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Sie werden lachen - die Bibel

Vortrag von Michael Mainka am 02.12.1999 in der Adventgemeinde Düsseldorf

Bekenntnisse zum Buch der Bücher

Den Titel unseres heutigen Vortrags verdanken wir Bertolt Brecht. Gefragt nach seiner Lieblingslektüre antwortete er also: Sie werden lachen - die Bibel. Das war 1928, ein paar Wochen nach der Sensation der Dreigroschenoper, die ihn mit einem Schlag zum Hätschelkind des (Berliner) Kurfürstendamms gemacht hatte. Wie kommt er, der bekennende Atheist und Marxist, zu einer solchen Aussage? Und welche Gründe gibt es für uns, die Bibel zu unserer Lieblingslektüre zu erklären?

Nun, in seinem Elternhaus in Augsburg lag die Bibel auf dem Tisch. Und am protestantischen Religionsunterricht hat er auch teilgenommen. Aber das dürfte kaum erklären, warum sich in fast allen seinen Stücken Zitate und Motive der Bibel finden und das meist an den entscheidenden Stellen.

Sein erstes abgeschlossenes Werk trägt bezeichnenderweise den Titel "Die Bibel". Der Stoff dazu nimmt er aus dem Buch Judith. Dieses Buch gehört zwar nach protestantischem Verständnis nicht zum Kanon der Bibel, sondern zu den sog. Apokryphen. Aber Luther selbst hat über diese Bücher gesagt, dass sie nützlich und gut zu lesen sind. Betulia, eine Stadt im Norden Israels, wird von den Assyrern belagert. Die Lage ist hoffnungslos. Da hat Judith, die von allen wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit bewundert wird, eine Idee. Unter dem Vorwand, sich dem feindlichen Feldherrn Holofernes hinzugeben, dringt sie bis in dessen Schlafzimmer vor, enthauptet ihn und rettet so ihre Stadt vor dem sicheren Untergang.

In dem besagten Brecht-Stück wird eine protestantische Stadt in den Niederlanden von katholischen Streitkräften belagert. Auch hier ist die Lage hoffnungslos. Aber der feindliche Feldherr ist bereit, die Stadt zu verschonen, wenn sich ihm ein bestimmtes Mädchen eine Nacht lang opfert. Der Großvater des Mädchens versucht sie mit Bibelzitaten daran zu hindern: Bleib! Kennst du das Wort Gottes nicht! Wer mich verleugnet vor den Menschen, den will auch ich verleugnen vor dem himmlischen Vater. Ihm geht es um das Seelenheil seiner Enkelin. Die Sorge um die Stadt will er hingegen einfach Gott überlassen. Als es sich die Situation jedoch zuspitzt, begibt sich das Mädchen zum feindlichen Feldherrn und bewahrt ihre Stadt vor dem Untergang. Damit handelt sie für Brecht in der Nachfolge Jesu, der sich mit Haut und Haaren für das Leben der Menschen eingesetzt hat.

Oder in dem Ende der 20er Jahre entstandenen Stück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe". Dort geht es um die Organisation der Schwarzen Strohhüte, die sich aus christlicher Nächstenliebe um die Armen kümmert und ihnen zu essen gibt. Nach anfänglicher Skepsis entdecken die Reichen, dass die Wohlfahrtsarbeit der Schwarzen Strohhüte die Armen besänftigt und somit ihren Aufstand verhindert. Daraufhin begeben sie sich zum Haus der Schwarzen Strohhüte, Brecht meint damit die Heilsarmee, um ihnen dort eine großzügige Spende zu überreichen. Aber die heilige Johanna schmeißt sie im hohen Bogen raus. In ihrer Begründung knüpft sie an die Worte Jesu bei der Austreibung der Händler aus dem Tempel an, wo er sagt: "Steht nicht geschrieben: ´Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker´? Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht" (Mk.11,17). Johanna ruft den Reichen zu: Und ihr traut euch noch in Gottes Haus kommen, nur weil ihr diesen schmutzigen Mammon habt, man weiß schon, woher und wodurch, der ist ja nicht ehrlich erworben ... Hinaus! Wollt ihr Gottes Haus zu einem Stall machen? Und zur zweiten Viehbörse? Hinaus! Ihr habt hier nichts zu suchen.

