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Vor 50 Jahren erschien J. D. Salingers "Der Fänger im Roggen"

Salinger, Jerome David: "Weltschmerz im Getreidefeld

Von Tom Appleton

Lennons Mörder liebte das Buch, ebenso John Hinckley, der auf Ronald Reagan schoss. Das Werk war zeitweilig in Australien und Südafrika verboten, und es stand auch in den USA bis in die Mitte der 70er Jahre in öffentlichen Bibliotheken unter Verschluss, obwohl es in den meisten Highschools längst als Klassiker des 20. Jahrhunderts durchgenommen wurde. Insgesamt hat es um kein anderes Buch in der amerikanischen Geschichte mehr Verbotsbestrebungen und Prozesse gegeben als um dieses. Es ist zum "Kultbuch des Jahrhunderts" schlechthin geworden: J. D. Salingers "Der Fänger im Roggen", die Geschichte des 16-jährigen Schulversagers Holden Caulfield, der - ein Ich-Erzähler voll Einsamkeit und Verzweiflung - drei Tage durch New York streift.

"The Catcher in the Rye" erschien vor 50 Jahren, am 16. Juli 1951, und erlebte sofort heftigen Zuspruch: fünf Neuauflagen in zwei Monaten. 1953 erschien die Taschenbuchausgabe im "Signet"-Verlag und verkaufte sich innerhalb von 10 Jahren dreieinhalb Millionen Mal. Die Weltauflage betrug zu diesem Zeitpunkt mehr als 10 Millionen. Sie dürfte bis heute auf mehr als das Doppelte gestiegen sein, denn der "Fänger" hat sich inzwischen als Longseller etabliert, von dem immer noch jährlich eine Viertelmillion Exemplare verkauft werden.

Reizwort "Fuck"

Unverhältnismäßig großes Geschütz führte die amerikanische Kritik gegen dieses Werk auf. Vor allem nach jenem berüchtig-

ten Vierbuchstabenwort ("Fuck") durchschnüffelten sie das Buch. (In der deutschen Ausgabe, übersetzt von Heinrich Böll, fehlt es völlig.)

Paradoxerweise konnte aber Holden Caulfield nur durch eben diesen geschwätzigen, schimpfwortdurchsetzten Jargon seine Authentizität ausweisen, denn im realen Leben sprachen amerikanische Jugendliche nun einmal genau so, wie sie der Autor Salinger hier abbildete. Besonders ein Wort war es, das zum Inbegriff für die Weltsicht dieses jugendlichen Helden und der Salinger-Generation der folgenden zwei Jahrzehnte wurde. Nicht weniger als 44-mal schleudert Holden es der Welt entgegen, um sie als "verlogen, heuchlerisch, theatralisch, unecht oder unwahr" anzuprangern: mit dem Wort "phony". Nicht ein einziger konkreter politischer Skandal der an Skandalen wahrlich nicht armen McCarthy-Ära erregte Holdens Unmut. Was ihn abstieß, war die allgemeine, die totale Verlogenheit der Welt an sich.

In dieser Welt tritt Holden wie eine zeitgemäße Reinkarnation des Heilands auf. Nicht zufällig irrt er ausgerechnet vor Weihnachten unbehaust durch die städtische Wüstenei New Yorks, nachdem er aus seiner bisherigen Herberge, dem Militärinternat Pencey Prep, hinausgeworfen worden war. So deklariert er sich seiner 10-jährigen Schwester gegenüber denn auch als jener, der schon in der Bibel als der gute Hirte auftrat, und die Kinder zu sich kommen hieß: "Ich stelle mir immer kleine Kinder vor, die in einem Roggenfeld ein Spiel machen. Tausende von kleinen Kindern, und keiner wäre in der Nähe - kein Erwachsener, meine ich - außer mir. Und ich würde am Rand einer verrückten Klippe stehen. Ich müsste alle festhalten, die über die Klippe hinauslaufen wollen - ich meine, wenn sie nicht Acht geben, wohin sie rennen, müsste ich vorspringen und sie fangen. Das wäre alles, was ich den ganzen Tag lang tun würde. Ich wäre einfach der Fänger im Roggen. Ich weiß schon, dass das verrückt ist, aber das ist das einzige, was ich wirklich gern wäre."

