Das 3. Buch Mose, entstanden zwischen 1400
und 1200 v. u. Z., diente den Priestern des alten Israel als Handbuch. Es
enthält vor allem detaillierte Vorschriften im Hinblick auf Opfergaben,
rituelle Reinheit, Priesterweihe, Feiertage und Feste. Aber ein Satz darin hat
allem Wandel der Zeiten widerstanden: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst.« (3. Mose
19,18)
Im rabbinischen Judentum wurde er von dem Weisen Hillel
als Verneinung umformuliert: »Was dir unlieb ist, das tu auch deinem
Nächsten nicht.«
Kirchenlexikon
HILLEL, der Ältere (Ende des 1. Jahrhunderts vor
Christus - Anfang des 1. Jahrhunderts nach) gilt als der führende Gelehrte des
antiken Judentums. Von seinem Leben ist recht wenig bekannt, denn es hat sich
schon früh eine historische Legende um seine Person gebildet, die ihn auch in
Zusammenhang mit Geschehnissen brachte, an denen er ursprünglich nicht
beteiligt war. Aus Babylonien stammend, wo er einen Teil seiner Ausbildung
erhielt, kam er nach Jerusalem, schloss sich dem Kreis der beiden Gelehrten
Schemaja und Abtallion an und beendete seine Ausbildung. Er wurde dann Mitglied
des Synhedrions (daher der Titel hasaken = der
Ältere) und hatte etwa von 10 vor - 10/20 nach das Amt eines Nasi
(Patriarch)inne; ob dies gleichbedeutend mit dem Vorsitz des Synhedrions war,
ist in der Forschung stark umstritten. Wie er zu diesem Amt gekommen ist, ist
ebenfalls unklar. Ein Teil der Tradition schreibt es dem Umstand der Klärung
einer Streitfrage über die Darbringung des Passa-Lamms
an einem Sabbat zu (bPes 66a); dass er ein hohes Amt
bekleidet haben muss, wird auch aus der Tatsache deutlich, dass sich auf ihn
eine 450 Jahre währende Patriarchdynastie gründet, zu
der u. a. Gamaliel I (Lehrer des Paulus), Gamaliel II und Jehuda ha-Nassi gehörten. Hillels Lehrtätigkeit hat größten auf die
Ausbildung rabbinischer Tradition nach der Zerstörung des zweiten Tempels (70
nach Chr.) gehabt. Zusammen mit Schammai steht er am Anfang des Zeitalters der
Tannaiten; sie gelten als das letzte Paar von Rabbinen, die die Traditionskette
zwischen den Propheten und den Rabbinendynastien
schlossen. Beide sollen sie zum ersten Mal "Schulen" gebildet haben,
wobei sich die Schule Hillels wohl erst nach der Tempelzerstörung als die
vorherrschende durchsetzen konnte (vgl. bErub 13b:
Die Schule Hillels hat deshalb den Vorrang, weil sie auch die Lehre der
gegnerischen Schule vertritt, und zwar vor ihrer eigenen). Mit dem Namen
Hillels werden in der Tradition insbesondere drei Themen verbunden, zum einen
ist dies die Regelung des Schuldenerlasses, der so genannte
"Prosbul", der die biblische Vorschrift vom regelmäßigen allgemeinen Schuldenerlass
so umgeht, dass auch in einer geänderten Wirtschaftsordnung ein Darlehenswesen
realistisch möglich bleibt (geht sicher nicht auf Hillel zurück). Zum anderen
sind es die so genannten "7 hermeneutischen Regeln des Hillel", die
hermeneutische Normen für die Schriftauslegung beinhalten, so z. B. der Schluss
vom Leichten aufs Schwere und seine Umkehrung, der Analogieschluss oder der Schluss
aus zwei Schriftstellen zusammen (vgl. bPes 66a, AbRN 137, Sch. 100). Hillel war wohl nicht der erste, der
diese Regeln formulierte, aber es scheint so, dass er einer der ersten war, der
sie zur Festsetzung der Halacha benutzte bzw. sich auf sie berief; dass die
Tradition diese Regeln ihm zuschreibt, ist Ausdruck seiner großen Bedeutung ihr
das antike Judentum. Zum dritten handelt es sich um seinen Umgang mit
Proselyten, so wird er in mehreren Stellen des b
Kremers, Heinz, (1926-1988):
Gerechtigkeit und Liebe. Ed. Adam Weyer. 47-56
3 Gerechtigkeit und Liebe im
Judentum und Christentum
Als sich die Christenheit von
ihrer Wurzel, dem jüdischen Volk, trennte und begann, sich als selbständige
Religionsgemeinschaft neben und gegenüber dem jüdischen Volk zu verstehen, musste
sie dies vor sich selbst (Selbstrechtfertigung bzw. Legitimation der eigenen
Identität), vor dem jüdischen Volk und vor den anderen Menschen begründen. Sie
tat das mit Hilfe eines Konfrontationsdenkens, indem sie ihr Verhältnis zum
jüdischen Volk nur noch in Polarisierungen beschrieb. Aus diesem Konfrontationsdenken
ging auch die Gegenüberstellung des Christentums als einer Religion der Liebe
und des Judentums als einer Religion der Gerechtigkeit hervor. In einer
erweiterten Form: Das Christentum ist eine Religion des Glaubens und der Liebe
im Gegensatz zum Judentum, das eine Religion des Gesetzes und der Gerechtigkeit
ist.
