Martina Homma

Witold Lutoslawski - Zwölfton-Harmonik, Formbildung, "aleatorischer Kontrapunkt"

/Ausschnitte aus dem Buch/

LESEPROBE AUS DEM KAPITEL ZUR TONORDNUNG (ab S. 379, hier: ohne Fußnoten)

Problemstellung

"Ich behaupte, daß heute das Durchanalysieren irgendeines nicht in traditionellen Systemen angesiedelten Werkes unter dem Gesichtspunkt der Tonhöhenorganisation unmöglich in vernünftigen zeitlichen Grenzen durchzuführen ist; dem müßte man eine Reihe von Jahren, und nicht einige Monate widmen." (1)

Von "Organisation der Tonhöhe" (nicht von "Harmonik") spricht Lutoslawski nicht nur hier und vermeidet durchgängig die Bezeichnung Harmonik - in Hinsicht auf das mögliche Ineinandergreifen von Akkordik, Melodik und Kontrapunkt in seiner Musik. Damit grenzt er sich von einem Harmonik-Verständnis ab, das auch György Ligeti für Anton Webern zurückwies, "um eine terminologische Verwirrung zu vermeiden". In Ligetis Ausführungen zur Kompositionstechnik Weberns heißt es, daß "das Wort 'Harmonik' (...) nicht nur Zusammenhänge simultan erklingender Töne bezeichnet, sondern ganz allgemein die Beziehungen zwischen simultanen wie auch sukzessiven Tonhöhen." (2) Die Unmöglichkeit einer sinnvollen Trennung von Melodik / Harmonik / Kontrapunkt, wie sie auch Edgard Varèse für seine Musik sah, besteht gleichermaßen auch für die Tonordnung Lutoslawskis. Varèse hatte beispielsweise formuliert, bei ihm sei die Linie oft vertikal und nicht horizontal. (3) Die Bewegung von Klangmassen solle die Funktion übernehmen, die man gemeinhin dem Kontrapunkt zuschreibt." (4) Auch der Klangfarbe spricht Varèse eine essentielle Rolle jenseits bloß akzidentieller Funktion zu - sie sei "agent of delineation, like the different colors on a map separating different areas, and an integral part of form." (5) Während in einem solchen Verständnis also Horizontale, Vertikale und Timbre neue Beziehungen eingehen und zu formgebender Funktion verschmelzen sollen, sind damit auch wesentliche Voraussetzungen der Tonordnung Lutoslawskis angesprochen, ohne daß dies Gemeinsamkeiten der Kompositionstechnik implizieren muß. Nicht musikästhetisch und nicht musikhistorisch im Sinne von Einflußnahme und Komponistengruppierungen, sondern musiktheoretisch über einen Teilaspekt der Tonordnung gesprochen, nimmt jedoch von Webern über Varèse bis Lutoslawski die Bedeutung des Oktavregisters der Töne im Rahmen der Tonordnung zu. Die Tonqualität im Rahmen des temperierten Systems (C=c=c'; "pitch-class") und die Oktavposition im Rahmen des im Orchester verfügbaren Klangraums (c' nicht gleich c'') lassen schließlich in Lutoslawskis Musik die Zuordnung als Primär- und Sekundärqualität hinter sich. Daß die Verschmelzung beider Qualitäten die Primärkategorie der Tonordnung Lutoslawskis während gut dreier Jahrzehnte bildet, gehört zu den Prämissen des folgenden Kapitels, die sich an einer Analyse des Gesamtwerks zu bewähren haben. (Der Komponist selbst hat sich zu dieser Frage nirgends geäußert).
Was sich im Deutschen recht umständlich, aber zutreffend mit "Tonqualitäts- Oktavpositionierung" benennen ließe (die Fixierung der Tonqualität "c" auf die Oktavposition "eingestrichen") wird im folgenden als Ton-Positionierung bezeichnet und in seiner Bedeutung für Lutoslawskis Tonordnung präzisiert, die im Grunde eine "Ton-Positions-Ordnung" ist.

Lutoslawskis einleitend zitierter Diskussionsbeitrag bei einem 1977 seiner Musik gewidmeten Symposion beleuchtet seinen Anspruch auf eine nicht auf übernommenen Konventionen basierende Harmonik. An anderer Stelle versichert er sogar, eine vollständige Untersuchung seiner harmonischen Sprache sei gänzlich unmöglich. (6)
Tatsache ist, daß eine individuelle, nicht-konventionelle Harmonik das Ergebnis langjähriger Entwicklung ist und vom Analysierenden eine eingehende, dabei sehr detailbezogene werkanalytische Auseinandersetzung mit dem größten Teil eines kompositorischen Oeuvres verlangt. Daß eine solche Auseinandersetzung von einem Einzelnen nicht für einen wünschenswert großen Kreis von lebenden Komponisten zu leisten ist, führt den Versuch einer vergleichenden Einordnung einer "harmonischen Sprache" auf allzu unsicheres Terrain.
Nach der stürmischen Entwicklung der Harmonik im 19. Jahrhundert und nach der neugewonnenen Perspektive von "Freiheit" in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts wurde nach und während der anschließenden umfassenden Rezeption von Schönbergs Reihengedanken das Interesse der Musiker an individuellen Lösungen auf dem Gebiet der Harmonik von anderen Fragen überlagert und trat in den Hintergrund. Kaum ein in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts wirkender Komponist war (wie in dessen erster Hälfte etwa Béla Bartók) so stark wie Olivier Messiaen und Witold Lutoslawski bestrebt, im Rahmen des temperierten Systems für die eigenen Werke eine in sich konsistente Tonordnung (Linien- wie Akkordbildung) zu entwickeln, die Horizontale wie Vertikale gleichermaßen auf eine auch dem traditionell geschulten Gehör zugängliche Weise prägt und die Form einer Komposition stützt.
Traditionelle Methoden zur harmonischen Analyse, die noch mit dem Anspruch auf werk- und personenübergreifende Anwendbarkeit hervortraten und schon mit der vehementen Entwicklung im 19. Jahrhundert kaum Schritt halten konnten, konstatieren bezeichnenderweise bei lebenden Komponisten häufig bloß die Abwesenheit bekannter Ordnungen. Die Konjunktur des Begriffs der "A-Tonalität" entgegen des Protestes mit ihm belegter Komponisten bringt das Problem verbal auf den Punkt. (6) Aber auch die Suche nach Elementen der "Tonalität" in Werken der 2. Wiener Schule und selbst beim Stockhausen der fünziger Jahre ist, soweit sie sich weiterhin an Dreiklangs bildungen, Quintverwandtschaften und Grundtönen orientiert, (8) ein weiterer Beleg für das Fehlen eigenständiger Orientierungsmarken und Kriterien, die erst anhand eines Vergleichs der Akkord- bzw. Klangfeldbildung verschiedener Komponisten zu erarbeiten wären. Ansätze wie derjenige Edisson Denissows, die Tonordnung Weberns in ihrer Tiefenschicht auf übergeordnete, zur Formbildung parallele Regeln zur Wahl von Reihenformen und Transpositionen hin zu befragen und gerade darin "tonale" Prinzipien (Prinzipien der Tonordnung) zu suchen, (9) gehen in einer Vielzahl von Reihenanalysen unter, denen es eher um den Nachweis der Ableitung von Klängen aus den vorliegenden Reihenformen zu tun ist, als um die Frage nach leitenden Grundsätzen der Reihenverknüpfung und Transpositionswahl. Insofern steht einer quantitativ bedeutenden Zahl von Reihenanalysen ein vergleichsweise geringer Erkenntnisgewinn seitens der Bildung, Auswahl, Gruppierung und Funktion von akkordischen Strukturen gegenüber. (10)
Außerhalb der reihenorientierten und der von Allen Forte systematisierten und in den USA umfassend rezipierten set-Analysen sind überdies "komponistenübergreifende" theoretische Konzepte zur Erfassung der Tonordnung kaum abzusehen. Das Verhältnis von Horizontale und Vertikale in nicht-reihengeprägter und nicht vom Komponisten selbst in ihren Grundlagen erläuterter Tonordnung ist ein nur zögernd untersuchtes Phänomen. Zumal hinsichtlich der Unter suchung vertikal-akkordischer Ordnungen in der Musik der jüngsten Jahrzehnte besteht ein bedeutendes Theoriedefizit, dem erst nach und nach Arbeiten zu einzelnen Komponisten abzuhelfen versprechen. (12)
Versuche einer sich von der theoretisch recht gut abgesicherten Funktionsharmonik entfernenden Klassifizierung von Vielklängen, ob von Alois Hába aufgrund von Skalenordnungen, von Eugen Sucho auf der Basis eines aus der Obentonreihe abgeleiteten "synthetischen Zwölfklangs", von Paul Hindemiths an akustischen Tonverwandtschaften und am Dissonanzgefälle orientierten Akkordtabellen, von Heinrich Simbriger aufgrund komplementärer Ton- und Intervall gruppen, von Marcin Zalewskis "Theoretischer Harmonik" aufgrund einer Systematisierung der Struktur von Tonbeständen, von Franz Wolpert vorgeblich unter Anwendung "dialektischer Logik" oder jüngst von Tadeusz Zieli ski bis zum Sechsklang aufgrund der Vorherrschaft gewisser Intervalle vorgenommen, (11) stoßen als Klassifizierungsinstrument bei Vielklängen an eine nicht überwundene Grenze: ab einer gewissen Zahl beteiligter Tonqualitäten gerät die vertraute Vorstellung von Umkehrungen, Transpositionen und Tonverdopplungen ins Schwanken. Bei nicht dreiklangsgeprägten und nicht auf polytonale Schichtungen zurückgehenden Klängen gewinnen andere Faktoren als der Tonbestand für eine musiknahe Zuordnung von Vielklängen zunehmend Gewicht.
Schon ein Siebenklang (Bsp. 1, I) illustriert die Problematik, daß der Akkord beim Hören u.U. einem Akkord II näher steht als einem seiner eigenen Formen (Bsp. I a / b). Letzterer Klang (I b) wiederum kann einer Form von Akkord II (Bsp. II a) näher stehen als zwei Gestalten aus Akkord II zueinander (II b / c).