Holden ist ein heiliger Narr, dessen Erzählung uns, wie in allen pikaresken Romanen, aus der psychiatrischen Abteilung eines Sanatoriums erreicht.

Wer die Tonbandabschrift seines Monologs angefertigt oder zumindest in die Welt getragen hat, lässt sich leicht erraten: Holdens korrupter, in Hollywood arbeitender älterer Bruder, D. B., dessen Initialen vage an die des realen Autors Salinger erinnern. Dessen Initialen, J. D. ("Jay Dee") werden in Amerika im üblichen Sprachgebrauch als Abkürzung für "juvenile delinquent" (Jugendstraftäter) verstanden. Ob dieser "Judas" zugleich auch Holdens erster Apostel sein wollte? (Die Abkürzung "D. B." steht in den USA für einen diplomierten Bibelgelehrten.)

Man spürt, wie an dieser Stelle die Gestalt des Autors und seines Helden ineinander überzugehen beginnen. Tatsächlich verhielt sich der Autor Salinger gegenüber seinem Buch wie der Prophet zum heiligen Text: Er verweigerte sich allen auf seine Person gerichteten Publicity-Machenschaften bereits vor der Veröffentlichung. Je länger der Ruhm des Buches anhielt, umso mehr wurde er zum Eremiten. Überdies bestand Salinger auf einer schlichten, nicht einmal auf dem Titel durch Bildbeigaben verzierten Präsentation. Verlagen, die diesem Wunsch zuwider handelten, entzog er die Lizenz. Und sogar sein eigenes Konterfei verweigerte er seitdem der Öffentlichkeit. Das Bedürfnis des Autors, unsichtbar zu werden, wird noch verstärkt durch spärliche biografische Information.

Jerome David Salinger wurde am

1. Jänner 1919 in New York geboren. Der Vater, Sol Salinger, betrieb - vielleicht eher ungewöhnlich für einen jüdischen Geschäftsmann - einen Importhandel mit polnischem Schweineschinken. Die Mutter, Marie Jillich, der er die erste Auflage des "Fängers" widmete - in späteren Auflagen war die Widmung getilgt -, entstammte einer irisch-katholischen Familie.

Auf Geheiß seines Vaters besuchte der junge Jerry, ebenso wie später sein Romanheld, ein militärisches Internat, eine Art Kadettenanstalt, Valley Forge, offenbar das Modell für Pencey Prep, die Neurosenfarm im "Fänger". Anders als Holden Caulfield wurde Salinger aber nicht hinausgeworfen, auch wenn er sich in der militärischen Rolle fehlbesetzt fühlte. Einer seiner Schulkameraden erinnerte sich später: "Er bestand nur aus Haut und Knochen, mit einem Mopp schwarzer Haare auf dem Kopf, die er straff zurückgekämmt trug. Seine Uniform wirkte immer an all den falschen Stellen ausgebeult und zerknittert. Er passte nirgendwo dazu. Wenn die Kadetten sich in einer langen Reihe aufstellten, fiel er unweigerlich immer aus dem Glied."

Nach dem Schulabschluss besuchte Salinger 1937 einen Sommerkurs an der New Yorker Universität und ging dann für kurze Zeit nach Wien. Dort nahm er an Deutschkursen teil und wohnte bei einer Familie im 18. Bezirk. "Ich sollte mich in das Geschäft mit polnischen Schinken einweisen lassen", schrieb er später, in einer seiner raren autobiografischen Äußerungen, über diese Zeit. "Schließlich schleifte man mich für zwei Monate hinüber nach Bydgoszcz, in Polen, wo ich Schweine schlachtete und mit einem kräftigen Schlachtermeister durch den Schnee kutschierte, der es darauf angelegt hatte, mich zu amüsieren, indem er seine Schrotflinte auf Spatzen, Glühbirnen und seine Angestellten abfeuerte."

Salinger verließ Wien im Februar 1938, kurz vor dem "Anschluss" Österreichs an Hitler-Deutschland. Nach Amerika zurückgekehrt, gab er bald jede Absicht auf, ins väterliche Geschäft einzutreten. Stattdessen besuchte er Literaturkurse, unter anderem auch in deutscher Literatur. Seine erste Kurzgeschichte, "The Young Folks", für die er stolze 25 Dollar kassierte, erschien 1940 im berühmten "Story"-Magazin, in dem ungezählte berühmte Autoren ihre ersten Versuche veröffentlichten. Salingers Absicht zu dieser Zeit war es, ein "professioneller Schriftsteller" zu werden. Er begann, glatte, ausgefeilte Geschichten an Magazine wie "Esquire" und "Saturday Evening Post" zu verkaufen. Der "New Yorker" akzeptierte 1941 die Kurzgeschichte "Slight Rebellion Off Madison", in der Holden Caulfield erstmals auftritt, verzögerte die Veröffentlichung allerdings - bis 1946!

Verliebt in Chaplins Zukünftige

Wie viele andere junge Männer auch trat Salinger während der Kriegsjahre in die Armee ein. Er wurde zunächst in Georgia und Kentucky zur Reserve eingeteilt.

Von dort schrieb er Verehrerbriefe an seine New Yorker Freundin, Oona O'Neill, die zwar noch keine 17 war, aber in jeder Hinsicht als gute Partie galt. Denn: Sie war eine Schönheit, sie gehörte zur feinen Gesellschaft, und ihr Vater war Amerikas bedeutendster Dramatiker jener Zeit, Eugene O'Neill. Verbitterung erfasste Salinger, als er aus der Presse erfuhr, dass Oona den um fast 40 Jahre älteren Charlie Chaplin geheiratet hatte.

Man gewinnt den Eindruck, dass Salinger diese Schlappe als persönliche Niederlage aufgefasst hat. In seinen Geschichten gab es zu dieser Zeit zunehmend durchgedrehte Männer, die grundlos Gewalt gegen Frauen verübten. 1943 wurde er zum militärischen Geheimdienst bestellt und kam mit den amerikanischen Invasionstruppen zunächst nach England und dann an europäische Kriegsschauplätze, wo er durch Befragung von Zivilisten und deutschen Kriegsgefangenen Mitglieder der Gestapo auszuheben hatte. Salinger schrieb auch zu dieser Zeit, selbst unter Geschützfeuer, unermüdlich an seinen Storys weiter.

In Frankreich machte er die Bekanntschaft von Ernest Hemingway, der sich von Salingers Kurzgeschichten beeindruckt zeigte. Um den jungen Autor seinerseits zu beeindrucken, schoss er einem Huhn mit der Pistole den Kopf ab, ähnlich wie der polnische Schlachtermeister. Salinger revanchierte sich später, indem er Hemingways "In einem andern Land" im "Fänger" erwähnte. Gleich zweimal ließ er es dort von Holden als "verlogenes Buch" bezeichnen.

Nach Kriegsende blieb Salinger in Frankreich, wo er einen Nervenzusammenbruch auskurierte und eine französische Ärztin heiratete. Die Ehe wurde 1947 geschieden, und er kehrte nach New York zurück, wo er eine Reihe sehr erfolgreicher Geschichten im "New Yorker" veröffentlichte.

1950 verfilmten die Goldwyn Studios seine Kurzgeschichte "Uncle Wiggily in Connecticut" als "My Foolish Heart". Salinger war von dem tränenrührigen Film tief enttäuscht und erteilte nie wieder die Erlaubnis zur Verfilmung eines seiner Werke.

Nach der Veröffentlichung des "Fängers" schien sich Salingers Leben wie eine Fortsetzung zu seinem Roman zu gestalten. Holden Caulfield hatte die Wunschvorstellung gehabt, dass er sich "taubstumm stellen würde. Auf diese Weise brauchte ich keine verdammten, blöden, nutzlosen Gespräche mit irgend jemand zu führen. Falls jemand mir etwas mitzuteilen hatte, musste er es eben auf einen Zettel schreiben. Das würde die Leute bald langweilen, dachte ich, und dann hätte ich für den Rest meines Lebens alle Gespräche hinter mir."

Auch Salinger entzog sich allen Gesprächen. Soweit bekannt, hat er nur ein einziges Mal ein Interview gegeben: der 16-jährigen Shirley Blaney, die für die Schülerseite des "Daily Eagle" in Claremont, im US-Bundesstaat New Hampshire, arbeitete. Als das Interview groß als Aufmacher herausgebracht wurde, fühlte der Autor sich hintergangen und verweigerte seitdem alle weiteren Interviewansuchen. Reporter oder Neugierige, die ihn in der Öffentlichkeit ansprachen, ließ er gemeinhin abrupt stehen, indem er sich wortlos abwandte und die Flucht ergriff.

