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Bei der Frankfurter Buchmesse vor 375 Jahren beeinflusste ein Tabellenwerk voller Zahlen das Weltbild

Fundamente des Universums

Von Christian Pinter

Die Frankfurter Buchmesse im Herbst 1627 ist für Johannes Kepler ein besonderes Ereignis. Hier stellt er jenes Werk vor, dessen Vollendung er 26 Jahre zuvor versprochen hat. Es besteht vor allem aus Zahlen und Tabellen - dennoch hat es die Macht, die Vorstellung vom Aufbau des Universums entscheidend zu verändern.

Im frühen 17. Jahrhundert stehen drei Kosmologien zur Debatte. Für die meisten Gelehrten ruht die Erde starr im Mittelpunkt der Welt. Sie dreht sich nicht einmal um ihre eigene Achse. Der gesamte Kosmos, bestehend aus Sternen, Sonne, Mond und Planeten, rast jeden Tag um die Erde herum. Das entspricht dem Eindruck des irdischen Betrachters: Gestirne gehen anscheinend täglich auf und unter.

Zwischen den Sternen ziehen die Planeten ihre Bahnen. Manchmal kehren sie die Laufrichtung um, zeichnen gemächlich Schleifen ans Firmament. Hält man an einer zentralen Erde fest, braucht man komplizierte Hilfskonstruktionen, um das zu erklären. Hipparch hat im 2. Jahrhundert vor Christus, Claudius Ptolemäus im 2. Jahrhundert nach Christus ein solches Weltmodell beschrieben.

1543 versetzt Nikolaus Kopernikus die Erde selbst in Rotation. Die Sterne brauchen nun nicht mehr um sie herum zu eilen. Sie können im Raum verharren. Die Erde kreist außerdem um die Sonne, wie die fünf anderen bekannten Planeten auch. Die Planetenschleifen am irdischen Himmel entstehen hier durch die Bewegung des Betrachters selbst.

"Träger Koloss"

Kaum jemand kann sich vorstellen, wie der "schwere träge Koloss" Erde einer Bewegung fähig sein soll. Außerdem lässt Gott bei Josua im Alten Testament ausdrücklich die Sonne mitten am Tage stillstehen: Also ist sie sonst offenbar in Fahrt - und nicht die Erde. Zunächst nennt Luther Kopernikus einen "Narren". Später wird Rom seine Lehre verbieten.

Tycho Brahe sucht ab 1578 einen Ausweg, der zum Wortlaut der Bibel passt. Der adelige Däne rückt die Erde wieder in die Mitte. Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn kreisen hingegen um die Sonne. Und die zieht mit dem planetaren Tross täglich um die ruhende Erde. Vor allem die Jesuiten, an Wissenschaft interessiert, aber auch Speerspitze der Gegenreformation, werden Tychos Kompromiss attraktiv finden.

Wer hat Recht: Ptolemäus, Kopernikus oder Tycho? Noch gibt es keine Möglichkeit, auch nur eine der drei Kosmologien auszuschließen. Man kann bloß Vorausberechnungen des Planetenlaufs auf der Grundlage verschiedener Weltbilder herstellen - und die Vorhersagen dann mit den tatsächlich am Firmament beobachteten Planetenbewegungen vergleichen. Vermutlich liefert das zutreffende Modell auch die besten Prognosen.

Den planetaren Lauf kalkuliert man damals vor allem mit Hilfe zweier Werke: Die Alfonsinischen Tafeln, im 13. Jahrhundert von König Alfons X. von Kastilien in Auftrag gegeben, basieren auf dem alten System des Ptolemäus; die Prutenischen ("preußischen") Tafeln von 1551 schon auf Kopernikus. Sie sind genauer, weisen aber dennoch irritierende Fehler auf. Ein auf Tychos Kosmologie fußendes Tafelwerk existiert nicht.

Tycho Brahe hat auf der Insel Ven im Öresund das größte Observatorium Europas eingerichtet und dort hervorragende Messungen der Planetenpositionen angestellt. Nach Streit mit dem dänischen König pilgert er durch Europa, landet schließlich in Prag. Brahes Kompromissmodell bedarf mathematischer Untermauerung, um es mit seinen Beobachtungen in Einklang zu bringen. Dazu holt er Johannes Kepler. Der Schwabe hat sich in Graz einen Namen als Mathematiker gemacht. Seit August 1600 ist er mitsamt seiner Familie auf der Flucht - die Protestanten sind aus der Steiermark verbannt worden.

Kaiserlicher Mathematiker

In Prag residiert der zutiefst astrologiegläubige Kaiser Rudolf II. Ihn interessieren Horoskope verstorbener Herrscher ebenso wie etwa solche über die politischen Aussichten des Türkischen Reichs. Um sie zu erstellen, scheinen sehr exakte Berechnungen der Planetenstellungen in Vergangenheit und Zukunft nötig. Deshalb gibt Rudolf II. im September 1601 Brahe und seinem Assistenten Kepler den Auftrag, ein neues, verlässlicheres Tabellenwerk zu schaffen. Diese Rudolfinischen Tafeln sollen nach Tychos Modell berechnet werden.

