Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  English  2005  MyAbo 
  Lexikon    Glossen     Bücher     Musik  

Vor 100 Jahren starb der Schriftsteller Anton Tschechow

Sparsamer Sprachkomponist

Von Otto A. Böhmer

Es ist eine verbreitete Annahme, dass Dichter ihre Welt in sich selbst suchen müssen. Dort ist sie reichhaltig, persönlich, ereignisschwer, dort hat sie Glanz und Düsternis, dort wird sie in Literatur umgesetzt, was freilich einen Umsatz ergibt, der als Gewinn- und als Verlustrechnung nicht immer aufgeht. Die Welt, dichterisch gespiegelt, erhält ein anderes Gewicht; es im Nachhinein, das heißt: lesend und verstehend, abzutragen, kann zweifelhaften Genuss und Anstrengung bewirken. Manchmal nämlich hat sich ein Autor zu viel vorgenommen, der Leser überhebt sich bei der Lektüre, ihm brummt der Kopf, er muss sogar Folgeschäden befürchten. Ein Dichter kann aber auch die Welt, die er beschreibt, unberührt lassen; statt als Literaturkoch, der aus mannigfaltigen Zutaten bemerkenswerte Eigenkreationen bereitet, betätigt er sich als Wiedergabekünstler, als Berichterstatter eines Geschehens, das ihm darstellenswert erscheint.

Wiedergabekünstler

Der russische Schriftsteller Anton Tschechow bevorzugte die zweite Schreib-Variante, die dem Autor Zurückhaltung empfiehlt und stattdessen die Gegebenheiten für sich sprechen lässt. Um die eigene Person machte er gern einen Bogen; sie war für ihn nicht der Rede wert. Ein Lebenslauf, den der 32-Jährige 1892 verfasste, fällt entsprechend wortkarg aus: "Geboren wurde ich 1860 in Taganrog. 1879 beendete ich das Gymnasium in Taganrog. 1884 beendete ich das Studium an der Medizinischen Fakultät der Universität Moskau. 1888 bekam ich den Puschkin-Preis. 1890 unternahm ich eine Reise nach Sachalin durch Sibirien und zurück übers Meer. 1891 unternahm ich eine Tournee durch Europa, wo ich sehr guten Wein getrunken und Austern gegessen habe ... Zu schreiben begann ich 1879 ... Ich habe auch im dramatischen Fach gesündigt, wenn auch mit Maßen ... In die Mysterien der Liebe eingeweiht wurde ich, als ich 13 Jahre alt war. Mit meinen Kollegen, Medizinern wie Literaten, pflege ich ausgezeichnete Beziehungen. Junggeselle."

Damit ist alles gesagt, was Tschechow von sich selbst für mitteilenswert hält. Sein Ich bleibt bedeckt, er nennt es sein "Departement", in dem er die dezente Selbstverwaltung probt. Dass Tschechow lieber die Welt in den Blick nimmt als sich selbst, hat nicht nur mit seiner persönlichen Disposition, sondern auch mit Herkunft und Erfahrung zu tun. Er hat praktisch keine Kindheit, seine Jugend ist hart, entbehrungsreich, freudlos; dennoch entwickelt er eine Art sonniges Gemüt. Er ist witzig, versteht sich darauf, auch der unwürdigsten Situation noch etwas Komisches abzugewinnen.

Dabei hat er im Grunde nichts zu lachen: Zu Hause herrscht der Vater, ein unablässig frömmelnder, ehemaliger Leibeigener, der seine Frau und die sechs Kinder verprügelt, vor den Reichen und Mächtigen aber buckelt und kriecht. In Taganrog, dem Geburtsort Tschechows am Asowschen Meer, betreibt er einen Kramladen, der weniger als das Nötigste abwirft; die Familie lebt in bitterster Armut, was Tschechow nie vergessen hat.

