sechsunddreißig weiteren Ländern operierenden Stiftung, die 1 400 Angestellte und 10 000 ehrenamtliche Helfer hat. Ihre Aufgabe besteht darin, gescheiterte Menschen durch einfache Arbeit - der Verarbeitung von Lumpen zu Bekleidung, von Schrott zu schmiedeeisernen Toren, von wurmstichigen Brettern zu alten Truhen - wieder ins Leben zu integrieren. Streitbar, polternd, provozierend und vor allem allgegenwärtig, ist der Pater in mehr als sechzig Jahren Sozialarbeit zu einem Stück Frankreich geworden. Drei Generationen Franzosen ist er ein Begriff wie Charles de Gaulle, Baguette oder Asterix. Vor kurzem ließ das Sonntagsblatt "Le Journal du Dimanche" traditionell seine Leserschaft die Franzosen wählen, die "sie für ein nationales Vorbild" halten. Diese Hit-Parade der fünfzig wichtigsten Franzosen wird alljährlich erwartet wie der Endstand der ersten Fußball-Liga. Sieger wurde wieder einmal Abbé Pierre, vor Zinedine Zidane, dem Fußballhelden der Nation.

Man muss sich das optisch vorstellen: Seit vierzehn Jahren führt immer wieder ein dürres Männchen mit schlotternder Soutane, weißem Spitzbart, verrutschter Baskenmütze und weit abstehenden Ohren - "ich habe Ohren wie Kohlblätter", sagt er von sich selbst - die Liste der als am wichtigsten eingeschätzten Franzosen an. Nur der verstorbene Meeresforscher Jacques Cousteau und einige Sporthelden lösen ihn gelegentlich ab. Populäre Sänger und Schauspieler wie Johnny Halliday, Jacques Goldman, Catherine Deneuve und Jean-Paul Belmondo lässt Abbé Pierre weit hinter sich. Staatspräsident Jacques Chirac lag diesmal achtunddreißig Plätze hinter ihm.

Die Franzosen lieben Legenden, und Abbé Pierre ist eine. Denn bevor er endgültig zu dem guten Menschen von Frankreich avancierte, verlief sein Leben so, wie Romanschreiber oder Filmproduzenten es sich sonst ausdenken: Er war Seelsorger, Held der Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzung, gewählter Abgeordneter in der Nationalversammlung, Sozialrevolutionär, Provokateur gegen die Kirchenoberen. Die Grünen wollten ihn 1994 zu ihrem Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten nominieren. Er ist ein enger Freund des Dalai-Lama und von Papst Johannes Paul II.

Abbé Pierre sitzt in einem kleinen Zimmer im Hauptquartier der "Association Emmaus" in Alfortville bei Paris, die Bücherregale, das Bett sind von mönchischer Strenge. Seine Berater riegeln den alten Mann ab. Er leidet an Alzheimer, in einem frühen Stadium. Die Krankheit schwächt ihn, trotzdem plant er weiter große Reisen. Burkina Faso, Polen, Südamerika - er steht seinem Freund, dem ebenfalls gebrechlichen Papst, im Reiseeifer nicht nach. Was er denn noch erzählen solle, sagt Abbé Pierre jetzt, er habe doch schon alles unzählige Male gesagt. "Im Fernsehen trete ich unwiderruflich nicht mehr auf", sagt er und kichert. "Außer wenn der Papst oder der Premierminister mich dazu auffordern." Und warum nicht? "Weil das Fernsehen, und das ist unerträglich, kurze Antworten auf schwierige Fragen verlangt. Und die Herrschaften Journalisten warten ja nur darauf, dass mir ein Schnitzer unterläuft, mit dem sie Reklame für sich machen können."