Wer sich mit den Theaterstücken Bertold Brechts beschäftigt, findet dort Hunderte von Bibelzitaten. Freunde Brechts wiesen nach seinem Tod darauf hin, dass er zwar ein Kritiker der Religion, aber ein Verehrer der Bibel war: Sie hat er immer geliebt und verehrt. Aus ihr holte er sich seine Stoffe. Natürlich ohne den Glauben und gegen die Kirche. Wie das praktisch aussehen konnte, schildert die Schauspielerin Lotte Eisner. Sie berichtet, dass Brecht nach der Probe auf der Bühne aus der Lutherbibel vorliest, dabei jeden Satz auskostet und die Redewendungen, die ihm gefallen, in sein kleines Notizbuch schreibt.

Warum tut er das? Zum einen, weil er ein ausgeprägtes Sprachempfinden hat, einen besonderen Sinn für die Kraft der richtigen Worte. Es geht ihm nicht allein um schöne Formulierungen, sondern um die Kraft, die hinter ihnen steht, um die Worte, die Menschen direkt ansprechen und bewegen. Der Schreiber des Hebräerbriefs drückt das so aus: "... Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens" (Hebr.4,12). Darum geht es.

Und was ist mit dem Inhalt der Bibel? Für Brecht ist entscheidend, wie man mit der Bibel umgeht. Sie kann zur Unterdrückung der Armen und als billiges Trostbuch benutzt werden. Sie kann aber auch zum Einsatz für Menschlichkeit und Gerechtigkeit ermutigen. Nicht der Inhalt der Bibel als solcher ist für ihn entscheidend, sondern welche Funktion sie hat.

Wenn die heilige Johanna der Schlachthöfe an die Worte Jesu von der Tempelreinigung anknüpft, setzt sie sich damit für die Interessen der Armen ein. Die Worte der Bibel können jedoch auch missbraucht werden, um soziale Konflikte zu vernebeln. Z.B. das Wort aus Johannes 14,2, wo Jesus sagt: "In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen ...". Dazu schreibt Brecht in seinem Stück mit dem Titel Mutter: Dass in ´seines Vaters Hause´ viele Wohnungen sind, das sagt man euch, aber dass in Rostow zu wenige sind und warum, das sagt man euch nicht.

Brecht wendet sich entschieden gegen einen Missbrauch der Bibel zur Vertröstung der Armen. Das ist auch sein Vorwurf gegen die Kirche: Sie haben nichts als ein Buch überliefert, das haben sie verkritzelt und Kochrezepte und Medizinen über die Weisheit geschmiert. Auf den Widerspruch zwischen Bibel und kirchlicher Praxis weist Brecht immer wieder hin.

Sie werden lachen - die Bibel. Er hat es also ernst gemeint damit. Sicher, er ist nie Christ gewesen. Aber die Kraft der Bibel, die hat ihn fasziniert: Ihre Sprache und ihr Aufrufe zum Einsatz für Andere, zur Befreiung des Menschen.

Die Bibel als ungelesener Bestseller oder als Lieblingslektüre? Ich möchte ihnen im folgenden erzählen, warum die Bibel auch meine Lieblingslektüre ist. Einiges klingt vielleicht ähnlich wie das, was wir von Brecht gehört haben. Aber jeder, der dieses Buch aufschlägt, macht damit seine eigenen Erfahrungen.

Auch in meinem Elternhaus lag die Bibel auf dem Tisch. Schon früh habe ich die Geschichten der Bibel kennen gelernt. Erinnern kann ich mich vor allem an die 10bändige Kinderbibel ´Menschen in Gottes Hand´. Aber irgendwann ist die Zeit der Kindergeschichten vorbei. Spätestens dann stellt sich die Frage nach der Lieblingslektüre neu.

Auch nach der Zeit der Kindergeschichten waren meine Eltern für mein Verhältnis zur Bibel prägend. Sie haben mir zwar eine eigene Bibel geschenkt, aber damit war noch kein eigener Umgang mit ihr verbunden. Mein Bibelverständnis und mein Weltbild entsprachen einfach weitgehend dem meiner Eltern.

Für meine Eltern war die Bibel immer etwas ganz Selbstverständliches. Sie waren sich sicher, ihre Botschaft richtig zu verstehen. Natürlich gab es da die eine oder andere Frage. Aber diese letzten Fragen wurden mit dem Satz ´Muss man denn alles wissen?´ an die Seite gedrängt. Daher hatten sie ein klares Weltbild. Und ich habe das zunächst weitgehend übernommen. Wie sollte es anders sein.

Aber dann kam die Pubertät. Pickel hatte ich keine, soweit ich mich erinnern kann. Aber Fragen! Manchmal habe ich meinen Eltern Bibeltexte vorgelesen, die nicht so ganz in ihr Weltbild zu passen schienen. Und dann gab es in meiner Gemeinde Hamburg-Grindelberg eine Jugendgruppe, in der viel diskutiert wurde. Damals - Ende der 70er Jahre - wurde noch sehr kritisch diskutiert. Nachbeben der Jugendbewegung der 60er Jahre, die alles Bestehende kritisch hinterfragt hatte. Und wehe, etwas hatte keine richtige Begründung. Das war schon spannend. Wenn ich mich an diese Zeit zurückerinnere, kommen manchmal nostalgische Gefühle in mir hoch. Jedenfalls habe ich hier entscheidende Anstöße bekommen, der Sache mit Gott und damit auch der Bibel auf den Grund zu gehen.

Dabei wurde mir deutlich: So klar, wie ich bisher dachte, war die Sache nicht. Der christliche Glaube ist nicht die selbstverständlichste Sache der Welt. Etwa nach dem Motto: Archäologische Ausgrabungen beweisen, dass die Bibel doch recht hat. Der Spaten bestätigt die Bibel. Und jetzt muss ich nur noch für jede Frage den passenden Bibeltext finden. Ein geschlossenes Weltbild auf der Grundlage von Bibeltexten. Ich habe gemerkt: mit Beweisen ist da nicht viel zu machen. Und die Bibeltexte, die kann man doch nicht einfach so aus dem Zusammenhang reißen.

Eine große Hilfe war für mich, dass ich in dieser Zeit in einer Teestube mitgearbeitet habe. Wir hatten im Hamburger Universitätsviertel ein Ladenlokal angemietet und dort einen Treffpunkt für Jugendliche aufgebaut, um mit ihnen über den Glauben und die Bibel ins Gespräch zu kommen. Kein leichtes Unterfangen. Studenten sagen eben nicht zu allem ´Ja´ und schon gar nicht ´Amen´. Dabei habe ich entdeckt, dass die Worte der Bibel eine geheimnisvolle Kraft haben auch wenn wir ihre Wahrheit nicht beweisen können. Es war damals die Zeit der Ökologie- und Friedensbewegung. Plötzlich war die Bergpredigt auch für Kirchenkritiker aktuell. Dabei wollen wir mal dahingestellt sein lassen, ob sie diese Rede Jesu auch richtig verstanden haben. Aber viele Menschen haben damals etwas von der Faszination des Wortes Gottes verspürt.

Und diese neue Faszination hat die Bibel auch auf mich ausgeübt. Ich habe gemerkt: Auch wenn es dafür kaum handfeste Beweise gibt: die Bibel ist etwas ganz Besonderes. Sie hat eine ganz besondere Autorität. Warum? Weil sie in meine Lebenssituation hinein spricht und zwar aufbauend und befreiend. Deshalb ist die Bibel bis heute meine Lieblingslektüre.