Einem um Rat fragenden Schriftsteller empfiehlt Tschechow: "Schreiben Sie doch mal eine Erzählung darüber, wie ein junger Mensch, Sohn eines Leibeigenen, seinerzeit Ladenschwengel, Kirchensänger, Gymnasiast und Student, erzogen zur Ehrfurcht vor Ranghöheren, zum Küssen von Popenhänden, zur Verbeugung vor fremden Gedanken, zur Dankbarkeit für jedes Stückchen Brot, oft verprügelt, ohne Galoschen zum Unterricht gegan-gen . . ., der ohne Notwendigkeit geheuchelt hat vor Gott und den Menschen, nur aus dem Bewusstsein seiner Minderwertigkeit - schreiben Sie, wie dieser junge Mensch tropfenweise den Sklaven aus sich herauspresst und wie er eines schönen Morgens aufwacht und spürt, in seinen Adern fließt kein Sklavenblut mehr, sondern echtes, menschliches . . ."

Tschechow hätte diese Erzählung selbst schreiben können, aber das wäre ihm zu nah am Departement seines Ich gewesen. Er wählt, mit zeitlichem Abstand, die literarische Verfremdung, um die Qualen der Kindheit in prägnante Bilder zu fassen, die mehr sind als Erinnerungsstückwerk. In seinem 1895 erschienenen Kurzroman "Drei Jahre" heißt es: "Ich entsinne mich: Mein Vater begann mich zu unterrichten oder, einfacher gesagt, zu prügeln, da war ich noch keine fünf Jahre. Er züchtigte mich mit Ruten, zog mich an den Ohren, schlug mich auf den Kopf, und jeden Morgen, wenn ich aufwachte, dachte ich zuallererst: Wird man mich heute prügeln? Zu spielen und ausgelassen zu sein war mir verboten; wir mussten zur Frühmesse und zum Mittagsgottesdienst gehen, den Popen und Mönchen die Hände küssen, zu Hause Lobgesänge lesen . . . Wenn ich an einer Kirche vorbeigehe, fällt mir meine Kindheit ein und mir wird unheimlich zumute."

Es ist erstaunlich, wie Tschechow seine unheimliche Kindheit gemeistert hat. Er lässt sich kaum je unterkriegen, wappnet sich mit scharfsichtigem Frohsinn, aus dem heraus er die Mitmenschen ins Visier nimmt und dabei stets in Deckung bleibt. In der Familie ist er der ruhende Pol; sogar der jähzornige Vater kapituliert schließlich vor der als Gutmütigkeit getarnten Charakterstärke seines drittältesten Sohnes. Anton Tschechow schließt die Schule ab und beginnt ein Medizinstudium in Moskau. Da sein Witz und seine Wortfertigkeit inzwischen bekannt geworden sind, schreibt er, und zwar in schneller Folge, pointierte Kurzgeschichten und Humoresken. Die Honorare, die er dafür erhät, sind karg, aber die Menge macht's: Tschechow wird zum Ernährer der Familie, die schon vor ihm nach Moskau gezogen ist.

Arzt und Schriftsteller

Im Mai 1884 wird Tschechow zum Doktor der Medizin promoviert; die Medizin bedeutet ihm viel; von ihr hat er gelernt und lernt er weiterhin, auch für die Literatur.

Die eigentliche Wende in Tschechows Leben tritt ein, als er im März 1886 einen Brief des damals berühmten Schriftstellers Dimitri Grigorowitsch erhält, der zur literarischen Hochkultur zählt, während Tschechow, mit Hang zum Understatement, sich bestenfalls für einen wendigen Witzblatt-Autor hält. Grigorowitsch aber sieht das ganz anders; er glaubt an Tschechows Fähigkeiten und legt ihm nahe, endlich etwas Vernünftiges daraus zu machen: "Sie haben ein echtes Talent, ein Talent, das Sie hoch über den Kreis von Schriftstellern der neuen Generation hinaushebt . . . Hören Sie jedoch auf mit dem Schnellschreiben. Ich kenne ihre finanzielle Situation nicht. Wenn sie nicht rosig ist, so hungern Sie lieber, so wie wir seinerzeit gehungert haben, und heben Sie Ihre Eindrücke für eine gereifte, vollendete Arbeit auf, die nicht in einem Zug, sondern in den glückseligen Stunden der Inspiration geschrieben wurde. Ein solches Werk wird hundertmal höher eingeschätzt werden als hundert wunderschöne Erzählungen, die da und dort verstreut in Zeitungen erscheinen . . ."

