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Robert Owens Mustersiedlung New Lanark · einst und jetzt

Ein philanthropisches Paradies

Von Thomas Veser

Oftmals verbrachte der Patriarch den ganzen Tag hinter seinem massiven Schreibtisch im Hauptbüro. Weniger an den nüchternen Zahlenkolonnen seiner Kontoristen
interessiert, schätzte Robert Owen (1771 bis 1858) vielmehr die ungewöhnliche Perspektive, die sich dem Textilspinnereibesitzer durch die fünf großen Fenster des lichtdurchfluteten Raumes bot. Denn
vom ersten Stock des Hauptgebäudes aus konnte der Begründer der Genossenschaftsbewegung am Leben der südwestschottischen Gemeinschaft New Lanark teilhaben, ohne dabei gesehen zu werden.

Von Owens Schwiegervater David Dale 1785 an den Ufern des River Clyde gegründet, war New Lanark unter dem Waliser Geschäftsmann Owen nicht nur zur größten Textilproduktionsstätte Schottlands
aufgestiegen; dort verwirklichte der Sozialreformer, der aus einfachen Verhältnissen stammte und nach einer Tuchmacherlehre schon mit 19 Jahren die erste Baumwollfabrik erwarb, seine Vorstellungen
der idealen Gemeinschaft. In New Lanark sollte jeder Arbeitende einen fairen und festen Anteil an jenem Reichtum erhalten, an dessen Schaffung er beteiligt war.

Ganz im Gegensatz zu den damaligen Gepflogenheiten schickte Robert Owen die Kinder bis zu zehn Jahren nicht in die Fabrik, sondern verpflichtete sie zum kostenfreien Besuch seiner Schule, in der die
Prügelstrafe verboten war. Dort lernten die Kleinen nicht nur schreiben und rechnen, sondern auch singen und tanzen. Mussten sich britische Kinder damals normalerweise mit Lumpen begnügen, sorgte
Owen in seiner Gemeinde dafür, dass jedes Kind mindestens zwei Anzüge erhielt.

Für seine Zeitgenossen waren diese Entscheidungen um so ungewöhnlicher, als der regelrechte Ankauf von Waisenkindern und deren Einsatz in Fabriken und Bergwerken an der Schwelle zum 19. Jahrhundert
gang und gäbe war.

Aber Owen ging noch weiter. Seine Arbeitskräfte, die in den drei Textilspinnereien ihr Auskommen fanden, zahlten den 60. Teil des Lohns in eine Krankenversicherung ein. Im Genossenschaftsladen
konnten sie günstig Lebensmittel erwerben und im Notfall auch um einen Kredit ersuchen.

Mit seinen fortschrittlichen Regelungen war der aufgeklärte Philantrop seiner Zeit weit voraus; es sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis die Arbeit für Kinder unter zehn Jahren im ganzen Königreich
durch die sogenannten Fabriksgesetze eingeschränkt wurde. Die Schulpflicht führte das Vereinigte Königreich erst 1870 ein.

Robert Owens vorbildliche Mustergemeinde in einem abgelegenen Seitental des Clyde gehört zu den wenigen historischen Industrieorten, deren äußeres Erscheinungsbild fast unversehrt erhalten blieb.
Schottlands bemerkenswertestes Beispiel für die frühe Industriekultur besteht aus mehrstöckigen Fabriken und langgestrecken Wohnhäusern, umgeben von dichten Wäldern und Landwirtschaftsflächen. Sieht
man von einem Ende des vorigen Jahrhunderts hinzugefügten Gebäude ab, gehen die aus hellgrauen, unbehauenen Sandsteinen gemauerten Bauwerke mit ihren Schieferdächern ausnahmslos auf die
Regierungszeit König Georgs III. zurück.

Seit dem Niedergang des Textilgewerbes haben zahlreiche Einwohner die Gemeinde verlassen, um in die Ballungsräume zu ziehen. Heute leben knapp 200 Menschen in den modernisierten Wohnungen der
Gebäude. Die stillgelegten Textilspinnereien, New Lanarks beispielgebende Schule und der alte Genossenschaftsladen dienen seit den achtziger Jahren als Museen.

Wie eine ideale Wohnung für eine Arbeiterfamilie damals auszusehen hatte, verdeutlicht das Textilarbeiterhaus, dessen rekonstruierte Inneneinrichtung den Zeitraum von 1820 bis in die dreißiger Jahre
unseres Jahrhunderts hinein abdeckt. Robert Owen hatte Sauberkeit und Hygiene zum höchsten Gebot erhoben; zweimal jährlich mussten die Wände frisch gekalkt werden, große Fenster ermöglichten eine
ordentliche Durchlüftung. Im wöchentlichen Turnus verordnete er seinen Schutzbefohlenen die Kehrwoche: Ein Messingschild an der Wohnungstür zeigte unmissverständlich an, wer jeweils an der Reihe war.