Und dann habe ich Theologie studiert. Mein wichtigstes Anliegen dabei: Ich möchte mehr wissen über die Zeit, in der die Bibel geschrieben wurde. Ich wollte wissen: Was war damals los, als diese Texte geschrieben wurden? Wie war die politische und soziale Situation? Welche Fragen bewegten die Menschen damals? Und was bedeutete die Botschaft eines Hosea, eines Amos oder eines Jesus von Nazareth für sie in ihrer Lebenssituation. Warum wollte ich das wissen? Warum beschäftige ich mich bis heute mit diesen Fragen? Nicht um Geschichtsforschung zu betreiben oder meine Allgemeinbildung zu verbessern. Sondern: um zu verstehen, was die Texte heute bedeuten. Wenn ich mich in die Situation damals hineinversetze, werden die alten Texte lebendig und ich entdecke, welche Bedeutung sie in meiner Lebenssituation haben. Und das begeistert mich immer wieder.

Ein Beispiel. In der Bergpredigt sagt Jesus: "Es ist auch gesagt: ´Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben´. Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe" (Mt.5,31.32). Unwillkürlich fragen wir: Ist das nicht ein unbarmherziges Gesetz? Kann man das wirklich durchhalten? Ist Ehebruch der einzige Grund für Scheidung? Was ist bei seelischer Grausamkeit, wenn das Leben miteinander zu einer Plage geworden ist und alle Versuche zu einem Neuanfang gescheitert sind? Soll man dann etwa solange warten, bis der Partner Ehebruch begeht, um sich dann endlich scheiden lassen zu können? Ist es im Sinne Jesu, wenn die katholische Kirche den Geschiedenen die Eucharistie verwehrt? Und darf ein Geschiedener wirklich nicht mehr heiraten? Ist er ein Leben lang zum Singledasein verurteilt?

Hier ist es hilfreich zu fragen: Wie wurde damals die Ehescheidung gehandhabt? Welche Bedeutung hatte das Wort Jesu in dieser Situation? Und welche Konsequenzen hat es für uns heute?

Damals gab es unter den Pharisäern eine engagierte Debatte zum Thema Ehescheidung. Sie bezog sich auf eine Bestimmung des mosaischen Gesetzes: "Wenn jemand eine Frau zur Ehe nimmt und sie nicht Gnade findet vor seinen Augen, weil er etwas Schändliches an ihr gefunden hat, und er einen Scheidebrief schreibt und ihr in die Hand gibt und sie aus seinem Hause entlässt ..." (5. Mose 24,1). Die entscheidende Frage war nun: Was, bitteschön, ist etwas Schändliches? Auf der einen Seite stand Rabbi Schammai. Seine Interpretation: Ehebruch, das ist etwas Schändliches. Und das ist dann auch der einzige Grund für eine Scheidung. Anders Rabbi Hillel: Für ihn war es bereits etwas Schändliches, wenn die Frau das Essen hatte anbrennen lassen. Noch liberaler formulierte später Rabbi Aqiba: Für ihn lag bereits dann ein Grund zur Ehescheidung vor, wenn der Mann eine schönere Frau als seine bisherige gefunden hatte. Umgekehrt hatte die Frau natürlich nur in Extremsituationen das Recht, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen.

Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Worte Jesu sichtbar. Das Gebot Jesu ist kein unbarmherziges Gesetz. Es will verhindern, dass die Frau ein hilfloses Objekt männlicher Willkür wird. Es wahrt die Würde der Frau. Und so wird ein Text, der zunächst fremd und hart wirkt, lebendig und lebensnah. Denn darum geht es auch heute: Das wir in unserem Partner nicht ein Objekt zu unserer Bedürfnisbefriedigung sehen ("One night stand"), sondern einander in der Ehe gleichwertige und verlässliche Partner sind.