Tschechow ist begeistert. So sehr hat es ihm die Ermutigung angetan, dass er seinen nüchternen Realitätssinn für einen Moment vergisst und sich zu einem überschwänglichen Antwortschreiben hinreißen lässt: "Ihr Brief, mein guter, heißgeliebter Freudenkünder, hat mich getroffen wie der Blitz. Ich hätte beinahe angefangen zu weinen, wurde ganz aufgeregt und spüre jetzt, dass er eine tiefe Spur in meiner Seele hinterlassen hat . . . Bisher habe ich mich gegenüber meiner literarischen Arbeit überaus leichtsinnig, sorglos, unbesonnen verhalten. Ich erinnere mich an keine einzige Erzählung, an der ich länger als vierundzwanzig Stunden gearbeitet hätte . . . Wie Reporter ihre Berichte über Feuersbrünste schreiben, schrieb ich meine Erzählungen: mechanisch, halb bewusst, ohne an den Leser zu denken oder an mich selbst."

Damit soll nun Schluss sein. Tschechow ist entschlossen, ein ernsthafter, mit Bedacht arbeitender Literat zu werden. Das aber ist leichter gesagt als getan. Seine bisherige Betätigung als Humorist und Autor der kleinen Form war er nicht freiwillig, sondern aus wirtschaftlichen Erwägungen eingegangen. Tschechow hat eine Familie zu unterhalten; dieser Verantwortung kann und will er sich nicht entziehen. Es muss einen Weg geben, seiner Literatur zu größerer Ernsthaftigkeit, zu gediegener Werkdauer zu verhelfen, ohne die aktuellen Zahlungsverpflichtungen zu vernachlässigen. Auch als Arzt verdient er nicht viel; da er am liebsten die Ärmsten der Armen behandelt, verbietet es ihm sein Anstand, Rechnungen auszustellen. Er selbst ist vor Krankheit nicht gefeit, im Gegenteil: Obwohl er die Diagnose verdrängt, ahnt er längst, dass er Schwindsucht hat; gegen sie gibt es damals nur tapfere Gegenwehr, aber noch kein Allheilmittel. Tschechow hat zeitlebens mit der Tuberkulose zu kämpfen, und er weiß, dass er ihr am Ende unterliegen wird.

Allmählich werfen seine literarischen Arbeiten jedoch einen Mehrwert ab; er kann darangehen, für sich und die Seinen eine günstigere Rechnung aufzumachen. Die äußere Anerkennung nimmt kontinuierlich zu; im Herbst 1888 erhält er den angesehenen Puschkin-Preis. Tschechow gehört nun zu den angesehensten Schriftstellern Russlands. Die Botschaft, die er vermittelt, besagt, dass es keine Wahrheit gibt, die ganz zweifelsfrei wäre. Der Mensch ist für sich selbst verantwortlich, sein Wissen verhilft ihm weder zu dauerhafter Würde noch zu einer respektablen Lebensstellung auf Erden. Gerade dies aber, der Umgang mit einem brüchigen Wissen, ist unter Umständen nur die russische Variante einer speziellen Intellektuellenkrankheit, die man als aufgeklärten Überdruss, als Langeweile um jeden Preis bezeichnen könnte. In einer Erläuterung zu seinem Theaterstück "Iwanow", das 1889 uraufgeführt wird, hat Tschechow den russischen Empfindsamkeitskünstler so charakterisiert: "Seine Vergangenheit ist wunderschön, wie die der meisten russischen Intellektuellen . . . Die Gegenwart ist immer schlechter als die Vergangenheit. Warum? Weil die russische Erregbarkeit eine spezifische Eigenschaft besitzt: sie wird rasch abgelöst durch Ermüdbarkeit . . . Er spürt die physische Ermüdung und Langeweile, versteht aber nicht, was mit ihm vorgeht . . . Er sucht die Ursachen außerhalb und findet sie nicht; er beginnt, sie in seinem Innern zu suchen, und findet nur ein unbestimmtes Schuldgefühl . . . Leute wie Iwanow lösen keine Fragen, sondern brechen unter ihrer Last zusammen. Sie sind verwirrt, breiten die Arme aus, werden nervös, beklagen sich, begehen Dummheiten und verlieren schließlich, indem sie ihren schwachen, schlaffen Nerven freien Lauf lassen, den Boden unter den Füßen und treten ein in die Reihen der 'Gebrochenen' und 'Unverstandenen'."