Und ebenso wie Holden, der in einer Blockhütte am Waldrand leben wollte, zog auch Salinger in unbevölkertes, unzugängliches Terrain und bunkerte sich dort ein. Er baute einen über zwei Meter hohen Zaun um sein Haus und machte es durch diverse Schutzmaßnahmen unzugänglich. "Man kommt nur bis zur Garage", verriet ein Nachbar einem Reporter. "Zum Haus selbst gelangt man einzig durch einen 20 Meter langen Betontunnel. Der Tunnel wird durch Hunde bewacht. Und so, wie das Haus gelegen ist, würde er Ihr Kommen schon aus meilenweiter Entfernung bemerken."

Seit 1965 ist der Autor Salinger verstummt. Ein halbes Dutzend ineinander verzahnter Geschichten um eine New Yorker Show-Business- Familie namens Glass, das in den anderthalb Jahrzehnten davor erschienen war, wirkt wie eine Ansammlung von Puzzle-Teilen, die sich vielleicht erst postum, nach der Veröffentlichung seines etwaigen Nachlasses, zu einem Gesamtbild addieren mögen.

Truman Capote, der sich gern seiner weitgestreuten Bekanntschaften (John F. Kennedy und Lee Harvey Oswald usw.) gerühmt hat, arbeitete gegen Ende der 40er Jahre ebenfalls beim "New Yorker", wo er auch Salinger kennen gelernt haben mag. Jedenfalls verbreitete er später über ihn das Gerücht, Salinger säße auf einem großen Stapel ungedruckter Geschichten mit buddhistischem Einschlag, die er nur im "New Yorker" und sonst nirgends zu veröffentlichen beabsichtige.

Interesse für Zen-Buddhismus

Das mag zum Teil zutreffen: Salingers Interesse am Zen-Buddhismus und an Zen-Vorstellungen über das Leben und die Kunst geht auf den Anfang der 40er Jahre und das Rama Krishna-Vivekananda Center in New York zurück. Aber man kann sich kaum vorstellen, dass die Redakteure des "New Yorker" so blind gewesen wären, den beträchtlichen kommerziellen Reiz einer neuen Salinger-Veröffentlichung zu verkennen. Wahrscheinlicher ist also, dass Salingers weiteres Œuvre einfach nicht mehr den Kriterien irgend einer Veröffentlichung genügte.

Seine letzte Story, unter dem Titel, "Hapworth 16, 1924", füllte die gesamte Ausgabe (!) des "New Yorker" vom 19. Juni 1965. Die Geschichte, in Form eines 60-Seiten-Briefes des siebenjährigen Seymour Glass aus dem Ferienlager, war purer Solipsismus, eine hermetische Mitteilung eines Schriftstellerkopfes an sich selbst, die alle potentiellen Leser ausschloss.

Dennoch hört der Bedarf nach echten Salinger-Werken nicht auf. 1974 erschien in Kalifornien ein Raubdruck seiner frühen, nur in Zeitschriften erschienenen, aber nie in Buchform versammelten Kurzgeschichten. Salinger ließ daraufhin nicht nur gegen den Verleger, John Greenberg, ermitteln, sondern erstattete auch Anzeige gegen 20 Buchläden, die das Werk verkauft hatten. Alte Magazine mit Salinger-Storys findet man heute nur noch selten. Meistens sind die relevanten Seiten herausgerissen. So wird man wohl bis auf weiteres warten müssen: auf den Nachlass dieses Schriftstellers, der schon zu Lebzeiten die perfekte Imitation eines bereits verstorbenen Autors geliefert hat.

Zuletzt erübrigt sich nicht die Feststellung, dass jedes "Kultbuch" die Gefahr in sich birgt, von besonders "eingeweihten" Mitgliedern des "inneren Kreises" missverstanden zu werden. So hat auch der "Fänger" seine Leser gehabt, die ihr pathologisches Literaturverständnis in eine nicht minder pathologische Tat umsetzten. Mark David Chapman, der Mörder John Lennons, zitierte zu seiner Verteidigung vor Gericht den "Fänger im Roggen". Eben deshalb, erklärte Chapman, habe er John Lennon erschossen, um ihn davor zu bewahren, unecht und verlogen - eben: "phony" - zu werden. Salinger hat auch dazu geschwiegen wie ein Grab.

Freitag, 13. Juli 2001

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