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Vor 25 Jahren wurde der eisige Plutomond Charon entdeckt

Kühler Begleiter im Schattenreich

Von Christian Pinter

Am 22. Juni 1978 studiert der Astronom James Christy am Naval-Observatorium in Washington Himmelsaufnahmen, um die genaue Position Plutos zu ermitteln. Die Platten wurden mit dem 1,5-Meter-Teleskop der Außenstation in Flagstaff, Arizona, belichtet. Sie zeigen Pluto und zahlreiche lichtschwache Fixsterne erwartungsgemäß als kleine Schwärzungsflecke mit ausgefranstem Rand. Doch im Gegensatz zu den Sternchen erscheint Plutos Abbild ein klein wenig "ausgebeult".

Christy überprüft dieses Phänomen anhand von zehn Aufnahmen aus den Jahren 1978, 1970 und 1965. Auch dort findet er solche "Beulen". Offensichtlich sind das keine Plattenfehler. Vielmehr scheint sich hier ein Objekt anzudeuten, das Pluto in extrem geringem Abstand umkreist - und zwar alle 6,4 Tage einmal. Christy hat einen neuen Planetenmond entdeckt. Wie sich herausstellen wird, ist es der größte Fund im Sonnensystem seit 48 Jahren. Wie soll Christy den Pluto-Trabanten nennen? Um, wie bei anderen Monden auch, eine mythologische Figur für Pluto zu finden, müssen die Astronomen in die "Unterwelt" hinabsteigen.

Als die drei Brüder Zeus, Poseidon und Hades die Welt aufteilten, fiel Hades das Schattenreich zu. Die Unterwelt trug fortan seinen Namen. Sie ist unvorstellbar weitläufig, um die unzähligen blutleeren Seelen aufnehmen zu können. An diesem düsteren Ort, geprägt von fahler Dämmerung und fortwährendem Winter, regiert Hades mit seiner Gattin Persephone über die Verstorbenen. Das Paar gebietet somit, betont Ovid, länger als jeder andere Gott über die Menschen. Hades herrscht zudem über die verborgenen Schätze der Erde. Vielleicht setzten ihn die alten Griechen deshalb mit Plutos gleich, dem Gott des Reichtums.

Kältester Außenposten

Jahrtausende später wählten Astronomen Plutos Namen für den vermeintlich fernsten, dunkelsten und kältesten Außenposten des Planetensystems. Für seinen Begleiter sucht Christy deshalb ein Wesen aus seinem finsteren Reich. Doch die geeignetsten Hades-Bewohner sind schon besetzt. Ihre Namen wurden zur Bezeichnung von Kleinplaneten verwendet - jene zigtausend Himmelskörper, die vor allem zwischen Mars und Jupiter um die Sonne ziehen.

Plutos Gemahlin Persephone steht schon lange nicht mehr zur Verfügung, ebenso wenig wie ihre römische Entsprechung Proserpina. Vergeben sind auch die überlieferten Namen der Rachegöttinnen, der Erinyen; die Römer nannten sie Furiae - "Furien". Auch der vielköpfige Höllenhund, der den Ausgang der Unterwelt bewacht, ist als Kleinplanet Cerberus bereits an den Himmel versetzt worden. Frei sind 1978 noch alle drei griechischen Totenrichter, Minos, Aiakos und Rhadamanthys. Doch Christy zieht Charon vor - den mythischen Fährmann, der die Verstorbenen in den Hades führt.

Vergil schildert Charon als hässlichen Alten, mit ergrautem Bart, flammendem Blick und starrend vor Schmutz. Er treibt sein dunkles Floß mit der Stange an, setzt mit den Begrabenen über den Klagestrom Acheron über. Allerdings müssen sie eine Münze unter der Zunge tragen, damit er sie in Plutos Reich bringe. Wer ihm diesen Obolus nicht entrichtet, wartet ewig an Acherons Ufer. Meist wird Charon als eiskalte, unbarmherzige und übellaunige Figur dargestellt.

Der römische Dichter Lukian lässt ihn um 160 n. Chr. die Welt der Lebenden besuchen. Charon will wissen, was das ist, über dessen Verlust die Menschen so unglücklich sind, wenn sie in sein Boot steigen. Gemeinsam mit dem Götterboten Hermes (römisch: Merkur) beobachtet er ihr Treiben und den eitlen Wettkampf um Ämter, Ehren, Güter oder gar Länder. Charon spottet: Selbst wenn sie "den ganzen Peloponnes gewännen", erhielten sie am Ende "nur mit knapper Not einen Fußbreit Bodens zugemessen". Und er schließt: "Sie müssen ja doch alles zurücklassen, wenn sie mit einem einzigen Obolus zu uns kommen."