Den Gebrochenen und Unverstandenen, die sich, selbstgefällig geworden, schließlich zum beredten Schweigemarsch des europäischen Nihilismus formieren, hat sich Tschechow, obgleich in sicherer Distanz, durchaus zugehörig gefühlt. Sein eigenes Arbeitsethos verbietet es ihm allerdings, sich einzureihen; er klagt nicht, er lässt lieber klagen. Allerdings hat die Krankheit, um die es vor allem geht, eine Ursache, die in der Seele des Menschen liegt. "Wir haben weder Nah- noch Fernziele, unser Herz ist wie leergefegt. Wir haben keine Politik, an eine Revolution glauben wir nicht, wir haben keinen Gott, wir haben keine Angst vor Gespenstern . . ., nicht einmal Angst vor dem Tod oder dem Erblinden . . . Ob dies eine Krankheit ist oder nicht - es geht nicht um die Bezeichnung, sondern um das Eingeständnis unserer Lage . . . für unsereinen ist diese Zeit brüchig, sauer, langweilig . . . Uns fehlt das 'Etwas' . . ."

Verwalter des Lebens

Anton Tschechow stirbt am 2. Juli 1904 (nach dem russisch-julianischen Kalender; nach deutscher Standesamt-Rechnung am 15. Juli) im deutschen Kurort Badenweiler. Sein Kampf gegen die Tuberkulose geht mit zwei Herzanfällen zu Ende; das Departement seines Ich wird endgültig geschlossen. "Ich bin nur der Verwalter, nicht der Herr meines Lebens gewesen", sagt er, und das gilt ja für jeden für uns, auch wenn wir uns gern herrschaftliche Attitüden zulegen.

Tschechow ist ein wunderbarer, sparsam wirtschaftender Sprachkomponist gewesen, der nicht nur das eine, oft variierte Lied von der Lethargie des denkenden Menschen schrieb, sondern auch die Wehmütigkeit nachzeichnete, die über dem russischen Land, und über dem Seelenland liegt: "Kaum ist die Sonne untergegangen und die Erde in Finsternis gehüllt, da ist die Schwermut des Tages vergessen und verziehen, und die Steppe atmet leicht, aus voller Brust. Wohl, weil das Gras im Dunkeln sein eigenes Alter nicht gewahrt, stimmt es ein heiteres und frisches Zirpen an, wie niemals am Tage . . . In der Dämmerung ist alles zu sehen, nur die Farben und Umrisse der Gegenstände sind schwer zu unterscheiden. Alles scheint anders, als es ist. Man fährt und sieht plötzlich vorn am Wege eine Silhouette stehen, die an einen Mönch erinnert, er bewegt sich nicht, hält etwas in der Hand und scheint zu warten . . . Die Gestalt nähert sich, wächst, schon hat sie die Kalesche erreicht, und man sieht, es ist kein Mensch, sondern ein Strauch oder ein großer Stein. Solche unbeweglich wartenden Gestalten stehen auf den Hügeln . . . und alle haben sie Ähnlichkeit mit Menschen und erwecken Misstrauen."

Zum 100. Todestag von Anton Tschechow, am 15. Juli 2004, gibt der Diogenes Verlag "die größte nicht-russische Cechov-Edition" heraus; sie umfasst das erzählerische Werk (10 Bände), das dramatische Œuvre (8 Bände) sowie das Frühwerk und die Briefe (jeweils 5 Bände) - allesamt herausgegeben und übersetzt von Peter Urban.

Freitag, 25. Juni 2004

Aktuell

Wo alle Speisen enden
Eine kleine Kulturgeschichte der Toilette – von der Antike bis heute
Katzen als Testfresser
Kulinarische Verlockungen und ungesunde Zusätze im Tierfutter
Handlich und haltbar
Die Teilbarkeit von Nahrung ist ein wichtiger Faktor des Food Designs

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum