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Das Sternbild Leier und die Bezüge zwischen Musik und Astronomie

Sommerliche Sphärenklänge

Von Christian Pinter

Noch am Tage seiner Geburt erfand der flinke griechische Götterbote Hermes, von den Römern später mit Merkur gleichgesetzt, die Leier. Er nahm den Panzer einer Schildkröte, setzte gebogene Hörner daran und komplettierte das neue Musikinstrument mit Darmsaiten. Dann stahl Hermes seinem Bruder Apollon die Rinder. Um den aufgebrachten Sonnengott wieder zu besänftigen, schenkte er ihm schließlich die erste Leier.

Orpheus

Mit dieser begleitete Apollon nun die neun Musen, wenn sie die Götterschar unterhielten. Zu ihnen zählte etwa Polyhymnia, die Liederreiche, oder Urania, die Himmlische. Kalliope, die Schönstimmige, gebar Apollon einen Sohn: Orpheus. In dessen Händen vollbrachte Apollons Leier Wunderdinge. Orpheus zog Tiere und Bäume, ja sogar Felsen in seinen Bann. Doch als der Sänger die Baumnymphe Eurydike freite, tötete der Biss einer Giftschlange die Geliebte.

In tiefer Trauer steigt Orpheus ins Totenreich hinab, wo Schatten ohne Fleisch und Gebein herumirren. Endlich steht er vor dem kalten Gott der Unterwelt und dessen Gattin. Orpheus stimmt ein Klagelied an, fleht um die Rückgabe Eurydikes. Nicht zum Geschenk will er sie, nur geborgt; in wenigen Jahren wird sie den Totengöttern sowieso gehören. Verweigert man ihm die Gnade, so will auch er das Schattenreich nicht mehr verlassen.

Die blutlosen Seelen weinen. Die Götter sind gerührt. Der Sänger bekommt Eurydike, darf beim Aufstieg zur Oberwelt aber keinesfalls zurück blicken. In Totenstille zieht das Paar hinauf, durch Dunkelheit und dichten Nebel. Die Bisswunde in Eurydikes Ferse schmerzt. Die Geliebte bleibt zurück. Besorgt wendet sich Orpheus nach ihr um. Sie streckt den Arm aus, dann entschwindet sie. Er hat sie endgültig verloren.

Viele Musiker haben das Orpheus-Thema aufgegriffen, darunter Monteverdi, Gluck oder Liszt. Die Leier des Apollon geriet sogar zum Symbol für die Musik schlechthin. Das griechische Zupfinstrument hatte zunächst vier-, dann sieben Saiten und hieß "Lyra". Daraus entwickelte sich unsere Bezeichnung "Leier". Im Mittelalter gebrauchte man diese allerdings primär für die Drehleier, später für den Leierkasten. "Leier" bezog sich nun auf die mechanische Drehvorrichtung, die auch "ausleiern" konnte. Die monotone Wiederholung der Kurbelbewegung stand zudem wohl bei Ausdrücken wie "alte Leier", "Geleier", "herleiern" oder "herunterleiern" Pate.

Muse

Die legendäre Leier des Orpheus trieb nach dessen Tod einsam durch Fluss und Meer, Klagetöne hervorbringend. Die griechische Mythologie versetzte sie endlich als Sternbild an den Sommerhimmel. Alte Bezeichnungen der Konstellation wie "Testudo" (lat., Schildkröte), "Mercurii" oder "Orphei" erinnern an ihre Herkunft. Im Englischen spricht man auch von "Harp", der Harfe. Die Leier ist das einzige der 88 international normierten Sternbilder mit musikalischem Hintergrund.

Bei den Griechen begleitete das Leier-Spiel einen Vortrag gesungener Dichtung. Von der Lyra leitet sich daher auch die "Lyrik" ab. Selbst wer Gedichtvorträge nicht allzu sehr liebt, ist heute ständig von Lyrik umgeben. Denn auch die Liedtexte der Populärmusik zählen ja dazu. Im Englischen heißen sie ganz direkt "lyrics". Das Lyra-Spiel wurde hier zwar von Gitarreklängen abgelöst, doch das braucht nicht zu stören. Schon Ovid nannte das Musikinstrument des Orpheus unter anderem "cithara" (lat., eigentlich Zither). Und davon leitet sich "Gitarre" ab.

Letztlich stammt auch das Wort "Musik" von den Griechen; es ist eng mit "Muse" verwandt. Die singenden Musen gelten bis heute als "Schutzgöttinnen" der Künste. Sie sollen Künstler inspirieren und beflügeln.

Wega

Auf alten Himmelsgloben und -karten findet man die Leier noch an die Brust eines Raubvogels geheftet. Die Araber sahen in ihrem prächtigen, leicht bläulich strahlendem Hauptstern nämlich einen herabstürzenden Adler. Nach diesem benannten sie das Gestirn: Wega, oder "Vega", zählt zu den prominentesten Lichtpunkten am Firmament. Sie schrieb mehrmals Geschichte, ist gewissermaßen ein "Star" am Sommerhimmel.

Bis ins 19. Jahrhundert war die Entfernung der Sterne unklar. Dann wagte man mit Hilfe spezieller Teleskope Messungen. Astronomen wussten, dass sie zunächst nur bei sehr nahen Sternen Erfolg haben würden. Wilhelm Struve wandte sich der hellen Wega zu. 1837 publizierte er ihre Distanz. Seine weiteren Untersuchungen ergaben jedoch abweichende Werte, sodass Struve dem korrekten Resultat misstraute und es revidierte. Deshalb wurde ein Jahr später ein Sternchen im Schwan zum ersten Fixstern mit sicher ermittelter Entfernung. Heute ist unumstritten: es sind 25 Lichtjahre, die uns von Wega trennen. In Wahrheit leuchtet sie 49-mal kräftiger als unsere Sonne.

1850 wurde Wega zum ersten Stern, dessen fotografisches Porträt gelang. 1983 stellte sie sich abermals mit einer Premiere ein: völlig unerwartet stieß der Infrarot-Satellit IRAS beim Eichen seiner Instrumente dort auf Wärmestrahlung. Sie stammt von einer Staubscheibe, die den Stern umgibt.

Ein ähnliches Gebilde muss einst auch unsere junge Sonne besessen haben. Sah man bei Wega erstmalig Indizien für die Existenz eines anderen, fremden Planetensystems?

Mittlerweile hat man mit einem besseren Verfahren tatsächlich fast hundert Planeten nachgewiesen, die um ferne Sterne ziehen. Bei Wega blieb die Suche ergebnislos. Jüngste Analysen zeigen jedoch Verdichtungen in ihrer Staubscheibe, die sich offenbar in Resonanz mit einem unentdeckten, planetaren Objekt bewegen.

Holst

Die Muse Urania ist Schutzgöttin der Himmelskunde und damit eigentlich für Astronomen zuständig. Dennoch küsst sie gelegentlich Musiker. So tauchen in den Lyrics der modernen Unterhaltungsmusik, in Blues, Jazz, Country oder Rock, immer wieder astronomische Objekte auf. Ganz oben auf der Hitliste steht dabei der gute alte Mond.

In der klassischen Musik finden sich ebenfalls Bezüge zur Astronomie. Vermutlich denkt man hier zunächst an "Die Planeten" von Gustav Holst. Der Engländer orientierte sich in seiner erstmals 1918 aufgeführten Orchestersuite allerdings am astrologisch-mythologischen "Charakter" der Planeten. Wir hören etwa von "Merkur, dem geflügelten Boten", von "Venus, der Friedensbringerin", von "Mars, dem "Kriegsbringer", von "Uranus, dem Magier" oder von "Neptun, dem Mystiker". Die Erde bleibt ausgespart.

Herschel

Ebenfalls in England wirkte einst der in Hannover geborene Wilhelm Herschel. Ab 1766 spielte er Violine, Oboe und Orgel im Kurort Bath. Es waren Werke von Corelli, Geminiani oder Haydn, aber auch Sonaten und Symphonien aus eigener Feder. Noch mehr als die Musik faszinierte Herschel der gestirnte Himmel. Sogar zwischen seinen Einsätzen eilte er in die Nacht hinaus, um ihn zu betrachten.

Der Musiker fahndete nach Doppelsternen. Praktisch alle Astronomen hielten diese im Teleskop sehr eng beieinander leuchtenden Sterne zunächst nur für ein zufälliges Spiel der Perspektive. Erst Herschel sollte nachweisen, dass diese Sonnen einander in vielen Fällen tatsächlich umkreisen. Heute ist klar: die überwiegende Zahl der Sterne tritt im Duo auf. Viele gehören sogar einem Trio oder Quartett an. "Solisten" wie unsere Sonne stellen eher die Ausnahme dar.

Fast immer braucht es ein Fernrohr, um die Mitglieder solcher Stern-Ensembles zu trennen. Nicht so beim 160 Lichtjahre entfernten Epsilon in der Leier. Ihn teilt schon das sehr scharfe Auge in zwei Lichtpunkte. Im leistungsfähigen Amateurteleskop "zerfallen" dann beide abermals in Sternpaare. Deshalb erhielt Epsilon den Spitznamen "Doppel-Doppel".

Manchmal umkreisen Doppelsterne einander so eng, dass selbst das beste Teleskop nur einen einzigen Lichtpunkt zeigt. Der Stern Beta in der Leier ist 900 Lichtjahre entfernt und erscheint uns ähnlich kräftig wie der benachbarte Gamma. Doch alle 12.9 Tage wird sein Glanz gedämpft, sinkt grob auf den Pegel von Zeta. Dieses Lichtspiel lässt sich mit freiem Auge mitverfolgen. John Goodricke, ein Zeitgenosse und Landsmann Herschels, entdeckte es.

Im Fall Beta bedeckt ein schwächerer Begleitstern rhythmisch die kräftigere Partnersonne - die Gesamthelligkeit des Systems wird dann deutlich gedrosselt. Das Duo ist so intim, dass sich die Partner zu Ellipsoiden verformen; Gas strömt vom größeren zum kleineren über.

Haydn

Auf Suche nach Doppelsternen gelang Herschel 1781 überraschend die erste Planetenentdeckung seit dem Altertum. Der Fund des Uranus machte den Musiker berühmt - und zum Hofastronomen. Bald richtete er selbstgebaute Riesenteleskope zu fernen, nebelhaften Objekten; auch zum kurz zuvor entdeckten Ringnebel in der Leier. Er trägt die Katalogbezeichnung M57. Das kleine Fernrohr zeigt dort ein mattes Scheibchen, das größere eine rauchringähnliche Struktur. Was Herschel nicht ahnte: Hier hat eine alternde Sonne ihre Gasschale fortgeschleudert. Diese jagt nun mit 70.000 km/h davon.

Im Juni 1792 erhält Herschel prominenten Besuch: Joseph Haydn befindet sich auf Konzerttournee in England. Vermutlich diskutieren die beiden Komponisten über Musik, neue wissenschaftliche Erkenntnisse und die Entstehung kosmischer Welten. Jedenfalls lässt Herschel den sechzigjährigen Gast durch sein Teleskop ins All schauen. Es ist das größte der Welt. Haydn ist erschüttert, bleibt eine halbe Stunde lang sprachlos. Dann bringt er ein stockendes "so hoch . . . so weit" hervor. Wahrscheinlich inspiriert den Österreicher dieser Blick, als er sein epochales Oratorium "Die Schöpfung" schreibt.

Kepler

Frequenzmessgeräte gab es früher nicht. Wollte man Tonintervalle messen, teilte man eine Saite, lauschte den entstehenden Klängen und ermittelte dann die jeweiligen Saitenlängen. Beim Halbieren entstand z. B. die doppelte Tonhöhe, die Oktave. Solche Experimente stellten bereits die Schüler des Pythagoras im späten 6. Jh. v. Chr. an - mit der Leier. Musik bestand für sie letztlich bloß aus Zahlen und Zahlenverhältnissen. Wohl deshalb entwickelten sie die Idee, wonach nicht der Stoff, sondern Zahlen und Harmonien das eigentliche Wesen des gesamten Kosmos bilden sollten.

Anfang des 17. Jh. nahm ein geistiger Schüler der Pythagoräer solche Experimente wieder auf: Auch Johannes Kepler untersuchte Tonintervalle, indem er eine schwingende Saite teilte. Dann forschte er nach ähnlichen Proportionen im All. Schon hatte er die Kreisbahnen der Planeten verworfen, durch Ellipsen ersetzt. Damit variierte nun aber auch die aktuelle Sonnendistanz jedes Planeten während seines Umlaufs.

Der Astronom versetzte sich im Geist auf die Sonne und sah sich von dort aus die tägliche Bewegung jedes Planeten an - sowohl in Sonnennähe, als auch in Sonnenferne. Das Verhältnis der beiden Werte schien ihm tatsächlich bestimmten musikalischen Intervallen zu entsprechen: je nach Planet etwa dem Halbton, der kleinen und der großen Terz oder der Quinte.

Für Kepler war das die Erklärung, warum Gott nicht Kreise, sondern Ellipsen als Bahnen gewählt hatte - um kosmische Harmonien erklingen zu lassen. Die Himmelsbewegungen wären nichts anderes, als fortwährende mehrstimmige Musik, verkündete der Schwabe 1619 in Linz. Seine Planeten "sangen": Saturn und Jupiter Bass, Mars Tenor, Erde und Venus Alt, Merkur Sopran. Für Menschen war dies zwar nicht hörbar; doch versuchten sie, so Kepler, beim mehrstimmigen Gesang ein wenig Anteil an der Freude Gottes mit seiner Schöpfung zu erhalten.

Muthspiel

Kepler beschrieb diese Gedanken in der "Harmonices Mundi", der Weltharmonik. Das fünfbändige Werk befasste sich mit Geometrie, Arithmetik, Musik, Astrologie und Astronomie. Knapp vier Jahrhunderte später wurde es Inspirationsquelle für den Österreicher Christian Muthspiel. Dessen Werk "Harmonices Mundi - Von der Harmonie der Welt" erlebt am 7. September 2002 um 21 Uhr in Linz Uraufführung. Streicher des Bruckner-Orchesters verkörpern bei der visualisierten Klangwolke die Sonne. Schlagzeugerinnen symbolisieren die Erde, improvisierende Stimmen Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Bei klarem Himmel blickt auch das Sternbild Leier auf die Zuhörer im Donaupark herab.

Freitag, 12. Juli 2002

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