Wenn Christen heute - nach dem
Holocaust - Buße tun und das Überlegenheitsgefühl, die Verachtung und den Haß gegenüber den Juden überwinden, wird ihnen bewusst, dass
sie bisher nur schemenhaft ein Zerrbild vom Judentum kannten, aber nicht dieses
selbst, wie es wirklich ist.
Paulus schreibt in 2Kor
3,14ff, dass über den Herzen der Juden eine Decke liege, so dass sie beim Lesen
ihrer Bibel nicht erkennen können, dass diese den Messias Jesus von Nazareth
bezeugt. Man muss dieses Bild auf unsere Situation übertragen: Das wahrlich
nicht vom Heiligen Geist inspirierte Konfrontationsdenken der Christenheit hat
sich wie eine Decke über unsere Herzen gelegt, so dass wir fast blind sind und
das jüdische Volk nicht erkennen können. Sobald wir aber Buße tun und zum
jüdischen Volk als unseren älteren Brüdern und Schwestern umkehren, "wird
die Decke weggenommen" (2Kor 3,16).
Aber nicht nur in der
Begegnung und im Zusammenleben mit lebendigen Juden erkennen heute Christen,
die Buße tun, wie für die Juden nicht anders als für uns Christen Liebe und
Gerechtigkeit wesenhaft zusammengehören /1/. Vor allem lässt uns auch ein
Studium der gemeinsamen Bibel von Juden und Christen, unseres Alten
Testamentes, sowie des Neuen Testamentes und der jüdischen Tradition - ohne
Decke über dem Herzen - erkennen, dass hier überall Gerechtigkeit und Liebe
eine untrennbare Einheit sind. Diese Erkenntnis macht deutlich, dass das
Konfrontationsdenken uns nicht nur gegenüber den Juden und ihrer Tradition,
sondern auch gegenüber unserer Bibel, dem Fundament unseres Glaubens, fast ganz
blind gemacht hat.
Schon ein kurzer Überblick
über die Botschaft des Neuen Testamentes zeigt, dass dort Gerechtigkeit und
Liebe im Christusgeschehen und im Leben der Christen zusammengehören. Wir
wollen dies exemplarisch an der Botschaft des Paulus, des Matthäusevangeliums
und der johanneischen Schriften deutlich machen.
Paulus versteht das
Christusgeschehen primär als Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes. Denn durch
das Evangelium wird "die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart"
(Röm 1,17; s. auch 3,21; 1Kor 1,30; 2Kor 3,9). Darum bleibt für Paulus Gott der
Richter der Welt (Röm 3,6), und das Christusgeschehen hebt das Gericht Gottes
nicht auf, sondern "Gott wird das Verborgene des Menschen nach meinem
Evangelium durch Jesus Christus richten" (Röm 2,16), so dass *wir alle vor
dem Richterstuhl Christi erscheinen müssen, damit ein jeder seinen Lohn für das
empfange, was er während seines Lebens getan hat, Gutes oder Böses" (2Kor
5,10). Auch Gottes Gnadenhandeln am Menschen wird von Paulus vor allem als
Rechtfertigung des Sünders oder des Gottlosen (Röm 5,8) beschrieben.
Zwar nur selten, jedoch nicht
weniger eindrücklich schildert Paulus das Christusgeschehen auch als
Offenbarung der Liebe Gottes: "Gott aber hat seine Liebe gegen uns dadurch
erwiesen, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren"
(Röm 5,8). Darum "kann uns nichts mehr von der Liebe Gottes scheiden, die
in Christus Jesus ist, unserem Herrn" (Röm 8,39).
Der Offenbarung von Gottes
Gerechtigkeit und Liebe soll nach Paulus das Leben der Christen entsprechen.