Bsp. 1

Mit wachsender Zahl von Tonqualitäten im Akkord verschärft sich die Frage nach der Identität und Ableitung von Akkorden. Diese ungelöste Problematik wird von der Musikwissenschaft und Musiktheorie durchweg übersehen oder umgangen. Formuliert wurde sie von Zieli ski so: "Die klangliche Verwandtschaft von Umkehrungen wird jedoch nicht unter allen Umständen gleich stark empfunden. Sie hängt nämlich in bedeutendem Umfang von der Zahl der zusammenklingenden Töne ab (..) Krönung dieses Prozesses ist der vollständige Zwölfklang: theoretisch (...) haben wir es nur noch mit einem einzigen Akkord zu tun, in der Praxis jedoch - mit einer breiten Palette ver schiedener Kombinationen aller in ihm enthaltenen Intervalle, die abweichende Klangeffekte hervorrufen, wie sie einer gesonderten Systematisierung bedürfen." (13) Während bis zum Sechsklang die Zahl der möglichen Akkorde mit der Zahl der an ihnen beteiligten Tönen wuchs, kehrt sich der Prozeß vom Sieben- bis zum Zwölfklang um, wobei die Umkehrungen zunehmend an Eigencharakteristik gewinnen. (14) Diese Charakteristik wird primär geprägt von Aspekten der Registerwahl (Oktav-Positionierung), Intervallik (Positionierung zwischen benachbarten Tönen) und Gruppenbildung (Positionierung von Tongruppen zueinander, "lokale Harmonien").

Angesichts des Defizits an Analysemethoden zur zeitgenössischen Harmonik sowie ganz allgemein an musikttheoretischer Vorarbeit, wie sie jede Arbeit zur Musik der Vergangenheit voraussetzen darf, orientieren sich analytische Arbeiten zu lebenden Komponisten gern an deren kompositionstechnischen Verfahren. (15)
Diesen Weg wählt auch die vorliegende Arbeit, und das umso lieber, als Lutoslawskis Verfahren zur Tonordnung

a) im Licht der "rekursiv-analytischen Rasterbildung" zu (personal)-stilistisch relevanten Aussagen führen
b) untereinander Zusammenhänge erkennen lassen, die für eine mögliche Diskussion über den Systemcharakter einer zeitgenössischen Tonordnung neue Gesichtspunkte aufzeigen (vgl. "Thesen")
c) einen eigenständigen Zugang zur Zwölftönigkeit fanden
d) in den Zentralbereich seines kompositorischen Denkens führen
e) den klanglichen Wirkungen nirgendwo äußerlich oder für eine Analyse etwa der großformalen Anlage irrelevant sind (wie es Reihenstruktur und -anwendung für die Form dodekaphoner Werke sein kann). (16)

Wenn daher der Hauptteil des folgenden Kapitels, der die Ergebnisse harmonischer Analysen aller Werke Lutoslawskis seit Ende der fünfziger Jahre zusammenfaßt, die harmonischen Phänomene gerade unter dem Gesichtspunkt ihrer Organisationsform bespricht (als "Zwölftonakkorde", "Zwölftonreihen" und "Zugeteilte Töne"), so werden dadurch die "ohrenfälligen" Klangwirkungen (wie Entfaltung im Tonraum, "intervallische Aura", Schichtbildung im Orchestersatz, Oszillieren zwischen horizontal und vertikal eingesetzten Intervallen u.ä.) nicht übergangen, sondern vielmehr differenzierter beleuchtet und können in größere Zusammenhänge gestellt werden.

Voraussetzungen der Tonordnung Lutoslawskis

Daß die "Organisation der Tonhöhe" für Lutoslawski stets im Vordergrund seines kompositorischen Interesses stand, wußte schon einer seiner ersten Rezensenten - Lutoslawskis Studienkollege, der in späteren Jahren vor allem als brillanter Polemiker und Feuilletonist bekannte Stefan Kisielewski. In der ersten Nummer der nach dem Krieg neu gegründeten Musikzeitschrift Ruch muzyczny , in einem Bericht über das "Festival Polnischer Musik", hatte Kisielewski 1945 über Lutoslawskis Harmonik geschrieben: "Diese eigenständige harmonische Welt zwingt uns, in Lutoslawski einen Komponisten zu sehen, der Werke von allerhöchster Bedeutung für die Entwick lung der zeitgenössischen Musik schaffen kann." (17) Diese Bemerkung ist umso bedeutsamer, als Lutoslawskis die "harmonische Sprache", zu der Lutoslawski Ende der fünfziger Jahre fand, im ersten Nachkriegsjahrzehnt noch vor allem als Bedürfnis und Suche erscheint. Das von Kisielewski besprochene Werk, ein atonales Bläsertrio, ist unter Lutoslawskis aufgeführten Kompositionen die einzige "experimentelle" und wurde auch nie gedruckt. Vorausgegangen war ihr in den Kriegs jahren ein (ebenfalls unveröffentlichter) Zyklus atonaler Stücke für 2-3 Holzbläser. In der nach dem Krieg begonnenen Streicherouvertüre finden dann Versuche mit "synthetischen Skalen" ihren Höhepunkt. (18)

In den folgenden, vom Sozialistischen Realismus beherrschten Jahren beschränkte sich Lutoslawski auf verschiedene kleinere Gebrauchsmusiken - vor allem für Kinder, für Theater und Rundfunk.
In diesen Miniaturen fällt oft eine spezifische Zweischichtigkeit von Horizontaler und Vertikaler auf. Der Versuch, Diatonik der Melodie mit Nicht-Funktionalität der Begleitung zu vereinen, weist voraus auf "zweischichtige" Klangphänomene seiner späteren Werke: auf ein spezi fisches Oszillieren zwischen horizontaler und vertikaler Intervallik.

Parallel zur "Brotarbeit" dieser Auftragswerke arbeitete Lutoslawski jedoch weiterhin daran, eine "eigene harmonische Sprache" herauszubilden, die gleichermaßen seinem Ausdrucks- wie seinem Ordnungsbedürfnis entsprach. Diesem Bedürfnis entsprachen die "naheliegenden" "Tonhöhenorganisationen" nicht:

- nicht die Tonalität "mit falschen Tönen" - nicht die freie Atonalität, in der "alles erlaubt" ist - nicht die Zwölftonordnung Schönbergs und seiner Nachfolger (ausgenommen Webern), an deren Harmonik Lutoslawski eine bis zur Nivellierung reichende Angleichung intervallisch- harmonischer Kontraste kritisierte.

Bei der Arbeit an seiner "eigenen harmonischen Sprache" nahm Lutoslawski als ganz sicher gegeben hin, daß kein musikalisches Element in der Komposition gleichgültig sein kann. (19) Seine Tonordnung, die seit Ende der fünfziger Jahre von der Gleichwertigkeit der 12 chromatischen Töne ausgeht, stützt sich dabei auf den expressiven Wert der einzelnen Intervalle, ohne harmonische Zentren zu bilden. Eine bestimmte "Intervallqualität" (beispielsweise Tritoni in Verbindung mit Halbtönen, Quarten in Verbindung mit Ganztönen, Terzen in Verbindung mit Quinten) herrscht für einen gewissen Formabschnitt vor, gibt der Tonordnung ein bestimmtes Kolorit und ermöglicht auch in zwölftönigen Zusammenhängen klare harmonische Kontraste und Übergänge. Oftmals werden ganze Sätze von zwei bis drei ausgewählten Intervallen geprägt. Je nach der formalen Funktion im Gesamtzusammenhang (Einleitung, Entwicklung mit Klimax, Epilog) sind inter vallisch homogene, duale oder multiple Sätze zu unterscheiden (vgl. die Tabellen am Schluß des Kapitels).

Ein expressiv "klares" Klangbild, das horizontal wie vertikal zwei bis drei ausgewählte Intervalle deutlich exponiert und in der entschiedenen Dominanz bestimmter Intervalle ein homogenes Klangfeld, eine "intervallische Aura" schafft, wie sie auch die Musik Bartóks kennt, stützt sich zwischen Ende der fünfziger bis in die achtziger Jahre vor allem auf drei Prinzipien:

- Zwölftonakkorde und -klangfelder mit und ohne Vierteltöne
- individuell verwendete Zwölftonreihen, deren auf 2-3 Intervalle beschränkter Bau die Horizontale und Vertikale gleichermaßen prägt
- eine komplementäre Ergänzung zu zwölftönigen Einheiten - sei es in "positionierten" Klangschichten oder nicht-positionierten "zugeteilten Tönen"

Nahezu alle Phänomene der Tonordnung Lutoslawskis zwischen Ende der fünfziger bis in die achtziger Jahre gehen auf eines dieser Verfahren zurück - danach nehmen nicht-zwölftönige Ordnungen zu, ohne die genannten Verfahren ganz zu verdrängen.

Ein in der Musiktheorie kaum berücksichtigter Aspekt, der als "Ton-Positionierung" angesprochen werden wird, ist der Tonordnung Lutoslawskis zentral und verspricht eine nicht nur auf dessen Werke anwendbare Differenzierung des analytischen Instrumentariums.

Literaturüberblick und Vorausschau auf das Kapitel

Eine zusammenfassende Darstellung von Lutoslawskis harmonischer Sprache wurde bisher nur in Ansätzen unternommen. Den Versuch, bei einer Untersuchung der Harmonik über die Analyse einzelner Werke hinauszugehen, unternahmen bisher Steven Stucky im Bereich der Zwölf tonakkorde, (20) Peter Petersen mit Blick auf das Spannungsverhältnis von Diatonik und Chroma tik, (21) Charles Rae für das Spätwerk (seit 1979) sowie Martina Homma. (22) Lutoslawski selbst gab Beispiele zur Gestaltung einiger Werkfragmente, die einen Einblick gestatten in dort zugrunde gelegte Organisationsverfahren. Er zeigt dabei die in zwei Werken (Mi-parti, Fuge) verwendeten Zwölftonakkorde und -reihen auf. (23) Näheres aus seiner Sicht erfährt man im Referat "Über Rhythmik und Tonhöhenorganisation in der Kompositionstechnik unter Anwendung begrenzter Zufallswirkung". (24) Anhand einiger Beispiele aus zwischen 1961 und 1967 komponierten Werken erläutert er sein Verständnis von "lokalen Harmonien" und von einer "modalen" Ordnung der zwölftönigen Zusammenklänge. Auch das Verfahren, einzelne Töne des Zwölfklangs nur einer Stimme zuzuteilen, um so größere harmonische Beweglichkeit zu erzielen, wird in dem genannten Referat 1976 erstmals erwähnt.
Mit Ausnahme der Zwölftonakkorde (25) wurde den drei vom Komponisten selbst genannten Organisationsprinzipien (im Kapitel als "Zwölftonakkorde", "Reihen" und "Zugeteilte" besprochen) in den recht zahlreich publizierten Werkanalysen fast keine Aufmerksamkeit gewidmet. "Zugeteilte" Töne werden (außer von Lutoslawski selbst, von Stucky und Homma) gar nicht er wähnt. Lutoslawskis mehrfach aus gutem Grund betonte Distanz zur "Dodekaphonie" (wie er selbst sie versteht) wurde offensichtlich allzu wörtlich genommen und ließ Vieles einfach "übersehen", abschwächen oder gar verneinen. (26)
Was sich zum Thema "Zwölftonreihen" aus den bisher ver öffentlichten Texten erfahren läßt, betrifft fast durchweg nur die von Lutoslawski selbst aufgezeigten Reihen von Trauermusik, 2. Sinfonie, Fuge, Mi-parti. Für andere Werke gab lediglich Stucky (im Fall von Cellokonzert und 3. Sinfonie auch Homma und unlängst Michaely sowie Tarnawska-Kaczorowska zu Les espaces) in seinen Analysen auch Reihen an. (27) Einen zusammenfassenden Überblick über solche Reihen versuchte erstmals 1985 Homma, vgl. 1991 Michaely. (28)

Die Anordnung der den drei Haupt-Organisationsverfahren zur Tonordnung gewidmeten Teilkapitel folgt chronologischen Linien und dem Gewicht, das den Verfahren in Lutoslawskis Schaffen zukommt.

Auf Zwölftonakkorden fußt seit 1958 die Tonordnung aller Werke bis Ende der siebziger Jahre (in verringertem Umfang gilt das auch für spätere Werke). Seit 1979 geht der Anteil der Zwölf tonakkorde zurück zugunsten einer (teilweise auf latente Zwölfklänge zurückführbaren) Harmonik auf der Basis von Achtklängen oder akkordischen Bildungen aus 16, 18, 20 oder mehr Tönen. In den jüngsten "dünnen Fakturen" tritt zu den akkordischen Organisationsprinzipien eine freizügigere wechselseitige Komplementarität von Klangschichten und eine noch stärkere Konzentration auf einzelne Intervalle.
Der Schwerpunkt der Nutzung von Zwölftonreihen liegt bei Lutoslawski in den siebziger Jahren, während die Bedeutung von "zugeteilten Tönen" und Intervallen in den jüngsten Werken wuchs.
Tendenzen der Entwicklung seiner harmonischen Sprache werden im Verhältnis zur Einsatzweise der Zwölftonreihen, zu Faktur und Intervallstruktur der Zwölftonakkorde sowie im Verhältnis zu nicht strikt zwölftönigen Ordnungen aufgezeigt. "Nicht-zwölftönige" Aspekte (Vierteltöne, Glissandi, nicht-zwölftönige Akkorde) sind bis Ende der achtziger Jahre überwiegend auf eine (von den drei genannten Prinzipien organisierte) Zwölftönigkeit bezogen. Auch die wenigen von "Zwölftonakkorden", "Reihen" und "Zugeteilten" unabhängigen nicht-zwölftönigen Strukturen, deren Anteil seit den achtziger Jahren wächst, basieren auf der expressiven Rolle einzelner Intervalle und gehen sehr bewußt mit Komplementärverhältnissen der Töne um.
Abschließend wird die Frage der "Zwölftönigkeit" bei Lutoslawski angesprochen sowie die wechselseitige Durchdringung und formbildende Gegenüberstellung der Organisationsprinzipien zur Tonordnung an exemplarisch analysierten Sätzen aufgezeigt. Das Verhältnis von "Melodik" und "Harmonik", das die organisierenden Verfahren übergreift, konzentriert sich auf die melodische Selbständigkeit innerhalb dichter Klangfelder, auf die horizontal-vertikalen Intervall strukturen und auf charakteristische Typen der Melodiebildung.
Zwei Tabellen ordnen die Kompositionen als ganze sowie deren einzelne Sätze oder Formteile den besprochenen Phänomenen zu. Diese Tabellen dienen auch als Register des Harmonik-Kapitels.

ZWÖLFTONAKKORDE

Grundlagen

Zwölfton-Positionsklänge und Cluster

Zwölftonakkorde begegnen uns zwischen 1912 und 1920 bei so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Nicolas Obuchov, Alfredo Casella, Alexander Skrjabin, Domenico Alaleona, Darius Milhaud, Jean Huré, Alban Berg und Alois Hába. Die Diskussion des Phänomens selbst und seiner (überwiegend fehlenden oder mißverständlichen) Rezeption seitens der Musikwissenschaft würde sich zu einer eigenständigen Arbeit auswachsen. Eine solche Arbeit ist (in Konfrontation mit ausgewählten Beispielen aus der Musik der jüngsten Jahrzehnte und einer Diskussion des Phänomens in der Musiktheorie) in Vorbereitung. (29) Daher seien hier lediglich jene Aspekte kurz angesprochen, die unmittelbar einer Erläuterung der Zwölftonakkorde Lutoslawskis dienen können.
Das musiktheoretische Dilemma um den Zwölftonakkord beginnt schon bei der Frage seiner Identität zwischen der clusterartig "grauen" und prinzipiell immergleichen Gestalt einerseits und den unzähligen (die neunstellige Zahl der möglichen Zwölftonreihen potenzierenden) Gestalten andererseits.
Der traditionelle Akkordbegriff definiert Akkorde über ihren Tonbestand, während Aspekte wie Umkehrung, Klangregister, Faktur sekundär bleiben. Diese bis heute herrschende musiktheore tische Basis versteht denn auch unter "Zwölftonakkord" recht unspezifisch einen Zusammenklang, in dem keiner der 12 Töne (Tonqualitäten) fehlt. Ob Quartschichtung, Terzklang, enger Cluster oder Allintervallakkord, ändert dann am harmonischen Wesen eines so verstandenen Zwölfklangs ebensowenig wie eventuelle Oktavverdopplung einzelner Töne: auch eine beispielsweise dreizehn- oder achtzehntönige Akkordschichtung gilt dann (chromatische Vollständigkeit vorausgesetzt) als Zwölftonakkord. In diesem traditionellen Akkordverständnis, das sich auf die Tonqualitäten unabhängig von deren Positionierung im realen Klang stützt, gibt es nur einen einzigen Zwölfton akkord.

Angesichts der Vielgestaltigkeit der in der Musik der vergangenen immerhin 80 Jahre realisierten Zwölftonakkorde bleibt jedoch die Vorstellung von einem nicht weiter zu differenzierenden Zwölftonakkord hinter der klingenden Musik und dem Bewußtsein ihrer Komponisten zurück.

Gehen wir andererseits davon aus, daß ein Vielklang ab einer gewissen Klangdichte (Zahl der Tonqualitäten) nicht mehr sinnvoll wie ein Dreiklang umgekehrt, transformiert und in mehreren Oktavlagen verdoppelt werden kann, ohne dabei schließlich seine Identität einzubüßen, und daß der Begriff der Umkehrung spätestens beim Zwölftonakkord seine Daseinsberechtigung verliert, dann sehen wir uns vor einer nahezu unendlichen Anzahl verschiedener Zwölftonakkorde: jede der mit 12 Tonqualitäten mögliche vertikale Intervallkonstellation ist als ein eigenständiger Zwölftonakkord aufzufassen. Einem solchen intervallgeprägten Akkordverständnis bedeutet ein Akkord als vertikal konzipierte Gestalt etwas qualitativ anderes als bloß eine "freie" Tongruppie rung innerhalb eines Tonvorrats: jeder Ton definiert sich außer über seine Tonqualität (c, cis) auch über deren Position im jeweiligen Oktavregister (c', cis''). Ein so verstandener Akkord wird bestimmt von seiner Intervallstruktur in ihrer realen vertikalen Positionierung, vor eventuellen Versuchen einer theoretischen Umgruppierung von Tönen. Er ist darin gleichsam "tonpositionsgeprägt" im Vergleich zum traditionell "tonvorratsgeprägten" Akkordbegriff.

Ein Festhalten am "tonvorratsgeprägten" oder bestenfalls eine (mehr oder weniger bewußt wahrgenommene) unentschiedene Position zwischen "tonvorratsgeprägtem" und "tonpositionsgeprägten" Akkordverständnis macht es den Autoren so schwer, zu einer positiven Bestimmung des Begriffs "Zwölftonakkord" in klarer Abgrenzung von Termini wie "Zwölftonfeld" u.ä. zu gelangen. Michael Beiches Dissertation "Terminologische Aspekte der Zwölftonmusik" konstatierte, es ließe sich bei den Termini Zwölftonfeld, zwölftöniger Tonkomplex, Zwölftonkomplex, set u.ä. "fast von verschiedenen Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache sprechen." (30)

Bezeichnenderweise kommt hier die Bezeichnung "Zwölftonakkord" nicht vor, wie denn auch in dieser Arbeit die beiden Komponisten, die schon vor 1920 ausgedehntere Folgen von Zwölftonakkorden in durchaus formtragender Weise in ihre Musik integrierten (Darius Milhaud und Nicolas Obuchov) übergangen werden. (31) Aber auch die wenigen Autoren, die sich zum Phänomen des Zwölftonakkords äußern, scheinen sich des Begriffs nicht recht sicher. Von den Belegen, die gesondert zu diskutieren wären, sei hier nur auf einige verwiesen, an denen sich der entscheidende Unterschied zum Wesen von Lutoslawskis Zwölftonakkorden als "Zwölfton- Positionsklängen" exemplifizieren läßt.

So verstandene Positionsklänge schwebten auch Nicolas Obuchov mit seiner "harmonie de douze sons sans redoublement" vor. Inwieweit Obuchov in seinen Kompositionen diese "Harmonie der zwölf Töne ohne Verdopplungen" realisierte, ist jedoch auch nach fast 80 Jahren noch ein weißes Blatt in der Musikwissenschaft. Abgesehen von einer Sondernummer der Zeitschrift "La revue musicale", (32) die jedoch in dieser Hinsicht nur einige isolierte Beispiele (dabei gar nicht immer zwölftönige) brachte, hat lediglich Gottfried Eberle 1980 bei Obuchovs Le sang auf die das Stück prägenden Zwölftonakkorde verwiesen. Andererseits spricht Eberle jedoch abschwächend von "zwölftönigen Klangkomplexen" (33) und von "Klangkomplexen mit einem bestimmten Tonvorrat, aber freier Gruppierung der Töne", wie sie Detlef Gojowy bei weiteren russischen Avantgardisten um 1920 nachgewiesen habe. "Zwölftönige Klangkomplexe" hat Gojowy tatsächlich bei Arthur Lourié, Nikolaj Roslavec und Efim (Jef) Golyšev nachgewiesen - nicht jedoch Folgen von (arpeggierten und meist im rechten Klavierpedal gehaltenen) Zwölftonakkorden, wie sie neben "Le sang" noch weitere Stücke Obuchovs bestimmen.
Auch Manfred Kelkel, der Zwölftonakkorde in Alexander Skrjabins Skizzen zu L'acte préalable aufzeigt, sieht sie in Verbindung zu dodekaphonen Aggregaten ("agrégats dodécaphoniques") und versteht die von ihm angeführten zwölftönigen Akkordgestalten als neun verschiedene Aspekte des Zwölftonakkords ("neuf aspects différents de l'accord de douze sons"). (34)

ganzseitiges Bsp. 2: Nikolaj Obuchov, Le sang

Was Obuchovs und auch Lutoslawskis Zwölfklänge von "freien" Zwölftonfeldern und Zwölftonkomplexen unterscheidet, läßt sich am Beispiel der von Gojowy angeführten Zwölftonkomplexe in Louriés L'ivresse (35) verdeutlichen. Es ist die prinzipielle vertikale Fixierung (nennen wir sie "Positionierung") jedes der 12 Töne auf ein (und nur ein) Oktavregister, die bei Lourié nicht durchgehalten wird. In Obuchovs "harmonie de douze sons sans redoublement" führt sie dagegen zu Klängen, die sich als "Zwölfton-Positionsklänge" bezeichnen ließen. Im Beispiel aus Louriés L'ivresse bildet keins der Zwölftonfelder einen Positionsklang. Im von Eberle wieder gegebenen Beispiel von Obuchovs Le sang dagegen sind alle harmonischen Einheiten des Klaviersatzes als Zwölfton-Positionsklänge zu verstehen (Bsp. 2 / 3). Beispiel 2 auf der vorigen Seite gab exemplarisch drei Takte wieder.

Bsp. 3 Artur Lourié, L'ivresse, T. 21-24; darunter der Harmonie-Auszug

In einem "Zwölfton-Positionsklang" Lutoslawskis ist die Fixierung von 12 Tönen auf ein bestimmtes Oktavregister (Positionierung) während eines gewissen Zeitraums für alle auftretenden Töne (in Harmonik wie Melodik für alle Interpreten) verbindlich: auch die Melodik bewegt sich ausschließlich zwischen den oktavfixierten Tönen. Diese Integration aller Stimmen in dieselbe Positionierung der (12) Töne unterscheidet Lutoslawskis Positionsklänge (Zwölftonakkorde) von denjenigen Obuchovs ebenso wie von Zwölftonakkorden in Igor Strawinskys The Flood (Bsp. 4) oder im dritten der Altenberg-Lieder op. 4 Alban Bergs (Bsp. 5).
Im Beispiel Bergs fügen sich die Melodietöne nicht in den Akkord, sondern stehen ihm "frei" gegenüber. Solange man (wie Rudolf Stephan) diesen Zwölftonakkord für ein "Klangzentrum" hält (36) und die Positionierung melodischer Töne für prinzipiell beliebig als "doch nur eine der (unzähligen) Möglichkeiten der melodischen Ausgestaltung des Klangzentrums", (37) solange wird man keine klare Grenze sehen zwi schen einem vagen "Tonkomplex", der dann auch umkehrbar und verdoppelbar ist, (38) und einer Harmoniefolge aus Zwölftonakkorden. Erst wenn man daran festhält, daß ein Zwölftonakkord sich über die Positionierung der 12 Töne definiert, entgeht man begrifflicher und sachlicher Verwirrung (vgl. die Ausführungen zur Rezeption Lutoslawskis) und gewinnt eine Optik für nicht notwendig reihengeprägte zwölftönige Ganzheiten, die sich für die Analyse von Werken einer Reihe von Komponisten als fruchtbar erweisen könnte. (39)

Beispiele

Mißlich ist auch der Terminus Cluster, wenn er Zwölfklänge bezeichnen soll. So spricht Hilmar Schulz beim Zwölfklang (Bsp. 6) aus Lutoslawskis Klavierkonzert von "versprengtem Cluster", (40) und Gwyneth Roberts' Dissertation spricht wiederholt von Clustern bei ihrer Analyse der Trois poèmes. (41) Obwohl sie durchaus die Regularität der Intervallstrukturen konstatiert, verstellt ihr doch der methodische Ansatz, die Ausrichtung auf "Klangmassen", den Blick auf die "harmonische" Orientierung der Klänge Lutoslawskis, die überdies in ihrem Inneren (in den einzelnen Stimmen) motivisch durchgeformt sind.
Die begriffliche und sachliche Verwirrung erreicht ihren Höhepunkt in Andrew Franks Bemerkungen zu Livre pour orchestre. Frank sieht dort eine Nivellierung der Harmonik zum Cluster, wobei die Frage der Tonhöhe kaum Bedeutung habe und Klangdifferenzierung nur als Grade von Dichte existiere. "In neither case does pitch seem to have much significance". (42) Von Harmonik gewissermaßen als bloßes sekundäres Beiprodukt des aleatorischen Kontrapunkts spricht auch Francis Bayer ("l'harmonie, de son coté, n'est plus qu'un simple derivé de ce contrepoint aléatoire"). (43) Als Gegenbeweis sei vor allem auf die Beispiele 21, 23, 24, 26 und 27 verwiesen.

Halten wir demgegenüber fest, daß wir (bezugnehmend auf Henry Cowells ursprüngliche Vorstellung einer "Tontraube") von Cluster dann sprechen, wenn in einem kompakten Vielklang die überwiegende Zahl der Töne sich im Sekund-Abstand so übereinanderschichtet, daß eine mögliche Intervallordnung in den Hintergrund tritt. Die Zahl der Töne muß im Cluster nicht 12 be tragen - ob bei einem Quintcluster oder einem 21-tönigen Cluster über zweieinhalb Oktaven (Bsp. 7 a, 7 b).

Aber selbst dann, wenn ein Cluster per definitionem genau 12 temperierte Töne (und keinen doppelt!) enthalten sollte, wäre er nicht mit einem intervallisch strukturierten Zwölftonakkord wie einem quart- oder terz-tritonusbetonten Akkord gleichzusetzen. Mit zwölftönigen Clustern, die sich hauptsächlich durch Orchestrierung, Dichte oder Bewegung im Raum unterscheiden, haben intervallisch strukturierte Zwölftonakkorde so viel oder so wenig gemein, wie ein Quartakkord mit einem Dur-Dreiklang - auch wenn beide einen Akkord aus drei Tönen bilden. Ein Zwölfklang kann ein Cluster sein, wenn er auf Sekunden basiert.

Um die harmonietragende Rolle der erläuterten Zwölfton-Positionsklänge zu unterstreichen, werden sie im weiteren als Zwölftonakkord und nicht als Zwölfklang bezeichnet - auch wenn ihre Faktur nicht immer akkordisch wirkt. Bei gebrochenen Akkorden mit mehr oder weniger ausgeprägter Binnenbewegung der Stimmen wird von "fluktuierenden Akkorden" gesprochen. Einen ersten Einblick in ein solches Akkordverständnis gibt das Beispiel der Fünf Lieder (Bsp. 8).

Man mag angesichts der wechselnden Fakturen bei der Ausgestaltung der Zwölfton- Positionsklänge darüber diskutieren, ob der Begriff Zwölftonakkord glücklich gewählt ist. Lutoslawski selbst spricht im Polnischen von "dwunastodzwieki", wobei das Wort "dzwiek" sowohl natürlich vorkommende Geräusche als auch den musikalischen Einzelton ebenso wie den akkordischen Zusammenklang bezeichnen kann. (44)

Im folgenden wird die Bezeichnung Zwölftonakkord auch deswegen beibehalten, weil der Terminus die integrierende, ganzheit-stiftende Kraft der akkordischen Organisationsform unterstreicht. Die im folgenden Teilkapitel als Zwölftonakkord beschriebenen Klangeinheiten wurden sämtlich vom Komponisten als Akkorde konzipiert, wie eine Analyse der Kompositionsskizzen beweist.

Das Beispiel der Fünf Lieder

In den Fünf Liedern (1956-58) sind in elementarer Gestalt grundlegende Charakteristika der Zwölftonakkorde Lutoslawskis sehr deutlich ausgeprägt (vgl. auch die Ausführungen auf S. 104):

- klare, homogene Intervallstrukturen (aus nur 2-3 Intervallklassen) - verschiedenartige Ausgestaltung (Satztechnik) - die formtragende Kopplung eines homogenen Intervallbildes mit einer bestimmten Klangfarbe und rhythmischen Gestaltung

Jedes Lied verbindet eine ihm eigene Klangfarbe, Besetzung und Faktur mit einem bestimmten Typ von Zwölftonakkorden. In der Version mit Kammerorchester wirkt dazu noch die in jedem Lied etwas unterschiedliche Besetzung:
(....) (....)

Im ersten Lied (Bsp. 8 c) treffen wir auf vier verschiedene Zwölftonakkorde, (45) wovon der dritte gegen Schluß mehrfach halbtonweise abwärts transponiert wird. Im zweiten Lied (Wiatr) gehen 9 symmetrische Zwölftonakkorde auf zwei (clusterähnlich aufgeteilte) Typen von Zwölftonakkorden zurück, deren Töne auf unterschiedliche Weise gruppiert werden (vgl. Bsp. 37 und Bsp. 42): in 3 verschiedene Tetrachorde (2-1-2 ; 2-3-2 ; 1-1-1 ; 1.Typ) oder in 3 verminderte Septakkorde (2.Typ, T.101-107, 111-114; 125).

(....) (...)

Probleme der Untersuchung einer Harmonik auf der Basis von Zwölftonakkorden

Zwölftonakkorde als Zwölfton-Positionsklänge, denen neben der Tonqualität auch deren Position im Oktavregister essentiell ist, stimmen mit dem traditionellen Akkordbegriff (im Gegensatz zur Cluster-Komposition) darin überein, daß die primären harmonischen Einheiten von Faktoren der Tonhöhe geprägt werden, während Faktoren wie Besetzung, Faktur etc. sekundär sind.
Eine weitere Gemeinsamkeit zum herkömmlichen Akkordbegriff besteht darin, daß ein "Akkord" nicht notwendig mit allen Tönen simultan einsetzen oder abbrechen muß, um als harmonische Einheit (Akkord) verstanden zu werden. In diesem Sinn wird auch im folgenden Kapitel von Zwölftonakkorden gesprochen - in Analogie zum allgemeinen Verständnis, das auch dann von einem "verminderten Septakkord" oder einem "übermäßigen Quint-Sext-Akkord" sprechen kann, wenn nicht tatsächlich vier Töne simultan klingend einen "realen" Zusammenklang bilden: etwa bei latenter Harmonik wie beispielsweise in Bachs Solowerken, bei gebrochenen Akkorden und "Alberti-Bässen". Mit "Alberti-Bässen" als einer streng genommen horizontalen Linie, die sich im Bewußtsein des Hörers zu vertikal-akkordischer Wirkung zusammenfügt, hat Lutoslawski seine gebrochenen Zwölftonakkorde verglichen: (46) alle 12 chromatischen Töne haben ihr festes Oktavregister, und zwar für einen bestimmten Zeitraum fixiert und für alle beteiligten Instrumente verbindlich (im Unterschied zu einem rein melodischen Durchlauf der 12 Töne, zu Zwölftonfeldern etc).
Der akkordisch-schwirrende Eindruck eines in dichter vielstimmiger Bewegung fluktuierenden Zwölftonakkords ist der Wirkung des rechten Klavierpedals bei gebrochenen Akkorden vergleichbar - tatsächlich gingen viele frühe Zwölftonakkorde aus "Pedalakkorden" im Klaviersatz hervor (wie die genannten Zwölftonkomplexe in Louriés L'ivresse, wie Zwölftonakkorde bei Obuchov, Berg und frühe Beispiele in Polen; vgl. dazu auch die biographische Einführung zu dieser Arbeit.)
Auch Lutoslawski hatte, bevor er in den Fünf Liedern seine ersten Zwölftonakkorde im Orchestersatz komponierte, in der klavierbegleiteten Version Klänge notiert, die sich bei gehaltenem Pedal zu gebrochenen (fluktuierenden) Zwölftonakkorden zusammenschließen. Ein solcher Zwölftonakkord übernimmt in Lutoslawskis Verständnis eine dreifache Funktion: die einer Leiter, eines gebrochenen Akkordes und eines Modus. (47)
Zu beschreiben ist ein solcher Zwölftonakkord (auch unabhängig von seiner Faktur) nach seiner vertikalen Intervallstruktur - nach den zwischen benachbarten Akkordtönen bestehenden Intervallen. So gilt der Akkord in Bsp. 9 a (Paroles, vgl. Bsp. 15) als 7-3-5-3-3-4-1-3-6-5-4, und Bsp. 9 b und 9 c als dessen Transpositionen. Bsp. 9 d und 9 e jedoch gelten nicht als "Umkehrungen", sondern als selbständige Akkorde. (Wo vergleichbare "Umkehrungen" allerdings gehäuft und sichtbar zielgerichtet im Formzusammenhang wirken, werden sie auch auf denselben Zwölftonakkord bezogen - vgl. Bsp. 29).

Beispiele 9 a, 9 b, 9 c, 9 d, 9 e

Nun müssen in einem solchen Zwölftonakkord nicht alle Töne gleichermaßen isoliert oder auf alle anderen Töne in gleicher Weise bezogen sein. Denkbar (und von Lutoslawski häufig realisiert) ist eine Zusammenfassung von Akkordtönen zu Schichten "lokaler Harmonien" innerhalb eines Zwölftonakkords. Die (ganzheitbildende) Unterscheidbarkeit solcher Tongruppen wird unterstützt von mehreren Faktoren: klangfarblichen (instrumentale Besetzung), linearen (Linienführung der Stimmen) und zeitlichen (rhythmische Strukturen, Dichte der Impulsfolge, sukzessive Einsätze von Tongruppen). Sie ist daher auch am sinnvollsten in diesen Zusammenhängen zu sehen und im mu sikalischen Kontext zu beschreiben, was an einer Reihe von Beispielen versucht wird. Auf einer eher theoretischen Ebene erläutert die vorliegende Arbeit dann das Phänomen der Schichten inner halb von Zwölftonakkorden in der Perspektive des Komponisten selbst, wie sie sich nach einem Studium der Skizzen darstellt sowie in verbalen Kommentaren, zu denen Lutoslawski hier erstmals bereit war. Daß in einem Zwölftonakkord nicht alle Intervalle in ihrer Bedeutung für den Akord gleichgewichtig sein müssen, wird auch in diesem Zusammenhang erwähnt und mit ausgewählten Beispielen illustriert.
Zunächst aber wird eine Zuordnung der Akkorde gemäß "abstrakter" vertikaler Intervallstrukturen vorgenommen, um sich vorab auf zweifelsfrei nachvollziehbare Weise über die harmonischen Ganzheiten zu verständigen. (Zu welchen Unklarheiten es führt, sich vor einer Beschreibung "rein" vertikaler Strukturen auf Klangschichten stützen zu wollen, illustrieren Analysen der Fünf Lieder. /48/)
Erst auf diesem Hintergrund sind dann Phänomene zu diskutieren, die als horizontal-vertikales Oszillieren der Intervalle eine primär an vertikalen Strukturen orientierte Akkordbeschreibung relativieren. Im musikalischen Kontext eines Werks entscheidet über die harmonische Wirkung eines Zwölftonakkords nicht allein die vertikale Beziehung zwischen den im Akkord unmittelbar benachbarten Intervallen (im Quartenakkord also Quarten), denn die (mehr oder weniger deutlich wahrnehmbaren) melodischen Verläufe innerhalb eines akkordischen Klangfelds können die vertikalen Intervalle unterstützen, variieren oder schwächen. So können Stimmen, deren Zusammenwirken einen zwölftönigen Quartenakkord bildet, in ihrem melischen Verlauf gerade nicht die im Akkord benachbarten Töne, sondern auch ganz gezielt etwa jeden zweiten Akkordton bevorzugen - dann oszilliert der Klang zwischen horizontalen kleinen Septimen und vertikalen Quarten. Bei einer Akzentuierung jedes dritten Akkordtons hört man dann horizontale Terzen innerhalb der Quartakkords usf. Die relative Selbständigkeit der melodischen Verläufe und ihre gesonderte Wahrnehmbarkeit hängen nun wiederum von verschiedenen Bestimmungen der Faktur ab: u.a. von Tempo, Stimmenzahl, Besetzung usw.
In stärkerem Maße als in der Dreiklangsharmonik gewinnt bei Zwölftonakkorden neben der reinen Intervallik naturgemäß auch die "Ausgestaltung" (Faktur) des Akkords an Bedeutung: seine Durchsichtigkeit oder Dichte, sein Register, sein Ambitus, die eventuelle Akzentuierung einzelner Töne, die Dynamik und die Entfaltung im Tonraum. Die genannten Momente gehören weniger zur Harmonik als vielmehr zur Satztechnik - ebenso wie etwa die unterschiedliche Ausgestaltung eines Arpeggios im Klaviersatz von Mozart oder Liszt.

Diesen Fakturfaktoren widmen sich die einleitenden Ausführungen - zunächst abstrahierend von klangfarblichen Bestimmungen (Besetzung) und konzentriert auf den Eindruck von "Akkord haftigkeit" im Sinne von Simultaneität der Töne und wahrnehmbarer Abgrenzung eines Zwölftonakkords von seiner klanglichen Umgebung. Die dort gewählten Kriterien, die eine Entwicklungstendenz in Lutoslawskis harmonischem Denken aufzeigen, sind auch auf die Analyse von Clustern und Klangfeldern anwendbar. Auch Roberts' Analyse der "sound masses" bei Ligeti, Lutoslawski, Xenakis und Penderecki würde so an Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewinnen.
Stationäre und fluktuierende ("gebrochene") Zwölftonakkorde bilden einzelne Klangfelder oder Harmoniefolgen, deren Akkordhaftigkeit je nach ihrer realen vertikalen Dichte (Zahl real-simultaner Töne, Stimmzahl, rhythmische Dichte) schwankt zwischen permanent oder partiell manifester, latenter und intentionaler Simultaneität der 12 Töne. Einer systematischen Klassifizierung entziehen sich diese Phänomene, deren Gestaltenreichtum mit jedem neuen Werk wuchs. Lutoslawskis Oeuvre seit Ende der fünfziger Jahre zeigt jedoch in der Ausgestaltung (Faktur) der Zwölftonakkorde eine Entwicklungtendenz weg von manifester Akkordhaftigkeit. Die unten vorgeschlagenen Leitlinien einer Gruppierung der Phänomene zwischen manifester und nur mehr intentionaler Akkordhaftigkeit und Zwölftönigkeit der harmonischen Grundlage zeigt den von Lutoslawski realisierten Spielraum bei der Ausgestaltung seiner Zwölftonakkorde und hilft, bereits seit den sechziger Jahren Stationen auf dem Weg zu den "dünnen Fakturen" der achtziger Jahre zu bezeichnen.
Als in Hinsicht auf seine Intervallstruktur ein und derselbe Zwölftonakkord werden unterschiedliche "fakturale Ausprägungen" verstanden, wobei der mit allen 12 Tönen komplett stationäre Zwölfklang nur einen Randfall bildet (Bsp. 10 a, Akkord zu Beginn des dritten Satzes der Paroles tissées).

Die weiteren Beispiele (...) (...)
Beispiele 10 a, 10 b, 10 c, 10 d, 10 e

Alle stationären oder fluktuierenden Akkordgestalten können 1. im Ambitus invariant sein (Bsp. a) oder 2. sich erst nach und nach komplettieren oder ausblenden (Bsp. 10 b, c, d, Bsp. 4, Bsp. 15). (Solche Ausgestaltungen virtueller Zwölftonakkorde unterscheiden sich von einer im Zusammenhang mit Clustern vorgenommenen Differenzierung nach deren Ausdehnung, Addition oder Subtraktion (49) durch die bei virtuellen Zwölftonakkorden hauptrangige Bedeutung intervallischer Ordnungen. Die Bedeutung der Intervallordnung und der Zwölfzahl distanziert die virtuellen Zwölftonakkorde auch von dem bei Cluster-Kompositionen präzisierten Begriff der Breite (50) oder Dichte eines Tonkomplexes "als der unterschiedlich stufenreichen Füllung des Ambitus". /51/)

Neben den (zumindest zeitweilig) manifest akkordischen Klängen (wie Bsp. 10 b, d) werden auch Zwölfton-Positionsklänge wie die in Bsp. 11 und Bsp. 12 beschrieben.

Bsp.11

Bsp. 11 entspricht einer Reduktion auf die Tonfolgen in Anton Weberns Symphonie op. 21, Takte 1-14. (Die folgenden 11 Takte setzen diesen Zwölfton-Positionsklang, in dem hier der Ton es doppelt auftritt, fort.)
Heinrich Deppert weist bei Webern in einer Reihe von Beispielen nach, daß "in bestimmten Teilen der Komposition unabhängig von irgend einer Art von Spiegelung die Tonhöhen in ihren Oktavlagen fixiert werden, d.h., daß ein bestimmter chromatischer Wert stets an der gleichen Stelle im Tonraum erscheint." (52) Deppert spricht in solchen Fällen von einem "System von 12 Tonhöhen", wobei unter Tonhöhe der chromatische Wert plus Oktavregister verstanden wird. (53) Ein solches (tonqualitäts- und tonpositionsgeprägtes) harmonisches Denken ist bei Webern kein Einzelfall. (54) Claude Ballif analysierte Weberns Klaviervariationen op. 27 unter dem Aspekt der "spatialisation harmonique", die er bei Ivan Wyschnegradsky beschreibt. (55) 1955 schon hatte Herbert Eimert bei Webern von einem "selbst schon oktavlagenbewußten Intervall" gesprochen. (56) In seinem Lehrbuch der Reihentechnik formulierte Eimert dann, daß bei Webern "die Oktav räume als eigene kompositorische Dimension erscheinen (...) Die Oktavlagen gehören zu Weberns 'Parametern'". (57)

Was sich bei Webern andeutet (die Oktavfixierung der 12 Töne, in unserem Kontext als Positionierung bezeichnet), wird bei Lutoslawski zum essentiellen und mit formtragenden Faktor. Die positionierten Töne der "Exposition" der Symphonie op. 21, von Siegfried Borris in "Analogie zu einer D-Harmonik" gesehen, (58) wurden von William W. Austin in den Traditionszusammenhang formbildender Harmonik der Klassik gestellt, wogegen Martin Stroh sich wegen der traditionsgebundenen Begrifflichkeit wendet. (59) Andererseits spricht Stroh selbst von "der perioden- und formbildenden Funktion" von Zwölftonfeldern. Deren "kadenzbildende Funktion" sei am konsequentesten "im Zwölftonakkord verwirklicht, der als eine auf einen einzigen Klang zusammengezogene 'Kadenz' aufgefaßt werden kann und von den Komponisten der Wiener Schule bisweilen so aufgefaßt worden ist." (60) (Als Beleg nennt Stroh Weberns op. 19,1 und op. 31,1.)

Eine nähere Diskussion dieses Phänomenkomplexes bringt jedoch in unserem Zusammenhang für die Analyse der Musik Lutoslawskis keine neuen Gesichtspunkte - eher scheint die Hypothese vertretbar, daß es umgekehrt sein könnte und die Frage der Positionierung in Werken Weberns durch die Analyse der Zwölftonakkorde Lutoslawskis in einem veränderten Licht erschiene.

Bsp. 12 Edgard Varèse, Déserts, T. 41-53 (Reduktion auf die Einsatzimpulse)
Bsp. 12 entspricht einer Reduktion auf die Tonfolgen in Varèses Déserts, Takte 41-53

Bei Edgard Varèse wurden Ansätze zu einem der hier erläuterten Positionierung entsprechenden Intervallverständnis von Jonathan Bernard und Larry Stempel aufgezeigt. (61) Zwölftönigkeit war jedoch für Bernard kein Thema, und Stempel unterstreicht gerade die Vermeidung vollchromatischer Klänge und die "Schrägheit als eine Art Technik um dem Zwölftonrahmen zu entgehen". (62) Richten wir jedoch einmal den Blick auf das Phänomen des Zwölfton-Positionsklangs, so konstatiert eine Analyse der Tonordnung etwa von Varèses Déserts mehrere (durchaus nicht nur vorübergehende) Zwölfton-Positionsklänge, darunter Bsp. 12, T.41-45. Für Stempel ist es ein "Beispiel von tonhöhenausschließenden Hexachorden mit identischem harmonischem (sic) Gehalt". Jürg Stenzl spricht für Déserts von zwölftönigen Webernschen Verfahren, andererseits von Komplementärharmonik und Zwölftonfeldern. (63)

Wollte man einige Strukturen wie in Bsp. 11 und Bsp. 12 als "Zwölftonfeld" bezeichnen, wäre festzuhalten, daß ein Zwölftonfeld auch bei den mit "x" markierten Tönen hätte enden können. Ein Zwölfton-Positionsklang hingegen schafft ausgedehntere Zusammenhänge, die über einen "Abschnitt einer Komposition, der genau 12 Töne von je verschiedener Tonqualität enthält", (64) hinausgehen.

Bsp. 13, Varèse Déserts, "Harmonie-Auszug", T. 41-78

Bsp. 13 zeigt gewissermaßen einen "Harmonie-Auszug" der Takte 41-78 von Varèses Déserts. Ein Vergleich der Takte 46-53 in Bsp. 12 und in Bsp. 13 möge exemplarisch verdeutlichen, wie die harmonische Analyse dabei vorging, um sich der Frage der Positionierung von Tönen ("Positionsfarbe") zu nähern. Tonqualitäten, die nicht strikt positioniert auftreten, wurden zur Verdeutlichung dieser Tatsache im Schema gekoppelt und mit schwarzen Notenköpfen notiert. Mit "12-ton" wurden die Zwölfton-Positionsklänge markiert.
Bemerkenswert sind die Regularitäten, die eine Analyse aufdeckt, die sich an Zwölfton- Positionsklängen orientiert - bemerkenswert vor allem angesichts der mehrfach behaupteten Nicht- Analysierbarkeit der Harmonik Varèses und der laut Larry Stempel von Varèse gezielt vermiedenen Zwölftönigkeit (im Sinn chromatischer Vollständigkeit). Der im Hinblick auf Zwölfton- Positionsklänge analysierte Werkausschnitt zeigt neben einer Folge solcher Klänge auch Positionsklänge mit einigen nicht-positionierten Tönen. Diese (hier gleichsam ausnahmsweise) nicht-positionierten Töne zeigen chromatische Affinität (g, fis / f, e / e, dis, d, gis).
Man kann das bei Webern und Varèse zu beobachtende partielle Denken in Positionsklängen für einen zu vernachlässigenden, im Schaffen dieser Komponisten nachrangigen Faktor halten. Spätestens dann jedoch, wenn solche Klänge im Werk nicht vereinzelt stehen, wenn auf Positionsklängen ein größerer Formteil oder gar ganzer Satz beruht und wenn überdies ein Vergleich der Positionsklänge zeigt, daß vom Komponisten mit deren Intervallstruktur, Ambitus ("Hüllkurve") und Faktur (u.a. Impulsdichte) gezielt gearbeitet wird und auch prozeßhafte Verläufe gestaltet werden, sind solche Positionsklänge harmonietragend und werden im folgenden (bei Positionierung von stets genau zwölf Tönen) als virtuelle Zwölftonakkorde bezeichnet.
Extremfälle ihrer "nicht-akkordisch wirkenden" Faktur finden wir bei geringer Stimmenzahl (z.B. im Streichquartett, vgl. Bsp. 18 sowie die harmonische Analyse, S. 247-254 mit den dort gegebenen Beispielen) -bis hin zu einstimmiger Akkordbrechung (vgl. Bsp. 17). Was eine solche linear betonte Arpeggierung eines virtuellen Zwölftonakkords von einem Reihenablauf, einem Zwölftonfeld, -komplex bzw. einer wie auch immer benannten bloßen Vollständigkeit der 12 Töne unterscheidet, wird erst im musikalischen Kontext nachvollziehbar.
Wie auch bei linearen Abläufen der 12 Töne in Werken, die nicht durchgängig vollchromatisch sind (etwa bei Dmitri Schostakowitsch), ist es noch nicht ein (u.U.) vereinzelt auftretendes Phänomen als solches, das über begriffliche Zuordnungen entscheidet. Eine Tonfolge wie b-des-es- ges-a-c-d-e-as-ces-g-f aus Schostakowitschs 13. Streichquartett (T.175-179) (65) wäre dann eine Reihe, wenn das im Satz Folgende aus ihr abzuleiten wäre, wenn sie also als Organisationsprinzip beibehalten würde. Nur als vereinzeltes Phänomen gesehen, könnte das Beispiel theoretisch auch als Zwölftonfeld oder Arpeggierung eines Zwölftonakkords verstanden werden. Die Bezeichnung Zwölftonfeld steht ihm dabei offen, da mit Zwölftonfeld mehrfach bereits das bloße Vorkommen der 12 (nicht notwendigerweise ohne Verdopplungen ausschließlich 12) Töne bezeichnet wird. (66) Als Arpeggierung eines Zwölftonakkords jedoch würde es nur dann bezeichnet werden, wenn ein solches Organisationsprinzip in der jeweiligen Komposition über größere Formabschnitte konsequent beibehalten würde. Dies läßt sich für Werke Lutoslawskis aufzeigen, und dies sogar mit größerer methodischer Sicherheit, als etwa Ernst Kurth sie für den Nachweis der Tonalität vorsah, als er dafür u.a. die "Existenz oder wenigstens ideelle Rekonstruierbarkeit" tonaler Zentren voraus setzte. (67) Lutoslawskis Zwölftonakkorde sind nicht nur "ideell rekonstruierbar", sondern als Grundlage der Tonsprache existent und in den Kompositionsskizzen manifestiert. Alle im folgenden beschriebenen Analyseergebnisse wurden mit den Skizzen konfrontiert.

Bei Einzelklängen wie bei ausgedehnten Folgen virtueller Zwölftonakkorde sind Aspekte der Faktur und Intervallstruktur gleichermaßen zu berücksichtigen. Eine Analyse, die über die Beschreibung einzelner Zwölfklänge hinausgeht und harmonische Folgen untersucht, hat neben Faktur und Intervallstruktur der Zwölftonakkorde auch deren Ambitus ("Hüllkurve" im Klangraum) zu verfolgen. Den (intervallisch geprägten) Grundsätzen der Akkordverbindung nähert sich das Kapitel mit der Vorstellung "latenter Stimmführung".
In Intervallstruktur, Faktur, Ambitus und Stimmführung ist der Spielraum zwischen ausgeprägten Kontrasten und allmählichen Transformationen auch im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang einer Komposition, unter Berücksichtigung der Form des Werks und seiner Sätze, zu befragen - in Verbindung mit allen anderen Parametern, auch wenn natürlich im Einzelfall nicht alle Parameter gleichermaßen formtragend sind. So wirkt beispielsweise die formale Funktion eines Zwölftonakkords, seine Position im Formverlauf, auf seine Intervallstruktur ein. Am Kulminationspunkt etwa treffen in Lutoslawskis Werken die Extreme aufeinander - also auch maximal kontrastierende Intervallstrukturen. In schwach strukturierten, quasi locker gefügten Sätzen dagegen (Lutoslawskis Formverständnis unterscheidet ausdrücklich zwischen vorberei tenden und steigernden Sätzen, zwischen "zentrifugalen" und "zentripetalen" Formkräften) treffen vielfältige Intervallbilder und Organisationsverfahren kaleidoskopartig aufeinander. In solch vorbereitenden Sätzen haben Folgen von Zwölftonakkorden nicht dieselbe Bedeutung wie in steigernden Hauptsätzen, in denen die Intervallstrukturen über längere Zeiträume homogen bleiben. In steigernden Formprozessen, die sich auf Folgen von Zwölftonakkorden stützen, (68) nimmt die harmonische "Ereignisdichte" zu, d.h. Akkordwechsel folgen immer rascher aufeinander. Bei der Beschreibung der Zwölftonakkorde ist also auch deren Dauer zu berücksichtigen - für die einzelnen Akkorde als Faktor der Akkordhaftigkeit und im Kontext der Akkordfolgen als Faktor der Formbildung.

Faktur

Stationäre Zwölftonakkorde

Die einfachste Akkordgestalt als stationärer Klang, der in allen Stimmen simultan einsetzt und abbricht und in dem die einzelnen Stimmen sich nicht zwischen verschiedenen Akkordtönen bewegen, ist schon in den frühesten Werken mit Zwölftonakkorden präsent. Gegenüber den vielfältigen Differenzierungsmöglichkeiten gebrochener, partiell simultaner Zwölfklänge ist in Lutoslawskis Werken der Anwendungsbereich stationärer Zwölftonakkorde eng begrenzt (vgl. auch "prozeßhafte Akkordfolgen").

Einzelne gedehnte Zwölftonakkorde bilden statische Flächen als

- Ruhepunkte

- vor Beginn einer neuen "Aktion" zu Beginn des Finales in Jeux vénitiens, zu Beginn von Chain I und zum Abschluß des ersten Satzes der dritten Sinfonie (Lento, vor Zi 30)
- zwischen bewegten Klangflächen (Chain I, im Bereich der Klimax, S.43/44)
- innerhalb rascher Reihenabläufe (Fuge, 6. Zwischenspiel, Zi 24-29; Novelette, 2.Satz und dritte Sinfonie (2.Satz, Ende der zweiten Formphase, vor Zi 62)
- als erst nach und nach zum stationären Zwölftonakkord gerinnende Bewegung
- als Ausgangspunkt für wirbelnde Klanggürtel (Novelette, 3.Satz, vor Zi 21)

- statischer Hintergrund für solistische Melodik

zwölftönige Tenor-Melismen in Paroles tissées (3.Satz), schlichte Textrezitation im ersten (Zi 16) und letzten Satz der Paroles und im ersten Satz der Espaces (Zi 22) (69)

Einzelne oder mehrere kurze, pointierte Zwölftonakkorde wirken

- allgemein formgliedernd (erste Sätze von Les espaces, zweiter und dritter Sinfonie, Chain II, 2.Satz; vgl. Form- Kapitel, S.98-101, vierter Sinfonie, Zi 21)

- treiben das Aktionstempo voran, oft unter Verkürzung der kleinformalen, von den Akkordschlägen begrenzten Einheiten (Livre, Finale; Jeux vénitiens, 3.Satz; Novelette, 4.Satz, in Verbindung mit Glissandi; "scheinbares" Vorantreiben auch in Livre, 3.Satz, Zi 310-311; Novelette, 3.Satz, gegen Schluß)

- gehen dem metrumfreien Tutti eines Werkhöhepunkts voraus

- als einzelne Zwölftonakkorde (Trois poèmes, "nachschlagende" Zwölftonakkorde, Zi 49)
- als Akkordrepetitionen (2. Sinfonie, mit anschließender wechselnder Akkordik, Zi 146; Repetition von "reduzierten" Zwölftonakkorden auch im Klimaxbereich des Cellokonzerts)
- als einzelne Akkordschläge innerhalb einer längeren Folge unterschiedlich gestalteter Zwölftonakkorde (Les espaces, vor Zi 92-96, Mi-parti, S.35-36)

- bekräftigen die Schlußwirkung - Fuge ("mit einem Schlag"); Les espaces, 2.Satz (stationärer Zielpunkt einer Akkordfolge wachsender Dichte), vierte Sinfonie (Zi 96)

Fluktuierende Zwölftonakkorde

Innerhalb des Akkordgefüges als Zwölfton-Positionsklang können (wie in einem gebrochenen Vielklang) einzelne oder alle Stimmen zwischen den Akkordtönen wechseln - mit mehr oder weniger Tönen in jeder Stimme, mit größerer oder geringerer Stimmenzahl, mit mehr oder weniger ausgeprägtem Eigengewicht. Je nach Zahl der Stimmen, ihrer motivischen Prägnanz und Bewegungsdichte, je nach stationärer Dauer desselben Zwölfklangs oder raschen harmonischen Wechseln wird ein solcher Zwölfklang als mehr oder weniger manifest oder latent akkordisch empfunden.

(..:.)

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