Bis 1781 hatte man sechs Planeten gekannt: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter und Saturn. Dann stieß William Herschel beim Blick durch das Teleskop unerwartet auf einen siebenten - den Uranus. Etwas beeinflusste seine Bahn. Urbain Le Verrier kalkulierte die Position des Störenfrieds und Johann Gottfried Galle stöberte dort 1846 den Neptun auf. Der begüterte Bostoner Geschäftsmann Percival Lowell glaubte, weitere Abweichungen zu bemerken. Ab 1905 machte er sich an seiner Sternwarte in Flagstaff vergeblich auf die Suche nach einem neunten Planeten. Lange nach seinem Tod setzte das Lowell-Observatorium die Fahndung fort. Als Clyde Tombaugh 1930 auf einer der Fotoplatten tatsächlich ein neues, sehr fernes Objekt entdeckte, dachte man sofort an Lowells Planeten. Er erhielt, wie erwähnt, den Namen Pluto.

Ein einziger Lichtpunkt

Um Uranus und Neptun zu stören, müsste Pluto die siebenfache Erdmasse besitzen. Doch dafür war Tombaughs Fund viel zu lichtschwach. 1950 schätzte Gerald Kuiper seinen Durchmesser auf etwa 5.900 km - kaum die Hälfte der Erde. Christys Mondentdeckung sollte Pluto abermals "schrumpfen" lassen. Damals bildeten die Teleskope das Paar Pluto/Charon nur als einen einzigen Lichtpunkt ab. Aus dem verschmolzenen Licht ließen sich kaum detaillierte Schlüsse über die beteiligten Himmelskörper ziehen. Doch zwischen 1985 und 1990 kam es zu einem spannenden Spiel in Plutos Schattenreich - zu gegenseitigen Bedeckungen.

Charon schob sich im Wochenrhythmus an Pluto vorbei, deckte ihn teilweise ab. Dann wiederum verschwand der Mond hinter dem Planeten. Entsprechend änderten sich Helligkeit und Spektrum des Lichtpunkts. Akribisch überwacht, verriet die Lichtkurve die unterschiedlichen Charakterzüge beider Welten. Damit wurde klar: Pluto ist mit 2.300 km Durchmesser ein Winzling, kaum halb so groß wie Merkur und damit untypisch klein für einen Planeten. Er wird sogar von sieben Planetenmonden, Erdmond inklusive, überflügelt. Charon belegt mit seinen 1.200 km Platz 12 in der Größenliste der Planetenbegleiter. Elf Trabanten sind mächtiger: allen voran Jupiters Ganymed und Saturns Titan, mit 5.262 bzw. 5.150 km die Riesenmonde des Sonnensystems. Auch unser Erdmond rangiert mit seinen 3.476 km noch weit vor Charon an der fünften Position.

Ein einziger Begleiter

In absoluten Zahlen berechnet, ist Charon klein. Anders sieht es aus, wenn man die Monde in Relation zu ihren Planeten setzt. Neben Jupiter und Saturn wirken selbst die Mondriesen Ganymed und Titan wie Zwerge. Sie kommen nur auf rund 4 Prozent des jeweiligen Planetendurchmessers. Unser eigener Mond kann sich mit einem Viertel der Erdgröße hingegen sehen lassen. Er wäre, immer relativ betrachtet, Rekordhalter unter den Trabanten - gäbe es nicht Charon, der sogar mehr als halb so groß ist wie sein Planet. Fazit: Mit ihrer kleinen Heimatwelt könnten fiktive Pluto-Bewohner kaum protzen - mit ihrem vergleichsweise "hünenhaften" Charon aber schon.

Pluto kennt wie die Erde nur einen einzigen Begleiter. Zwischen Planet und Mond liegen aber weniger als 20.000 km. Diese intime Nähe führt zu einem Unikum im Planetensystem, zur "doppelt gebundenen Rotation". Unser Erdmond ist nur "einfach gebunden". Frau Luna zeigt stets ihr Gesicht, entzieht die andere Seite unserem Blick. Die Erdkugel dreht sich aber unter dem Mond weg. Deshalb geht der Trabant am irdischen Himmel auf und unter.

Anders Pluto und Charon. Als wollten sie ihren Partner niemals aus den Augen lassen, weisen beide Welten einander immer dieselbe Hemisphäre zu. Weilte man auf der falschen Seite von Pluto oder Charon, erblickte man den anderen Himmelskörper nie. Er bliebe dann ständig unter dem Horizont verborgen. Wählt man die richtige, zugewandte Hemisphäre, hängt die Partnerwelt "wie angenagelt" am Sternenhimmel.

Zweimal Grönland

Von der Erde aus ist Charon kaum zu erkennen, doch von Plutos Oberfläche aus bietet er einen aufregenden Anblick. Charon erscheint dort siebenmal so groß wie der uns vertraute Vollmond. Mit freiem Auge könnte man gerade noch Details von einem Dutzend Kilometer Durchmesser auf seiner Scheibe erkennen. In 6,4 Erdentagen schieben sich die Sterne hinter Charon vorbei. Infolge der hohen Bahnneigung erblickt man ihn von Pluto aus auch in Sternbildern, die unserem Mond verschlossen bleiben, etwa im Großen Bären.