Solche Entdeckungen faszinieren mich immer wieder. Und sie helfen uns allen zu entdecken, dass die Bibel kein blutleeres Gesetzes- oder Dogmatikbuch ist, sondern konkret auf unsere Lebenssituation eingeht. Und wenn wir uns im Januar mit den 10 Geboten beschäftigen, wollen wir sie ihm Rahmen der damaligen Lebenswelt auslegen und dann ihre bleibende Bedeutung entdecken.

Worin liegt also der besondere Zauber der Bibel? Für mich liegt er in ihrer Lebensnähe. Entgegen anderslautenden Meldungen ist die Bibel kein trockenes Dogmatik- oder Gesetzbuch. Und sie ist auch nicht antiquiert. Sie ist alt, aber nicht veraltet. Warum nicht? Weil ihre Botschaft von ihrem Ursprung her mit ganz konkreten Lebenssituationen von Menschen verbunden ist und diese Lebensnähe auch für uns offenbar wird, wenn wir uns in die Welt der Bibel hineinversetzen.

Mehr als tausend Jahre umfasst dieses Buch. Tausend Jahre haben daran gearbeitet. So lange hat es gedauert, bis aus den ersten Worten, den ältesten Liedern, Geschichten und Reden das vielgestaltige Buch wurde, das uns heute gebunden vorliegt. Auf diesem langen Weg ist viel, sehr viel geschehen. Und deshalb wird uns in der Bibel ein Weg beschrieben, der durch alle Weiten unseres menschlichen Daseins führt.

Die Menschen biblischer Zeit sind diesen Weg mit Gott gegangen. Und was noch viel wichtiger ist: Gott ist mit ihnen gegangen. Dieser Weg ist deshalb ein Dialog, ein Wechselgeschehen zwischen Gott und Mensch. Menschen haben in ihrer konkreten Lebenssituation nach Gott gefragt und sie haben Antwort erhalten. Und sie haben auch untereinander nach dem rechten Verständnis Gottes und seines Willens gefragt. Dieser Dialog auf dem Weg durch die Zeit hat in der Bibel seinen Niederschlag gefunden.

Mit anderen Worten: Die Bibel will uns nicht allgemeine und zeitlose Wahrheiten über Gott mitteilen. Die Bibel erzählt eine Geschichte, die Geschichte Gottes mit den Menschen von der Schöpfung bis zu Gottes neuer Welt. Damit ich nicht missverstanden werde: Selbstverständlich ist Gott nicht heute der und morgen ein anderer. Er ist immer der gleiche Gott. Aber dieser Gott ist beweglich, so sehr, dass er schließlich Mensch wird. Er ist mit uns auf dem Weg.

Gott hat sich an die Geschichte der Menschheit gebunden. Im Alten Testament sogar an die Geschichte eines bestimmten Volkes. Dieses Volk ist dem Wandel unterworfen. Und deshalb wandelt sich auch die Beziehung zwischen Mensch und Gott. Neue Lebenssituationen, neue Fragen, neue Antworten. Die Bibel ist also ein Dialog zwischen Gott und Mensch und ein Gespräch, das Menschen über Gott führen. Immer wieder stellt sich die Frage: Was ist Wahrheit? Wie ist Gott zu verstehen? Was ist sein Wille? Immer wieder neu gibt es Antwort.

In diesem Dialog werden die Grundfragen des Lebens in einer unüberbietbaren Dichte angesprochen. Weil die Menschen biblischer Zeiten immer wieder neu nach Gott gefragt haben, hält die Bibel vielfältige Perspektiven für uns bereit. Wir entdecken Parallelen zwischen unserer Lebenssituation und der Lage damals und erkennen die Aktualität einer Jahrtausende alten Botschaft.

Im letzten Teil meines Referates möchte ich uns das konkret vor Augen führen. Ich möchte ihnen einige Stationen dieses Weges schildern, den Gott und die Menschen gemeinsamen gegangen sind. Ich möchte ihnen zeigen, wie Menschen im Dialog mit Gott und untereinander Antworten gefunden haben Antworten, die so wichtig sind, dass sie in der Bibel für uns aufbewahrt worden sind. Dabei hoffe ich, sie mit meiner Begeisterung für dieses Buch ein wenig anzustecken oder wenigstens ein bisschen neugierig zu machen.