Verfilmt ist das Leben von Abbé Pierre auch schon, unter dem Titel "Winter 1954" stellt Lambert Wilson den Abbé dar. Geboren wurde Abbé Pierre am 5. August 1912 als Henri Grouès. Er entstammt einer wohlhabenden bürgerlichen Familie in Lyon; das Appartement ist so groß, dass er in den Fluren Radfahren lernt. Eine deutsche Studentin hilft im Haushalt, und die Zuneigung zu diesem "Fräulein" bewegt ihn bis heute. "Der Verzicht auf die Zärtlichkeit einer Frau ist für mich ein tägliches, konstantes Leiden geblieben", gesteht der im Zölibat lebende Abbé Pierre. 1931, neunzehn Jahre war er da alt, überträgt er das beträchtliche Erbe, das sein Vater ihm vorzeitig überließ, wohltätigen Einrichtungen und tritt in den Kapuzinerorden ein. 1938 wird er zum Priester geweiht. Im Zweiten Weltkrieg bringt er es zum Unteroffizier, aber wegen einer schweren Rippenfellentzündung kommt er in ein Krankenhaus in Grenoble. Dort wird er Hospitalgeistlicher.

Nach den ersten Juden-Deportationen unter deutscher Besatzung beginnt er, in einer Werkstatt heimlich Papiere zu fälschen, die den Verfolgten die Flucht ins Ausland ermöglichen. 1942 bis 1944 taucht er in die Résistance ab und nimmt den Namen an, der zu seinem Markenzeichen wird: Abbé Pierre. Mithilfe von Bergführern aus den Savoyen geleitet er hunderte Juden über Alpenpfade in die Schweiz; einmal überlässt er einem geschwächten Mann seine Schuhe und kehrt auf Strümpfen durch den Schnee zurück. Die Deutschen schnappen den Abbé, aber er kann fliehen und schließt sich in Algier General de Gaulle an.

Nach der Befreiung Frankreichs wird der Abbé in die Nationalversammlung gewählt. Dort freundet er sich mit einem jungen Kollegen an, mit dem er sich aber auch oft streitet: François Mitterrand, der spätere sozialistische Staatspräsident. Die französische Nation ist nach dem Krieg demoralisiert, verarmt, hungert - deshalb gründet Abbé Pierre gemeinsam mit einem ehemaligen, aus dem Gefängnis entlassenen Verbrecher eine Hilfsorganisation, die er Emmaus nennt und die mit Sammlung von Lumpen und sonstigem Altmaterial den Elendsten der Gesellschaft zu einer Tätigkeit und zu Unterkünften verhilft. Es kommt der eiskalte Winter 1954, die Franzosen hungern und frieren. Dieser Winter wird zu einem Symbol der französischen Wohlfahrt und macht den Pater schlagartig zu einer nationalen Figur. Er hatte auf der Straße eine erfrorene alte Frau und ein erfrorenes Baby gesehen, war daraufhin in dem schwankenden Citroën 2 CV eines befreundeten Journalisten zum Pariser Sender von Radio Luxemburggefahren und wurde von einem ebenfalls befreundeten Journalisten eingelassen.

Dann schreit er seinen berühmt gewordenen, in Schulbüchern verewigten Appell zum "Aufstand der Güte" ins Mikrofon: "Meine Freunde, zur Hilfe! Heute Nacht um drei Uhr ist eine Frau erfroren auf dem Trottoir des Boulevard Sebastopol. Jede Nacht sind es mehr als zweitausend Menschen, die sich zusammenkrümmen unter der Kälte, ohne Dach, ohne Brot und fast nackt." Der Aufstand der Hilfsbereitschaft setzt tatsächlich ein. Und Abbés Pierres Organisation Emmaus wird eine Bewegung wie das Rote Kreuz oder Caritas, weitet sich aus über die Landesgrenzen nach Dänemark, Polen, Kamerun bis nach Benin. Der Mann, der fast immer eine Baskenmütze trägt, wird eine Art französische Mutter Teresa. Ein Medienstar, der seine Popularität mal mit Hungerstreiks, mal mit dem Sturm auf leer stehende Wohnungen meisterlich dazu nutzt, zögernde Sozialminister unter Druck zu setzen.

Die Franzosen schließen den kleinen Aktivisten ins Herz. Er verkörpert so ziemlich alles, was sie, offen oder heimlich, schätzen: den Priester, der ihnen in Kindertagen vor der Kommunion den Katechismus eingebläut hat. Den Fernandel-Don Camillo. Den Asterix. Das Satireblatt "Le canard enchainé" spottete einmal, dass die Franzosen den Abbé für so vorbildlich hielten, weil er für sie das besorgte, was sie selbst nicht täten, nämlich Wohltätigkeit üben. Der gute Mensch von Frankreich eben.