Versetzen wir uns nun auf Charons Oberfläche. Auf ihr hätte Grönland zweimal Platz. Die Mondwelt ist in fortwährendem Winter gefangen, die Landschaft aus Eis geformt. Wahrscheinlich geprägt von unzähligen Einschlagskratern unterschiedlichster Dimension. Im Gegensatz zu Pluto schwebt über Charon wohl nicht einmal die Andeutung einer Atmosphäre. Sein Himmel ist pechschwarz, von tausenden Sternen übersät. Meist ließe sich unser ferner Heimatplanet Erde erspähen - jedoch bloß als recht schwaches Sternchen.

Auf der einen Seite Charons ist die Nacht stockdunkel. Auf der anderen mildert Pluto die Finsternis. Manchmal lässt er es so hell wie in einer irdischen Vollmondnacht werden. Pluto prangt faustgroß an Charons Firmament. Er spiegelt sich geisterhaft im grauen Eis. Einmal pro Woche hebt sich, langsam und träge, die Sonne über den Horizont - als blendend heller Lichtpunkt. Charon ist jetzt 30-mal weiter von ihr entfernt als die Erde. Damit erhält er bloß ein Neunhundertstel jenes Lichts, in dem unser Planet badet. Selbst mittags ist es auf Charon nur so hell, wie in unserer frühen Abenddämmerung. Entsprechend unbarmherzig sind die Temperaturen: Sie liegen typischerweise unter minus 230 Grad Celsius.

Gemeinsam mit Pluto zieht Charon in 248 Jahren einmal um die Sonne. Dabei schwankt die Sonnendistanz stark. 1989 trennten das Duo 4,4 Milliarden Kilometer vom Zentralgestirn. Im Jahr 2113 werden es 7,4 Milliarden sein. Dann ist es auf Charon sogar noch dunkler und kälter als heute.

Pluto und Charon sind dort draußen nicht alleine. Der "Hades" des Sonnensystems wird von zahlreichen weiteren Himmelskörpern bevölkert. Gerald Kuiper vermutete 1951 hinter Neptun ein Kometenreservoir, den "Kuiper-Gürtel". Deshalb nennt man die eigentümlichen Welten, die man dort seit 1992 findet, "Kuiper-Belt-Objects", kurz "KBOs".

Planetare Möchtegerne

Heute kennt man über 600 dieser eisigen Kleinplaneten. Es dürfte aber 100.000 KBOs mit Durchmessern über 100 km geben. Die Varuna soll etwa 900 km messen. Der 2002 entdeckte Quaoar erreicht mit seinen 1.260 km bereits Charons Dimension. Bisher konnte noch kein aufgespürtes KBO mit Pluto rivalisieren. Doch das ist vielleicht nur eine Frage der Zeit.

Die "planetaren Möchtegerne" tatzen schon jetzt Plutos und Charons Ehre an. Tauchten nämlich tatsächlich KBOs von Pluto-Format auf, sollte man sie eigentlich "Planeten" nennen. Das könnte zu einer wahren "Planeteninflation" führen. Auch deshalb wollen manche Astronomen den kleinen Pluto rechtzeitig aus der Planetenliste streichen, ihn selbst zum KBO degradieren. Das Sonnensystem zählte dann nur noch acht Planeten - und Charon verlöre den Status eines Planetenmonds.

Doch Pluto ist populär. Die Öffentlichkeit reagiert auf allfällige Streichungsversuche gereizt. Also hat die Tradition bislang gesiegt. Pluto bleibt "Planet Nummer 9". Hätte man ihn allerdings nicht schon 1930, sondern erst gestern entdeckt, wäre der Winzling nie in den elitären Zirkel planetarer Welten aufgenommen worden.

Derzeit sucht man nach weiteren Plutomonden. Das neue, starke Weltraumteleskop vermag noch Trabanten von etwa einem Dutzend Kilometer Durchmesser zu erkennen. Auf Pluto sah es bisher nur wenige dunkle Flecke, vermutlich weite Einschlagskrater. Über Charons Oberfläche kann man einstweilen nur spekulieren. Denn bisher hat noch keine Raumsonde das Paar angesteuert und aus nächster Nähe porträtiert.

Das soll die Mission "New Horizons" ändern. Für einen Obolus von rund 500 Millionen US-Dollar schickt man 2006 einen Roboter auf Reisen. Die Überfahrt dauert neun Jahre. Dann wird er an Pluto und Charon vorbeischießen und hochauflösende Fotos zur Erde funken. Im Anschluss nimmt er Kurs auf ein KBO, das noch auszuwählen ist. Während die NASA-Sonde in der Weitläufigkeit des äußeren Sonnensystems verstummt, versehen Astronomen die neu entdeckten Krater auf Pluto und auf Charon mit Namen. Werden sie dazu Totengötter, Totengeister und Totenbegleiter aus verschiedenen Kulturkreisen heranziehen?

Freitag, 13. Juni 2003

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