Wenige Wochen später stirbt Brahe. Kepler folgt ihm als kaiserlicher Mathematiker nach. Zunächst gibt es Auseinandersetzungen mit Tychos Erben, dann erhält Kepler Zugang zum Beobachtungsschatz des Dänen. Damit möchte er allerdings nicht Brahes Kosmologie, sondern vielmehr die Lehre des Kopernikus verfeinern. Kopernikus hatte die Planeten auf Kreisen um die Sonne ziehen lassen. Das Studium von Tychos Marsbeobachtungen zeigt Kepler jedoch, dass Ellipsen die Planetenorbits sehr viel besser beschreiben. Ein Durchbruch: 1609 formuliert der Mathematiker seine beiden ersten Planetengesetze.

Matthias wird neuer Kaiser. Der "Bruderzwist in Habsburg" lässt um das Ende der Freiheiten fürchten, die Rudolf Andersgläubigen gewährt hat. Mittlerweile 40 Jahre alt und Witwer, tritt Kepler 1612 in den Dienst der protestantischen Stände Oberösterreichs.

Hexenprozess

In Linz unterrichtet er Mathematik, Philosophie und Geschichte. Er heiratet die 23-jährige Susanne Reuttinger. Sein Buch zur Volumenberechnung erscheint beim Drucker Johannes Planck; der Protestant hat sich 1615 in Linz niedergelassen. 1618 folgt Keplers Grundriss der kopernikanischen Astronomie. Er wird von Rom sofort verboten.

Seit 1615 ist Keplers Mutter in Württemberg in einen Hexenprozess verwickelt. Sechs Jahre lang kämpft der kaiserliche Mathematiker um ihr Leben, erreicht endlich ihre Entlassung aus dem Kerker von Güglingen. In dieser schwierigen Zeit gibt er die fünf Bücher der Weltharmonik heraus, deren letzter Band auch das dritte keplersche Planetengesetz beinhaltet.

Nun hat er die Fundamente für genaue Berechnungen im Sonnensystem gelegt. Doch die Fertigstellung der einst versprochenen Rudolfinischen Tafeln erfordert einen gewaltigen Rechenaufwand. Zu Keplers Freude erleichtert die Erfindung der Logarithmen durch den schottischen Mathematiker John Napier die Arbeit. Der Schwabe kalkuliert die Logarithmenwerte neu und publiziert zunächst eine Einführung in die Logarithmenkunde.

Dann fasst er endlich auch den Druck des Tafelwerks ins Auge. Doch wie soll er ihn finanzieren? Rudolfs Nachfolger Matthias starb 1619. Nun regiert Ferdinand II. Als Erzherzog hatte er die Protestanten seinerzeit aus Graz vertrieben. Dennoch reist Kepler 1624 von Linz nach Wien, bittet um Geld. Seit sechs Jahren wütet der Dreißigjährige Krieg. Das Reich muss Soldaten bezahlen, nicht Mathematiker. Für Keplers Ausgaben sollen die Städte Nürnberg, Kempten und Memmingen aufkommen. Nürnbergs Kassen sind leer, die beiden anderen halten ihn hin. Die Geldjagd dauert fünf Monate. Am Ende kann Kepler wenigstens Papier kaufen.

Der Druck, vom Autor aus eigener Tasche bezahlt, beginnt. Längst haben bayerische Truppen und Jesuiten die Gegenreformation nach Linz getragen. Protestantische Lehrer werden ausgewiesen. Als kaiserlicher Beamter entgeht Kepler diesem Schicksal. Dank seiner Fürsprache bleibt auch der Drucker verschont. Doch im Mai 1626 erheben sich die geplagten Bauern. Sie belagern Linz zwei Monate lang. Dabei brennt die Druckerei ab, mitsamt den fertig gestellten Bögen.

Hier ist an eine Herausgabe nicht mehr zu denken. Mit kaiserlicher Erlaubnis verlässt Kepler im Herbst 1626 Österreich. Er lässt die Familie in Regensburg zurück und bezieht Quartier in Ulm - gleich gegenüber von Jonas Saur. Dort startet der Druck erneut. Kepler überwacht Saurs Arbeiten, liest Korrekturen, macht Einfügungen, streitet. Die Kosten explodieren, sind doppelt so hoch wie zunächst angenommen.

Für das Titelkupfer des Tafelwerks hat Kepler gemeinsam mit Wilhelm Schickart eine besonders kunstvolle Darstellung entworfen. Sie zeigt den Tempel der Urania, Muse der Astronomie. Die ältesten Tempelsäulen bestehen aus Baumstämmen; dann folgen solche aus Steinquadern, aus Ziegeln und schließlich ganz elegante mit hübschem Kapitell. Das symbolisiert die Entwicklung der Himmelskunde.