Dienten die Straßen der Glasgower Arbeiterviertel damals als öffentliche Müllkippen, die sich bei Regenfällen in übelriechende Kloaken verwandelten, ließ Owen in New Lanark eine Kanalisation anlegen.
Abfälle wurden in den Clyde entsorgt. Damit wollte er Seuchen verhindern und Krankheiten eindämmen. Im Kaufladen setzte der Patriarch seine Genossenschafts- und Selbsthilfegedanken um. Geldgeschäfte
und Warenhandel legte Owen in eine Hand und vermied auf diese Weise, dass sich Zwischenhändler einschalteten und die Verbraucherpreise nach oben trieben. Der Verkauf von Alkohol war strikt verboten,
hielt Owen doch die Trunksucht für das Hauptübel der Menschheit.

Wirkungen in ganz Europa

Von New Lanark aus sollten seine Ideen später in ganz Europa Verbreitung finden. In Deutschland beeinflussten sie Friedrich Wilhelm Raiffeisen, den Schöpfer des landwirtschaftlichen
Genossenschaftswesens und den Kölner Domvikar Adolf Kolping, der 1849 die katholische Kolpingbewegung gründete. Viele seiner Neuerungen sind in den meisten Ländern mit sozialer Marktwirtschaft heute
selbstverständlich.

Das Warenangebot im Nebenraum des ehemaligen Coop-Ladens aus dem Jahre 1813 ist heute allerdings an den Bedürfnissen der Besucher orientiert. New Lanarks Einwohner erledigen ihre Besorgungen in den
Supermärkten der umliegenden Städte.

Robert Owen gehört zu den ersten philantropischen Unternehmern, die einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens einsetzten, um Gesundheitsvorsorge und Erziehung zu fördern. Dieses Engagement setzte
wohlgefüllte Kassen voraus und daher achtete der Spinnereibesitzer, den die Zeitgenossen in erster Linie als erfolgreichen Geschäftsmann betrachteten, auf die Steigerung der Effizienz.

Über jedem Arbeitsplatz hing eine drehbare Tafel, mit der am Abend angezeigt wurde, wie die Leistung des jeweiligen Arbeiters zu würdigen war. Owen, in dessen Fabriken das Wettbewerbsprinzip
unangefochten weiterlebte, beauftragte seine Vorarbeiter, die Spinner genau zu überwachen und dafür zu sorgen, dass die Arbeitsdisziplin eingehalten wurde.

Durch den Einsatz neuer Maschinen, die weniger Kraftaufwand erforderten und dazu beitrugen, die Zahl der Arbeitsunfälle zu verringern, versprach sich Owen nicht zuletzt eine höhere Produktion. Und
für seinen Verzicht auf die Kinderarbeit können nicht nur alleine philantropische Gründe angeführt werden: Da die Kinder ganztags betreut wurden, konnten die Frauen ohne ständige Sorge um den
Nachwuchs für die Fabrikarbeit zur Verfügung stehen.

Schon vor der Industriellen Revolution hatte die britische Bevölkerung überwiegend ein armseliges Los gefristet. Die Arbeit in den Fabriken verschlechterte die Lebensbedingungen kaum, verordnete
jedoch einen neuen Lebensrhythmus. So begann die Arbeit frühmorgens um 5 Uhr und dauerte, unterbrochen von einer 30-minütigen Pause für Vesper und Abendessen, bis 20 Uhr. In der Regel musste auch
samstags gearbeitet werden.

Während außerhalb der schottischen Gemeinde der Sonntag üblicherweise für die Reinigung der Maschinen geopfert werden musste, ordnete Robert Owen an diesem Tag einige Lektionen Erwachsenenbildung an.

Seinem 1816 gegründeten „Neuen Institut für die Charakterbildung" sollte bald die tragende Rolle zukommen. Da das umgebende Milieu den Menschen am nachhaltigsten präge, so glaubte der
Unternehmer, könnten bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen und fortwährende Bildung entscheidend dazu beitragen, einen „positiven Charakter" herauszubilden, wie er in seiner Thesensammlung „A New
View of Society" festhielt.

New Lanarks Bewohner, die bequemer lebten als ihre Schicksalsgenossen im Rest des Königreichs, brachten dem Sozialpionier zwar großen Respekt entgegen; warum der Patriarch jedoch die religiöse
Belehrung sein Leben lang entschieden ablehnte, wollte keinem Bewohner so recht einleuchten. In einer Multimedia-Schau in Mühle Nummer 3 umschreibt das fiktive New Lanarker Mädchen Annie

McLeod das von etlichen Missverständnissen geprägte Verhältnis so: „Manche Sachen haben wir beim besten Willen nicht verstanden; es gab jedoch keinen Zweifel: Er stand auf unserer Seite."

Friedliche Reformen

Hatte Owens Zeitgenosse Karl Marx, für den nur eine Revolution die radikale Veränderung der Verhältnisse herbeiführen konnte, wohlweislich darauf verzichtet, seine Ideen an der Wirklichkeit zu
messen, betrachtete der britische Sozialreformer New Lanark als Werkstatt, in der er seine Theorie umsetzen konnte. Von der linken Geschichtswissenschaft gerne als Frühsozialist oder gar Kommunist
vereinnahmt, hatte Robert Owen freilich ein anderes Ziel vor Augen: Unermüdlich reiste er durch das Land und bemühte sich bei Vorträgen, Großbritanniens Unternehmer für seine zentrale Idee, über die
Bildung von Genossenschaften einen friedlichen Gesellschaftswandel herbeizuführen, zu begeistern. Seine genossenschaftlich organisierte Gemeinschaft sollte den übergeordneten Staat nicht ersetzen,
sondern lediglich ergänzen.