Deshalb kann er sie einerseits ermahnen: "Stellt eure Glieder nicht der
Sünde als Waffen der Ungerechtigkeit zur Verfügung, sondern stellt euch ganz
Gott zur Verfügung als Menschen, die von den Toten auferweckt leben, und stellt
eure Glieder als Waffen der Gerechtigkeit in den Dienst Gottes" (Röm
6,13). Denn "in wessen Dienst ihr euch begebt, um ihm zu gehorchen, dessen
Knechte seid ihr und ihm zum Gehorsam verpflichtet, entweder der Sünde, die zum
Tod führt, oder dem Gehorsam (gegen Gott), der zur Gerechtigkeit führt. Gott
aber sei Dank, dass ihr, die ihr Knechte der Sünde gewesen seid, nun, befreit
von der Sünde, in den Dienst der Gerechtigkeit getreten seid" (Röm
6,16-18). Andererseits kann Paulus das Leben der Christen als ein von der Liebe
Christi motiviertes Leben der Liebe beschreiben (2Kor 5,14). Denn ohne Liebe
ist das beste Christenleben nichts (1Kor 13), aber indem der Christ liebt,
dient er der Gerechtigkeit und erfüllt Gottes Gebote (Röm 13,8-10).
Auch das Matthäusevangelium
beschreibt das Christusgeschehen primär als Erfüllung der Gerechtigkeit Gottes
(Mt 3,15; 5,17). Darum wird in ihm von den Christen eine bessere Gerechtigkeit
als die der Schriftgelehrten und Pharisäer gefordert (5,20), und sie werden
selig gepriesen, wenn sie die Gerechtigkeit tun und deswegen verfolgt werden
(5,6.10). Aber die Entfaltung der Forderung nach der besseren Gerechtigkeit in
den sog. Antithesen der Bergpredigt gipfelt in der Forderung der Feindesliebe
(5,44), und am Doppelgebot der Liebe "hängt" im Matthäusevangelium
die ganze biblische Botschaft (22,37-40).
Anders als bei Paulus und im
Matthäusevangelium ist in den johanneischen Schriften das
Christusgeschehen primär Offenbarung der Liebe Gottes: "Also hat Gott die
Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben,
nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben" (Joh 3,16). Darum
kann hier sogar formuliert werden: "Gott ist Liebe" (1Joh 4,8).
Dennoch ist auch in den johanneischen Schriften Gott der gerechte Richter, der
durch seinen Sohn die Welt richtet (Joh 9,39; 5,30; 12,48), wobei es seine
Intention ist, die Welt zu retten (Joh 3,17; 12,47). Wenn darum in den
johanneischen Ermahnungen der Begriff der Gerechtigkeit fehlt, wird doch auch
hier der Zusammenhang zwischen der Liebe und der Verwirklichung der
Gerechtigkeit durch den Gehorsam gegenüber Gottes Geboten festgehalten:
"Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten ... Wer mich nicht
liebt, befolgt meine Worte nicht" (Joh 14,23f). "Wenn ihr meine
Gebote haltet, werden ihr in meiner Liebe bleiben" (Joh 15,10). "Denn
darin besteht die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten" (1Joh 5,3).
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass auch hier die Christen erwählt sind,
damit sie bleibende Früchte (der Gerechtigkeit) bringen (Joh 15,16), und ihnen
deshalb angedroht wird, dass. das Ausbleiben von Früchten (der Gerechtigkeit)
in ihrem Leben zu ihrer Verwerfung führt (15,1-6).
Nun finden wir freilich heute
nur noch selten die absolute Gegenüberstellung von Liebe und Gerechtigkeit bei
der Beschreibung des Verhältnisses der Kirche zum jüdischen Volk. Aber selbst
dort, wo man - wie in der Studie "Christen und Juden"/2/ des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland - bekennt: "Juden und Christen
sind in ihrem Glauben und Handeln bestimmt durch die Wechselbeziehungen
zwischen Gerechtigkeit und Liebe", finden wir noch immer Überreste des
Konfrontationsdenkens und des in diesem begründeten christlichen
Überlegenheitsgefühls. So wird z.B. in der Studie "Christen und
Juden" behauptet: "In bestimmten Gruppen des nachbiblischen Judentums
setzte sich diese Ausweitung des Gebotes der Nächstenliebe nachhaltig fort.