Das religiöse Schlüsselerlebnis des Volkes Israel ist der Exodus, der Auszug aus Ägypten, die Befreiung vom Joch der Sklaverei. Deshalb heißt es im 1. Gebot: "Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe" (2.Mose 20,2). Gott geht mit seinem Volk durch die Zeit. Er ist der Befreier seines Volkes, nicht nur einmal, sondern immer wieder. Biblische Theologie ist daher immer Theologie der Befreiung.

Einige hundert Jahre später hat sich die Situation Israels grundlegend gewandelt. Israel ist eine Agrargesellschaft geworden. Ackerbau und Viehzucht bestimmen das Leben. Und Israel ist nicht länger ein Spielball der Mächtigen, sondern selbst ein ernstzunehmender politischer Machtfaktor im Nahen Osten.

Das hat Auswirkungen. Erstens: In der bäuerlichen Gesellschaft wird der Fruchtbarkeitskult immer populärer. Baal und Aschera heißen die neuen Stars am Götterhimmel. Nicht das der alte Gott verworfen wird. Nach wie vor wird er als Befreier seines Volkes verehrt. Aber Saat und Ernte, das ist doch wohl nicht sein Metier. Zweitens: Mit der Macht ist das so eine Sache. Macht pervertiert, und totale Macht pervertiert total. Das Volk entlaufener Sklaven hat Könige an ihre Spitze gestellt, die ihren Machtbereich notfalls mit kriegerischen Mitteln erweitern wollen. Auch gegenüber dem eigenen Volk erweisen sie sich zunehmend als Unterdrücker. Soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit nehmen zu.

Neue Situation, neue Antworten. Erstens: Der Gott, der euch aus der Sklaverei befreit hat, der allein kann auch jetzt für euch sorgen. Er gibt euch Korn, Wein und Öl. Jahwe ist immer für uns da. Baal und Aschera sind überflüssig wie ein Kropf. Ihnen zu folgen ist Hurerei. So die Botschaft des Propheten Hosea.

Zweitens: Immer mehr Propheten erscheinen auf der Bildfläche und klopfen den Herrschenden auf die Finger. Sie kritisieren die imperialistische Politik und die Ausbeutung des Volkes durch die wohlhabende Oberschicht. Der Prophet Micha wirft ihnen Kannibalismus vor: "... Höret doch, ihr Häupter im Hause Jakob und ihr Herren im Hause Israel! Ihr solltet die sein, die das Recht kennen. Aber ihr hasset das Gute und liebet das Arge; ihr schindet ihnen die Haut ab und das Fleisch von ihren Knochen und fresst das Fleisch meines Volks. Und wenn ihr ihnen die Haut abgezogen habt, zerbrecht ihr ihnen auch die Knochen; ihr zerlegt es wie in einen Topf und wie Fleisch in einen Kessel" (Micha 3,1-3). Und er entzieht dem Staat seine religiöse Legitimation: Jahwe ist der Befreier seines Volkes. Aber ihr könnt in ihm nicht einfach den Garanten für nationalen Erfolg und Wohlstand sehen. Ihr werdet euch wundern. Er wird euch für eure Ungerechtigkeit strafen. "So höret doch dies, ihr Häupter im Hause Jakob und ihr Herren im Hause Israel, die ihr das Recht verabscheut und alles, was gerade ist, krumm macht; die ihr Zion mit Blut baut und Jerusalem mit Unrecht seine Häupter richten für Geschenke, seine Priester lehren für Lohn und seine Propheten wahrsagen für Geld und euch dennoch auf den HERRN verlasst und sprecht: ´Ist nicht der HERR unter uns? Es kann kein Unglück über uns kommen´: Darum wird Zion um euretwillen wie ein Acker gepflügt werden, und Jerusalem wird zu Steinhaufen werden und der Berg des Tempels zu einer Höhe wilden Gestrüpps" (Micha 3,9-12).