Das ernüchternd schwache Echo hat ihn dazu veranlasst, noch im Alter von 54 Jahren der Nordseeinsel den Rücken zu kehren und jenseits des Großen Teichs, im US-Bundesstaat Indiana, 1824 erneut sein
Glück zu versuchen. Nach dem Vorbild der schottischen Mustergemeinde wollte Owen die von württembergischen Glaubensemigranten gegründete Siedlung New Harmony zu einer idealen Gemeinschaft entwickeln.

Widerstände der Bewohner verurteilten sein Experiment nach wenigen Jahren zum Scheitern. Während seine Kinder blieben, verließ Owen die USA als ruinierter Mann. Immerhin gelang es ihm in England,
wieder an den wirtschaftlichen Erfolg früherer Jahre anzuknüpfen. Als er im Alter von 87 Jahren die Augen für immer schloss, würdigten ihn bereits seine Zeitgenossen als maßgeblichen Vordenker der
britischen Gewerkschaftsbewegung.

Bis 1881 hielten sich die New Lanarker mit der Herstellung von Fischernetzen und Zelten über Wasser; später nützte man die Wasserräder und die 1929 eingebauten Wasserturbinen zur Erzeugung von Strom,
der heute an die staatlichen Elektrizitätswerke von Schottland verkauft wird. Mit der Schließung der New Lanarker Seilfabrik gab es seit 1968 keinen einzigen Arbeitsplatz mehr, die Einwohnerzahl sank
auf 80 Menschen. Dass ein Schrottunternehmen, das einige Jahre später die drei Mühlen günstig erwarb, Arbeitsplätze schaffen würde, erwies sich als folgenschwerer Irrtum. Erst nach mehreren Prozessen
gelang es dem „New Lanark Conservation Trust", der sich seit 1975 die Rettung des zerfallenden Industriedenkmals zum Ziel gesetzt hatte, die Mühlen zurückzuerwerben.

Der gemeinnützige Trust mit seinen überwiegend ehrenamtlich angestellten Mitarbeitern betreibt nicht nur die Museen, er zeichnete in den vergangenen Jahren auch für die umfangreichen
Restaurationsarbeiten verantwortlich. Dazu erhielt der Trust einen staatlichen Stiftungsfonds, dessen Zinserträge zusammen mit Spenden, Lotteriegeldern und dem Erlös aus dem Andenkenverkauf
allerdings kaum ausreichen.

Deshalb werden einzelne Gebäude als Firmensitze an Unternehmen vermietet, im Sommer eröffnete der Trust in Mühle Nummer 1 ein luxuriös eingerichtetes Hotel. Bisher stand Besuchern, die in New Lanark
übernachten wollten, lediglich eine Jugendherberge mit 60 Betten zur Verfügung. Fast 90 Prozent der historischen Bausubstanz sind inzwischen wiederhergestellt worden. Nahezu alle Bewohner, die New
Lanark die Treue gehalten haben, sind inzwischen Mitglied einer genossenschaftlich organisierten „Housing Association". Sie hat ein gewichtiges Wort mitzureden, wenn Häuser vermietet und verkauft
werden.

Hoffnung für die Zukunft

Von den vier Dutzend Häusern und Wohnungen, die in den vergangenen Jahren umgebaut wurden, befindet sich die Hälfte in Privatbesitz. Weil immer mehr Einwohner aus dem Ballungszentrum Glasgow die
natürlichen Reize der Clyde-Flusstallandschaft zu schätzen wissen, musste eine Warteliste angelegt werden. Allerdings will man vermeiden, dass sich New Lanark allmählich in eine Ansammlung von
Zweitwohnsitzen für großstadtmüde Zeitgenossen verwandelt.

Mehr als 300 Bewohner kann New Lanark nach Einschätzung des Trusts nicht verkraften, da der verfügbare Platz nach den heutigen Vorstellungen von Wohnqualität nicht ausreicht. Während der Blütezeit
der Gemeinde im frühen 19. Jahrhundert lebten dort knapp 3.000 Menschen. Die New Lanarker haben seit einigen Jahren wieder Mut geschöpft. Der 64-jährige John Smith, bis zu seiner Pension vier
Jahrzehnte lang örtlicher Postmeister, verdient sich heute als Museumswärter ein Zubrot. Wenn er die Arbeitsgänge an den Webmaschinen aus der Vorkriegszeit erklärt, merkt man schnell, dass er vom
Fach ist. Tatsächlich hat John Smith diesen Beruf von der Pike auf erlernt.

Textilien herzustellen war dem Gesellen, der seine Vaterstadt nie verlassen wollte, indessen nicht vergönnt; kurz nachdem er seine Lehre beendet hatte, schloss New Lanarks letzte Textilfabrik ihre
Pforten.

Freitag, 25. Februar 2000

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