Mantel und Mütze

Im Hintergrund visiert ein babylonischer Priesterastronom die Sterne mit den Fingern seiner Hand an. Links steht der alte griechische Astronom Hipparch, rechts sitzt der berühmte Ptolemäus. Vorne blickt ein nachdenklicher Kopernikus zu Tycho Brahe. Der Däne weist zu seinem eigenen Weltentwurf, der an die Decke des Tempels gezeichnet ist. Die Männer sind von typischen Beobachtungsinstrumenten ihrer Zeit umgeben.

Am Dach stellen Frauenfiguren unter anderem Magnetismus und Logarithmen dar. Die "Geometria" trägt ein Schild mit der keplerschen Ellipse. Am Sockel entdeckt man eine Karte von Tychos Insel Ven. Daneben tut sich der Blick in das kerzenbeleuchtete Arbeitszimmer Keplers auf. Dicker Mantel und Mütze schützen ihn vor der Kälte. Auf das Tischtuch sind Zahlen gekritzelt, als müsste er mit Papier geizen. Vor dem Mathematiker ruht ein Modell der krönenden Tempelkuppel: Wohl ein Hinweis des Autors auf seine eigenen Leistungen um den Fortschritt der Wissenschaft. Über dem Musentempel schwebt noch der Reichsadler, lässt Geldstücke aus dem Schnabel fallen. Nur ein paar wenige landen auf Keplers Arbeitstisch.

Im September 1627 liegen 1.000 gebundene Exemplare mit je 568 Seiten vor - eine ungewöhnlich hohe Auflage für ein wissenschaftliches Werk. Kepler schließt sich Ulmer Kaufleuten an, die zur Frankfurter Buchmesse aufbrechen. Der kaiserliche Bücherkommissar muss allerdings erst den Preis festsetzen. So verzögert sich der Verkauf bis Oktober.

Für 3 Gulden erwirbt der Leser ein Werk voller Tabellen. Sie gestatten es, Termine von Sonnen- und Mondfinsternissen abzuleiten. Das freut auch Jesuitenmönche in Fernost, die dort mit präzisen astronomischen Voraussagen die Überlegenheit des Christentums demonstrieren wollen. Das Buch enthält eine Liste mit den geografischen Längen und Breiten von über 500 Orten, erleichtert die Navigation; Seefahrer und Entdecker werden darauf zurück greifen. Astronomen und Astrologen interessieren sich hingegen für die Planetenpositionen, die man mit Hilfe der Tafeln kalkulieren kann. Sie sind um ein Vielfaches genauer als jene älterer Werke.

Horoskope für Wallenstein

In Prag überreicht Kepler das Buch Ferdinand II. Der Kaiser bietet ihm etwas an - vielleicht eine Professur in Wien. Doch dazu müsste Kepler katholisch werden. Toleranter zeigt sich Herzog Albrecht von Wallenstein, der zu Füßen des Hradschin residiert. Er hat sich schon Horoskope von Kepler erstellen lassen und möchte den Schwaben nun ganz in seinen Dienst stellen. Dafür verspricht der General, die Schulden des Reichs gegenüber Kepler zu begleichen. Es sind mittlerweile 12.000 Gulden. Der Mathematiker siedelt mit Frau und Kindern nach Sagan in Schlesien um. Rasch holt ihn die Gegenreformation ein. Wallenstein lässt die Jesuiten ins Land.

Die Familie gerät in völlige Isolation. Alternativen scheinen rar. Es existierten nur Orte, die bereits zerstört sind, oder solche, die noch zerstört würden, hält Kepler verbittert fest. 1630 wird Wallenstein abgesetzt - ohne die Reichsschuld bezahlt zu haben. Kepler bricht nach Regensburg auf, um abermals Geld einzutreiben. Kaum angekommen, befällt ihn hohes Fieber. Der Kaiser sendet Genesungswünsche. Den 59. Geburtstag erlebt Kepler jedoch nicht mehr. Da Protestanten in Regensburg nicht beerdigt werden, setzt man ihn am 17. November 1630 vor den Stadtmauern bei. Dort findet später auch seine Gattin Susanne die letzte Ruhe. Nachdem sie in Prag und Linz um Gnadengeld gebeten hat, stirbt sie 1636 in Armut.

Der Dreißigjährige Krieg fordert Millionen Tote. In den Wirren wird auch Keplers Grab zerstört. Seine Rudolfinischen Tafeln bleiben aber noch ein Jahrhundert lang Grundlage für astronomische Berechnungen. Ihre Zuverlässigkeit beeindruckt. Sie gerät zum schlagenden Argument für die Kosmologie des Kopernikus, die dem Werk ja zugrunde liegt. Das neue Weltbild kann jetzt, entscheidend verbessert durch die Einführung der keplerschen Ellipsen, zum Siegeszug antreten.

Freitag, 04. Oktober 2002

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