Und tatsächlich: Was die Propheten lange vorher angekündigt haben, geschieht. Feindliche Armeen kommen ins Land und machen alles nieder. Jerusalem wird zerstört mitsamt dem heiligen Tempel. Der Großteil des Volk wird nach Babylon verschleppt. Dort endlich kommen sie zur Besinnung. Sie fragen neu nach Gott. Sie setzen sich mit der Botschaft der Propheten auseinander. Und als das Exil endlich endet, da ist es ihr fester Vorsatz, es künftig mit dem Willen Gottes genauer zu nehmen. So etwas wie das Exil soll ihnen kein zweites Mal passieren.

Das Gesetz erhält eine überragende Bedeutung. Vor allem Esra kümmert sich um Pflege und Auslegung des Gesetzes. Er ist im übrigen auch der Erste, der die Bezeichnung Schriftgelehrter trägt (Esra 7,6; Neh.8,1.4.9.13; 12,26.36). Seine Kollegen zur Zeit Jesu haben daraus die Konsequenz gezogen, dass das Kommen des Messias und seines Reiches von der genauen Einhaltung des Gesetzes abhängt. Sie konnten daher z.B. formulieren: ´Wenn Israel nur einen Sabbat richtig hält, dann wird der Messias kommen´.

Und dann kommt der Messias. Aber anders als sie sich das vorgestellt haben. Seine Botschaft: Euer Heil könnt ihr euch nicht verdienen. Das Reich Gottes, das ewige Leben, ist ein Geschenk. Bei mir bekommt nicht einfach jeder, was er verdient. Eure Befreiung, eure Erlösung hängt nicht von euch ab, sondern von mir. Religiöser Leistungsdruck - das ist nicht meine Idee. Bei mir könnt ihr aufatmen. Bei mir könnt ihr sicher sein. Weil ich für euch sterbe, habt ihr das Leben. Wenn ich euch das ewige Leben schenke, dann habt ihr es. Versprochen ist versprochen.

Menschen haben nach Gott gefragt. Und sie haben Antworten gefunden: Gott ist unser Befreier. Gott ist der Herr über die ganze Schöpfung. Gott ist keine bequeme Garantie für Erfolg; er möchte unseren Gehorsam. Gott ist die Quelle von Recht und Gesetz. All diese Erfahrungen laufen auf Jesus zu. Er ist das Ziel. Warum? Wenn Gott in Jesus Christus für die Menschen gestorben ist, dann hat das etwas Endgültiges. Nach diesem Ereignis kann man von Gott nur noch reden, indem man von dem Gekreuzigten spricht.

Damit hat das Alte Testament seine Gültigkeit nicht verloren. Wenn wir genau hinsehen, werden wir große Reichtümer entdecken: Die Kritik der Propheten an Machtpolitik und Ausbeutung, die Forderung nach einem Leben im Einklang mit dem Willen Gottes, und vieles mehr. Aber mit Jesus beginnt eine neue Zeitrechnung. Deshalb kann ich das Alte Testament nur vom Neuen Testament her verstehen. Dann wird mir klar: Mein Heil hängt nicht von meiner Leistung ab, sondern von Gottes Tat. Gehorsam ist nicht Bedingung, sondern Folge meiner Erlösung.

Warum also ist die Bibel meine Lieblingslektüre? Weil es hier um mein Leben geht. In konkreten Lebenssituationen haben Menschen immer wieder nach Gott gefragt. Und sie haben Antwort erhalten. Immer wenn ich mich in die Lage der Menschen damals hineinfühle, entdecke ich die Bedeutung der biblischen Botschaft für mich. Das Evangelium von Jesus Christus hilft mir dabei, die Bibel richtig zu verstehen nämlich als eine Offenbarung der bedingungslosen Liebe Gottes zu uns Menschen. Auch wenn manche lachen mögen, die Bibel ist meine Lieblingslektüre.

 
  © 2005 by Andreas Marzinski