Jesus hat es durch die Forderung der Feindesliebe von allen Schranken
befreit". Und: "So gibt es bei Christen und Juden tiefgehende
Unterschiede in der Begründung von Gerechtigkeit und Liebe". Wir stehen
eben erst am Anfang der Aufarbeitung der Bedeutung von Liebe und Gerechtigkeit
für das Verständnis der Beziehung der Kirche zum jüdischen Volk!
1. Gerechtigkeit und Liebe im
Judentum
Wenn wir als Beitrag zu dieser
Aufarbeitung nach dem Zusammenhang von Gerechtigkeit und Liebe im Judentum
fragen, müssen wir uns zunächst bewusst machen: In einigen Schriften des Neuen
Testamentes und in der nachbiblischen christlichen Theologie haben die Begriffe
Gerechtigkeit und Liebe unter dem Einfluss des analytisch-begrifflichen Denkens
des Hellenismus Schlüsselfunktionen gewonnen. Im organisch-dynamischen Denken
des biblischen und nachbiblischen Judentums dagegen haben die Worte
Gerechtigkeit und Liebe diese Schlüsselfunktion nicht. Wenn wir darum die
Bedeutung von Gerechtigkeit und Liebe im biblischen und nachbiblischen Judentum
darstellen wollen, müssen wir die mannigfachen Bedeutungsaspekte und
Beziehungen der Worte, die hier noch keine "Begriffe" im Sinne
unserer Denktradition sind, im Ganzen der meistens narrativ beschriebenen
Wirklichkeit beachten. Aber selbst wenn wir das tun, können wir eine
perspektivische Verkürzung schon allein deswegen nicht vermeiden, weil wir die
beiden Worte Gerechtigkeit und Liebe - als Begriffe - isoliert hervorheben.
Der Beziehung zwischen den
Begriffen Gerechtigkeit und Liebe im Christentum entspricht im Judentum die
Beziehung zwischen den Wortfeldern "Liebe, Gnade, Güte u.a." und
"Recht, das gerechte Handeln Gottes und des Menschen nach der
Rechtsnorm". Das Wort Gerechtigkeit (zedaqa)
gehört schon in der hebräischen Bibel und dann auch im nachbiblischen Judentum
vor allem zum ersten Wortfeld, weil es "Gemeinschaftstreue" bedeutet
und ein Verhalten eines Ich zu einem Du ausdrückt, die
miteinander verbunden sind. Ihm ist das Wort mischpat
verwandt, das auch Gemeinschaftstreue bedeutet, dabei aber mehr die Norm der
Gemeinschaft als den Partner in der Gemeinschaft im Blick hat; seine Wurzel
bedeutet "richten". Über 50mal treten beide Worte als Wortpaar
miteinander verbunden im Alten Testament auf. Das geschieht, um ein umfassendes
gemeinschaftsgemäßes Verhalten auszudrücken, das sowohl dem Du, mit dem man
verbunden ist (zedaqa), wie auch der Form der
Gemeinschaft, in der man verbunden ist (mischpat),
entspricht. Es ist darum nicht verwunderlich, dass Gerechtigkeit wie im Alten
Testament so auch im nachbiblischen Judentum meistens zum ersten Wortfeld
gehört und so mit der Liebe, der Güte und dem Erbarmen verwandt oder gar
identisch ist. Das gilt sowohl für die Gerechtigkeit Gottes wie für die
Gerechtigkeit des Menschen:
"Warum ist Gott gütig?
Weil er gerecht ist. Und warum ist Gott gerecht? Weil er gütig ist; denn er
zeigt den Sündern den Weg zur Buße" (jMakkot
31d).
"Gott sprach: Wenn ich
die Weit mit der Eigenschaft der Barmherzigkeit, erschaffe, werden die Sünder
überhand nehmen; wenn mit der Eigenschaft des Rechtes - wie sollte die Welt
bestehen! Allein siehe, ich erschaffe sie mit der Eigenschaft des Rechtes
gepaart mit der Eigenschaft der Gerechtigkeit" (Midrasch Genesis Rabba 12).
Im Bereich des menschlichen
Zusammenlebens wird das Wort Gerechtigkeit im Ausdruck "Gerechtigkeit
üben" im Judentum zur Bezeichnung der Taten helfender Liebe.