Abbé Pierre brachte sich selbst immer wieder in die Schlagzeilen, weil er keinem Krach aus dem Wege ging. In einer Fernsehdebatte empfahl er dem Führer des rechtsradikalen Front National, Jean-Marie Le Pen, diesem "sinistren Vertreter der Neureichen und Kriegsgewinnler", für die er nur Verachtung empfinde, "die Fresse zu halten". Seine Kirchenoberen, an der Spitze der ihm menschlich zugetane Pariser Kardinal Jean-Marie Lustiger, brachte er mit höchst eigenwilligen Interpretationen der angewandten Frömmigkeit gegen sich auf. Der Bau von Wohnungen sei wichtiger als der von Kirchen, hatte Abbé Pierre etwa verkündet. Oder: Es sei ein Verbrechen, den Gebrauch von Präservativen zu ächten. Und: Es mache wenig Sinn, sonntags "zur Messe zu gehen, nur um ein paar alte Weiber zu sehen". Wenig erfreut zeigte sich die Kirchenobrigkeit auch, als der Abbé nach den Terroranschlägen vom 11.September mit einem gewissen Respekt die "unerwartete Expansion des Islam und den islamischen Extremismus, der im Christentum nicht seinesgleichen findet", bewertete.

Ein anderer Extremismus hätte beinahe den Untergang des Paters herbeigeführt. 1996 hatte er den berüchtigten Revisionisten Roger Garaudy, der in einem Buch mit dem Titel "Die Gründungsmythen der israelischen Politik" den Holocaust angezweifelt hatte, verteidigt. Ein Sturm brach los, Kardinal Lustiger erteilte Abbé Pierre eine öffentliche Rüge, die Liga gegen Rassismus schloss das Ehrenmitglied Abbé Pierre aus. Die Presse, deren Vertreter er damals als "Journalisten, die von einer internationalen zionistischen Lobby inspiriert sind" beschimpfte, verdammte ihn als senil, faschistisch, rechtsextremistisch. Der Abbé schien erledigt.

Tatsächlich hatte er das Buch Garaudys überhaupt nicht gelesen. Er wollte nur, wie er später erklärte, das Recht auf Meinungsfreiheit eines jeden, auch eines Garaudy, verteidigen. Mit diesem einst tapferen Kommunisten hatte er in der Nationalversammlung gesessen. Der Abbé sah sein Unrecht ein und entschuldigte sich in christlicher Demut öffentlich "bei meinen jüdischen Brüdern, die ich, ohne es zu wollen, verletzt habe". Maliziös, wie er es nun einmal ist, vergab er im gleichen Atemzug auch scheinheilig denen, "die mich beleidigt haben". Frankreich vergab ihm.

Vor kurzem feierte Abbé Pierre noch einmal seinen neunzigsten Geburtstag - diesmal mit fast tausend Emmaus-Helfern in Neuilly-Plaisance, wo er die erste Gemeinde gegründet hatte. Und wieder ließ er einen Appell los: "Krieg der Armut, nicht den Armen". Das Fernsehen übertrug die Feier landesweit.

Schon mit sieben, acht Jahren, sagt Abbé Pierre, habe er darum gebetet früh zu sterben, "in die großen Ferien zu ziehen", wie er es ausdrückt. Er wurde nicht erhört. Aber einmal ist er schon tot gemeldet worden, nach einem Schiffsuntergang vor Argentinien. Als Junge wollte er Seemann, Missionar oder Räuber werden. Auf eine gewisse Weise ist er seinen Berufsträumen ziemlich nahe gekommen.

"Es macht wenig Sinn, sonntags zur Messe zu gehen, nur um ein paar alte Weiber zu sehen. ".

"Der Verzicht auf die Zärtlichkeit einer Frau ist für mich ein tägliches Leiden geblieben. ".

Foto: REUTERS/JACK DABAGHIAN Abbé Pierre und der französische Staatspräsident Jacques Chirac

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17. Januar 2005
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