2. Gottes Gerechtigkeit und
Liebe
Für das Judentum ist die Liebe
Gottes Grund aller Liebe und Gerechtigkeit. Rabbi Akiba
sagte:
"Geliebt ist der Mensch,
denn er ist zum Ebenbild (Gottes) erschaffen worden; aus besonderer Liebe ist
ihm kundgetan, dass er zum Ebenbild (Gottes) erschaffen worden ist, denn es
heißt: zum Ebenbild Gottes machte er den Menschen (Gen 9,6). Geliebt sind die
Israeliten, denn sie heißen Kinder Gottes; aus besonderer Liebe ist ihnen
kundgetan worden, dass sie Kinder Gottes heißen, denn es heißt: Ihr seid Kinder
des Herrn, eures Gottes (Dtn 14,1). Geliebt sind die
Israeliten, denn ein kostbares Gerät ist ihnen verliehen worden; aus besonderer
Liebe ist ihnen kundgetan worden, dass ihnen ein kostbares Gerät verliehen
worden ist, durch das die Welt erschaffen wurde, denn es heißt: denn eine gute Belehrung
habe ich euch gegeben, verlasst meine Tora nicht (Spr
4,2)" (Pirqe Avot 3,14
[bei Goldschmidt 3,18]).
Ein dreifaches Heilshandeln
des liebenden Gottes ist hier das Fundament der Existenz der Menschen und
insbesondere Israels. Es begründet und ermöglicht ein Leben, in dem Liebe und
Gerechtigkeit verwirklicht werden.
Israel kann im Bund mit seinem
Gott nur bestehen, weil er ihm in Liebe die Treue hält. "Kinder seid ihr
des Ewigen, eures Gottes, auch wenn ihr nicht nach dem Willen eures Vaters im
Himmel handelt" (Siphre 49 zu Dtn 14,1). Denn "Gott ist nachsichtig gegen den
Gerechten und auch gegen den Sünder" (bBava Qamma 50a).
Gottes Liebe bestimmt auch
fundamental sein Richterhandeln. Rabbi Akiba lehrte:
"Mit Güte wird die Welt gerichtet und nicht nach der Menge der Werke"
(Pirqe Avot 3,19 nach den
ältesten Handschriften und Kommentaren).
Gottes Liebe umgreift selbst
seinen Zorn: "auch wenn der Heilige, gelobt sei er, zürnt, denkt er an das
Erbarmen" (bPesachim 87b). Gott hat nämlich
"nicht Wohlgefallen an der Vernichtung der Frevler, weil sie doch auch
seine Geschöpfe, seiner Hände Werk sind; und welcher Meister zerstört das von
ihm Geschaffene?" (Pesiqta Rabbati
40). Weil Gott alle Menschen liebt, leidet er mit den Gottlosen, die er töten muss,
damit sie sein Volk nicht vernichten. Als darum die Engel ein Lied anstimmen
wollen, weil die Ägypter im Meer ertrinken, spricht er zu ihnen: "Das Werk
meiner Hände ertrinkt im Meer, und ihr wollt vor mir das Lied anstimmen?"
(bSanhedrin 39b).
Gott ist in seiner Liebe auch
Vorbild für den Menschen. Aus Ex 34,6ff wurden folgende Worte in zahlreiche
Gebete aufgenommen: "Herr, Herr, Gott, barmherzig und gütig und langmütig,
reich an Gnade und Treue, bewahrt Gnade Tausenden, vergibt Fehl und Frevel und
Sünde und lässt Strafe nach." Diese Worte wurden schon früh unter dem
Namen "die dreizehn Middot (= Eigenschaften) des
Erbarmens Gottes" zu einem fundamentalen Text der rabbinischen Ethik. In Siphre Deuteronomium 49 heißt es
darum:
"Wie kann der Mensch mit
den Eigenschaften des Allgegenwärtigen benannt werden? Also: Wie der
Allgegenwärtige barmherzig ist, sei du barmherzig, wie der Allgegenwärtige
gnädig genannt wird, so sei auch du gnädig,... so wie der Allgegenwärtige
gerecht genannt wird, sei auch du gerecht. Der Allgegenwärtige wird fromm
genannt, darum sei auch du fromm."
Da, wie wir sehen, im Judentum
wie im Christentum Gottes Liebe Grund aller Liebe und Gerechtigkeit ist, müssen
wir die folgenden Behauptungen der Studie "Christen und Juden"
zurückweisen: "So gibt es bei Christen und Juden tiefgehende Unterschiede
in der Begründung von Gerechtigkeit und Liebe."
3. Das Tun der Gerechtigkeit
Das Tun des Willens Gottes
wird im Judentum motiviert durch die Liebe und durch den Gehorsam gegenüber
Gottes Geboten. Wenn die Situation es erfordert, können die Rabbinen durchaus
wie Rabban Jochanan ben Sakkai argumentieren:
"Bei eurem Leben, nicht
der Tote verunreinigt und nicht das Wasser macht rein, aber es ist eine
Verordnung des Königs aller Könige; Gott hat gesagt: Eine Satzung habe ich
festgesetzt, eine Verordnung habe ich verordnet; kein Mensch ist berechtigt,
meine Verordnung zu übertreten, denn es heißt: Dies ist die Satzung der Tora,
die der Herr geboten hat" (Pesiqta de Rav Kahana 40b, ed. Buber).
Diese Argumentation schließt
aber die andere nicht aus, dass der Mensch aus Liebe Gottes Geboten gehorchen
soll. Denn den Rabbinen ist bewusst, dass ein rein formaler Gehorsam
unzureichend ist. Das zeigen vor allem drei Texte, die in der rabbinischen
Tradition fundamentale Bedeutung behalten haben:
"Simon der Gerechte war
einer der Letzten der großen Versammlung; er tat den Ausspruch: Auf drei Säulen
ruht die Welt: auf der Tora, dem Gottesdienst und den Werken der Liebe' (Pirqe Avot 1,2).
"Antigonos
aus Socho empfing sie (die Tora) von Simon dem
Gerechten; er tat den Ausspruch: Seid nicht wie die Diener, die dem Herrn
dienen in der Absicht, Lohn zu erhalten, sondern seid wie die Diener, die dem
Herrn dienen ohne die Absicht, Lohn zu erhalten; nur die Ehrfurcht vor dem
Himmel sei über euch" (Pirqe Avot
1,3; "die Ehrfurcht vor Gott" schließt hier die Liebe ein oder ist
gar Umschreibung der Liebe, wie der Kontext, aber auch die ältesten Kommentare
zur Stelle zeigen).
Rabbi Jochanan ben Tortah sagte:
"Wir haben gefunden, dass
Siloh vernichtet wurde, weil man die Feiertage und
die Opfer entweiht hat (Ps 78). Wir haben gefunden, dass
der erste Tempel vernichtet wurde, weil sie Götzendienst und Unzucht getrieben
und Blut vergossen haben. Aber der Zweite Tempel wurde nur aus folgendem Grund
vernichtet: Die Zeitgenossen - wir kennen sie - haben sich zwar um die Tora
bemüht, und sie waren sehr vorsichtig, die Gebote zu halten und den Zehnten zu
geben, und alle guten Sitten waren ihnen eigen - aber sie liebten den Mammon
und hassten einander ohne Grund" (jJoma 38c).
4. Die Feindesliebe
In der hebräischen Bibel wird
die Liebesforderung nicht auf die Israeliten als "Nächste"
beschränkt, sondern sie schließt an mehreren wichtigen Stellen auch alle
Nicht-Israeliten (die Fremden) ein, mit denen die Israeliten zusammenleben
(z.B. Lev 19,33ff, Dtn 10,19). Zwar wird die
Feindesliebe nirgends generell geboten, dennoch wird sie an mehreren Stellen
konkret gefordert (z.B. Ex 23,4f, Spr 24,17; 25,21f; Hi 31,29). Und 2Kön
6,8-23 beschreibt eindrücklich, wie Feindesliebe im biblischen Israel
verwirklicht wurde.
Im nachbiblischen Judentum
finden wir das Gebot der Feindesliebe, wenn auch nicht in der Formulierung
Jesu, so doch der Sache nach in zahlreichen Traditionen aus der Zeit vor Jesus
und aus der Zeit nach ihm. Denn auch im nachbiblischen Judentum umgreift das
Gebot der Nächstenliebe alle Menschen. "Hillel sagte: Sei von den Jüngern
Aarons, Frieden liebend und nach Frieden strebend, die Menschen liebend und sie
der Tora zuführend" (Pirqe Avot
1,12). In diesem Satz sind eindeutig alle Menschen gemeint. Auch diejenigen in
Israel, die sich nicht an alle Gebote halten, werden ausdrücklich in die
Liebesforderung eingeschlossen:
"'Der Hass der Geschöpfe'
- was ist das? Man lehrt dich, dass ein Mensch nicht geneigt sein soll zu
sagen: 'Liebe die Weisen und hasse die Schüler', 'liebe die Schüler und hasse
den Am Ha'arez (der nicht alle Gebote hält) - sondern
liebe sie alle!" (Avot deRabbi
Natan 16).
Auch die Heiden werden nicht
selten ausdrücklich als Nächste bezeichnet, denen das Gebot von Lev 19,18 gilt.
So z.B. in Seder Elijahu Rabba 49:
"Du sollst deinen
Nächsten nicht bedrängen (Lev 19,13). Dein Nächster, das ist dein Bruder, dein
Bruder, das ist dein Nächster. Daraus lernt man, dass der Diebstahl am Heiden
Raub ist. Und man darf nicht verstehen 'nur deinen Bruder, denn es geht um
jeden Menschen."
Diese Universalität der
Nächstenliebe schließt an zahlreichen Stellen den Feind nachdrücklich ein:
"In keinem Fall, Bruder,
darfst du deinem Nächsten für Böses Böses auch
vergelten. Der Herr wird eine solche Überhebung rächen" (Joseph und Aseneth 28,14).
"Sage nicht: die mich
lieben, liebe ich und die mich hassen, hasse ich, sondern liebe alle!"
Oder negativ formuliert: "Wer seinen Nächsten hasst, gehört zu denen, die Blut
vergießen" (Derech Erez
Rabba 11).
Dass man dem Feind auch dann
nichts Böses tun darf, wenn er einen gefährdet, lehrt eine Geschichte aus der
babylonischen Diaspora:
"Mar Uqba
ließ Rabbi El'asar fragen: Wie habe ich mit den
Leuten zu verfahren, die gegen mich auftreten, und es steht in meiner Hand, sie
bei der Regierung anzuzeigen? Da linierte er (ein Blatt Papier) und schrieb
ihm: Ich sprach: Ich will mich hüten, mit meiner Zunge zu sündigen, ich will
meinem Mund einen Zaum anlegen, wenn ein Frevler mir gegenüber ist (Ps 39,2). Selbst wenn der Frevler gegen mich auftritt, will
ich meinem Mund einen Zaum anlegen. Hierauf ließ er ihm sagen: Sie quälen mich
sehr, und ich kann nicht gegen sie ankommen. Er ließ ihm erwidern: Sei still
vor dem Herrn und hoffe auf ihn (Ps 37,7); sei still
vor dem Herrn, und er wird sie dir haufenweise niederstrecken; verweile
frühmorgens und spätabends im Lehrhaus, und sie werden von selbst zugrunde
gehen. Dieses Wort kam aus dem Munde Rabbi El'asars,
und man legte Geniva (der zu Uqbas
Feinden gehörte) in Halseisen" (bGittin 7a).
"Die Rabbinen lehrten:
Über die, die beschämt werden und nicht beschämen, ihre Beschimpfung anhören
und nicht antworten, aus liebe handeln und sich der Züchtigungen freuen, heißt
es: 'Die ihn lieben, sind wie der Aufgang der Sonne in ihrer Pracht' (Ri 5,31)" (bGittin 36b).
Nach diesen Zeugnissen aus der
rabbinischen Tradition sei abschließend noch ein jüdisches Bekenntnis zur
Feindesliebe aus unserer Zeit zitiert:
"Friede sei den Menschen,
die bösen Willens sind, und ein Ende sei gesetzt aller Rache und allem Reden
von Strafe und Züchtigung Aller Maßstäbe spotten die Greueltaten;
sie stehen jenseits aller Grenzen menschlicher Fassungskraft, und der
Blutzeugen sind gar viele ... Darum, o Gott, wäge nicht mit der Waage der
Gerechtigkeit ihre Leiden, dass Du sie ihren Henkern zurechnest und von ihnen
grauenvolle Rechenschaft forderst, sondern lass es anders gelten. Schreibe
vielmehr den Henkern und Angebern und Verrätern und allen schlechten Menschen zugut und rechne ihnen an all den Mut und die Seelenkraft
der ändern, ihr Sichbescheiden, ihre hochgesinnte Würde, ihr stilles Mühen bei alledem, die
Hoffnung, die sich nicht besiegt gab, und das tapfere Lächeln, das die Tränen
versiegen ließ, und alle Opfer, all die heiße Liebe .... alle die durchpflüg
ten, gequälten Herzen, die dennoch stark und immer vertrauensvoll blieben,
angesichts des Todes und im Tode, ja auch die Stunden der tiefsten Schwäche ...
Alles das, o mein Gott, soll zählen vor Dir für die Vergebung der Schuld als
Lösegeld, zählen für eine Auferstehung der Gerechtigkeit - all das Gute soll
zählen und nicht das Böse."/3/
Wir sehen also, dass auch das
Gebot der Feindesliebe Juden und Christen nicht trennt, sondern für beide
verbindlich ist. Weil das Liebesgebot im Judentum vor und nach Jesus alle
Menschen umfaßt und deshalb auch die Feinde
einschließt, müssen wir die Behauptung in der Studie "Christen und
Juden" zurückweisen: (Erst und nur) "Jesus habe es durch die
Forderung der Feindesliebe von allen Schranken befreit."
5. Liebe, Gerechtigkeit und
Recht
Wir haben gesehen, dass das
Judentum "das Tun der Gerechtigkeit" als Tat des Gehorsams und der
Liebe versteht. Aber wir müssen noch abschließend nach der Beziehung der Liebe
und Gerechtigkeit zum Recht fragen. Die Tatsache, dass die Rabbinen auch die
Juristen ihres Volkes waren, die sich bemühten, das ganze religiöse, soziale
und politische Leben ihres Volkes nach dem Willen Gottes zu ordnen, hat ja das
Vorurteil entstehen lassen, als überwiege bei ihnen eine juristisch verstandene
Gerechtigkeit gegenüber der Liebe. Die unübersehbare Menge ihrer juristischen
Aussprüche kann diesen Eindruck erwecken. Wenn wir die Rabbinen fragen, worin
sie die ganze Welt des Rechtes begründen, werden wir oft auf die Liebe oder die
als Solidarität verstandene Gerechtigkeit verwiesen. Am Anfang des Mischna
Traktats Pirqe Avot heißt
es: "Seid behutsam bei der Rechtsprechung" (Pirqe
Avot 1,1). Jehoschua ben Perachja fordert: "Beurteile jeden Menschen nach
seiner guten Seite!" (Pirqe Avot
1,6), und Hillel verlangt gar: "Richte deinen Nächsten nicht, bis du in
seine Lage gekommen bist" (Pirqe Avot 2,4). Ein Richter muss sich stets bewusst sein, dass
er selbst unter dem Gericht Gottes steht und "die Hölle unter ihm
offen" ist (bSanhedrin 7a.b). Ein Richter, der
gerecht urteilt, bewirkt, dass Gottes heilschaffende
Gegenwart in seinem Volk weilt, während ein Richter, der ungerecht urteilt,
Gottes heilschaffende Gegenwart aus Israel vertreibt
(bSanhedrin 7a). Denn der Richterspruch soll nicht
vernichten, sondern schöpferisch Leben schaffen und erhalten: "Jedem
Richter, der auch nur eine einzige Stunde vollkommen gerecht richtet, dem
rechnet es die Schrift an, als sei er ein Partner des Heiligen, gepriesen sei
er, beim Schöpfungsakt geworden" (bSchabbat
10a).
Weil die Rabbinen die
Rechtsprechung als kreativen Akt verstehen, der Leben erhalten soll, bemühen
sie sich, die zivil- und strafrechtlichen Bestimmungen der Bibel so vorsichtig
und umständlich auszulegen, dass die Todesstrafe fast unmöglich gemacht wird.
So faßt man z.B. die Definition des Mörders (der sich
nach der Bibel nicht mit Geld oder einem anderen Ersatz freikaufen kann) so
eng, dass nahezu niemand die Todesstrafe fürchten muss. Nach Dtn 21,18-21 muss der .widerspenstige und ungehorsame
Sohn" getötet werden. Aber die mündliche Lehre stellt so viele
einschränkende Bedingungen auf, dass es im
Anmerkungen:
/1/ Im Gespräch mit Juden wird
ein Christ beachten müssen, dass Juden nicht selten ihr Judentum apologetisch
"eine Gesetzesreligion" oder "eine Religion der
Gerechtigkeit" nennen. Solche jüdischen Äußerungen im christlich-jüdischen
Dialog sind darin begründet, dass christliche Polemik bei Juden eine
Trotzhaltung hervorrufen kann, die sie dazu verführt, ihr Judesein
gegenüber dem Christen verkürzt darzustellen. Das von Max Frisch in seinem
Drama "Andorra" sehr eindrücklich geschilderte Syndrom, das darin
besteht, dass ein Diskriminierter das Bild der ihn Diskriminierenden für sein
Selbstverständnis übernimmt, obwohl es seiner Wirklichkeit in keiner Weise
entspricht, finden wir leider auch bei Juden im jüdisch-christlichen Dialog
über Gerechtigkeit und Liebe.
/2/ Evangelische Kirche in[
Deutschland (Hg.), Christen und Juden. Eine Studie des Rates der EKD, Gütersloh
2/1976.
/3/ Aus einem jüdischen Gebet
in einem Konzentrationslager, das dem unvergessenen Oberrabbiner von
Deutschland, Leo Baeck, zugeschrieben wird (aus Th.
Bovet, Angst - Sicherung - Geborgenheit, Bielefeld 1975).