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Ein Rundgang durch die geschichtsträchtige Hauptstadt des Banat

Temesvar hieß früher "Klein-Wien"

Von Walter M. Weiss

In gewissem Sinne fühlt man sich als Österreicher in Timisoara wie zu Hause: Denn man entdeckt auf dem Stadtplan eine Prinz-Eugen-Straße, eine Theresienbastei, eine Josefs- und eine Elisabethstadt. Der Dom trägt die architektonische Handschrift Fischer von Erlachs. Die Oper wurde nach Plänen von Fellner und Helmer, den nimmermüden k. u. k. Monopolisten für gründerzeitliche Theaterbauten, errichtet. Und überhaupt meint man sich inmitten der barocken Kirchen und Palais, der altertümlichen Häuserzeilen und Jugendstilfassaden in eine Romankulisse von Doderer, Svevo oder Joseph Roth versetzt. Ja, die Stadt erscheint einem wie eine charmante Melange aus Graz, Lemberg, Olmütz, Triest und der Wiener Vorstadt.

200 Jahre Habsburg-Einfluss

Timisoara alias Temesvar alias Temeschburg, die Hauptstadt des Banat, stand 200 Jahre lang unter habsburgischem Einfluss. 1716 hat Prinz Eugen sie den Osmanen entrungen. Erst 1919/20 fiel sie infolge der Pariser Friedensverträge an Rumänien. Noch im 18. Jahrhundert wurde sie radikal modernisiert, bekam anstelle der Basare, Moscheen und türkischen Bäder ein westliches, rechtwinkeliges Straßennetz mit repräsentativen Verwaltungsbauten, Schulen, Museen, Theatern und Fabriken sowie weitläufige Parks und - ihrer strategischen

Bedeutung entsprechend - eine neue, mächtige Festung, in der übrigens während der napoleonischen Kriege der Kronschatz der Habsburger aufbewahrt wurde. Auch der Bega-Kanal wurde damals gegraben, dank dem die Stadt heute von der Nordsee und vom Schwarzen Meer aus direkt per Schiff erreichbar ist.

Parallel dazu erfolgte die Kolonisierung des Banat. Bauern aus dem Westen, vor allem aus deutschen Landen, besiedelten die flache, überaus fruchtbare Region, während sich (ebenfalls vorwiegend deutsche) Handwerker, Kaufleute und Beamte in der Stadt niederließen. Aus jener Zeit stammt Temesvars Beiname "Klein-Wien". Das friedliche Neben- und Miteinander verschiedener Ethnien und Konfessionen ist heute noch ein Wesenszug der Stadt. Unter den rund 450.000 Einwohnern finden sich etliche tausend Ungarn, Deutsche, Serben, Roma und auch eine kleine jüdische Gemeinde. Wie ein Symbol für das multikulturelle Selbstverständnis erscheint das Opernhaus, unter dessen Dach - ein europaweites Unikum - drei verschiedensprachige Theater agieren, ein rumänisches, ein ungarisches und ein deutsches.

Ein Blick vom Opernbalkon hinab auf die Piata Victoriei, den Siegesplatz, ruft aber auch dramatische Tage in Erinnerung: Mitte Dezember 1989 ergriffen hier erstmals

Revolutionäre öffentlich das Wort. Sechs Tage lang boten damals

die Menschen in Timisoara dem Ceausescu-Regime die Stirn, über hundert verloren ihr Leben, ehe sich im vorweihnachtlichen Furor das Land vom quälenden Joch

der kommunistischen Diktatur befreite. In tiefere Schichten der Geschichte lässt sich im nahegelegenen Hunyádi-Schloss vordringen. Dort lädt das Banat-Museum zu virtuellen Reisen in die fernen Zeiten der Daker und Römer und walachischen Woiwoden, und in die weniger fernen der rumänischen Könige Ferdinand, Carol und Michael sowie deren kommunistische Nachfolger.

Timisoara ist freilich keineswegs auf seine reiche und turbulente Vergangenheit fixiert. Gewiss, ein Großteil seiner Bausubstanz wird wohl noch ein Weilchen der Renovierung harren. Viele seiner Straßen mögen noch ähnlich holprig sein wie der Weg zu breitem und nachhaltigem Wohlstand. Doch das Frühlingserwachen nach den langen Wintern ist jedes Jahr deutlich zu fühlen und zu sehen: Auf dem baumbestandenen Corso zwischen Oper und orthodoxer Kathedrale wogt geradezu mediterranes Treiben, überragt von einer bronzenen Kopie der Kapitolinischen Wölfin, die Rom in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts den Rumänen als Allegorie ihres lateinischen Wesens geschenkt hat. Restaurants und "Cofeterias" verströmen lautstarke Musik und Lebensfreude. Souvenirshops, Kunstgalerien und Markenboutiquen wecken und stillen westliche Konsumlust. Und wenn sich Anfang Juli, wie seit ein paar Jahren üblich, im Rahmen des "Festivalul Saltimbancilor" die Plätze und Gassen der Altstadt drei Tage lang mit Musikern, Gauklern und Komödianten, mit ambulanten Kunsthandwerks- und Imbissständen füllen, wenn Jung und Alt bis spätnachts unter freiem Himmel flanieren und flirten, feiert die - immer noch als neu empfundene - Ungezwungenheit fröhliche Urständ.

Timisoara ist seit alters fortschrittlich und weltoffen. Stolz erzählen die Touristenführer, dass man hier am 12. November 1884 die erste elektrische Straßenbeleuchtung Kontinentaleuropas installierte und 1869 - als fünfte Stadt der Welt! - eine Pferdeeisenbahn in Betrieb nahm. Bereits 1751, ein Vierteljahrhundert vor dem vielgepriesenen Alten AKH in Wien, wurde hier ein bürgerlich-städtisches Krankenhaus eröffnet, und um 1860 die erste jedermann zugängliche Leihbibliothek der Monarchie. Der seinerzeitige Pioniergeist ist durchaus lebendig geblieben: So weist der Landkreis Timis, dessen Verwaltungszentrum Timisoara bildet, unter Rumäniens Regionen nicht zufällig die geringste Arbeitslosenrate auf. Etliche Westfirmen, von ABB über Continental und Coca Cola bis Philips, haben bereits Produktionsstätten errichtet. Der Wechsel zur Marktwirtschaft ist hier am weitesten gediehen. Wenn auch die Mitgliedschaft in der EU noch ein paar Jahre auf sich warten lassen dürfte: Die vor kurzem erfolgte Aufhebung der Visumpflicht hat das Land der Schengen-Zone merklich näher und auch den Tourismus ein wenig auf Touren gebracht.

Ein deutliches Indiz: 1989 besaß Timisoara gerade sechs Hotels. Heute sind es schon 28. Es scheint sich also allmählich herumzusprechen, dass ein Ausflug in die kaum mehr als 400 Flugkilometer von Österreichs Grenze entfernte Stadt nicht nur aus geschäftlichen, sondern auch aus kulturgeschichtlich-urlauberischen Gründen lohnt. Wobei je nach Zeitvorrat und Neugier verschiedene Besichtigungsvarianten zur Auswahl stehen. Am aufschlussreichsten ist natürlich eine mehrtägige Banat-Rundreise. Sie könnte unter anderem eine Fahrt mit der "kleinen Semmeringbahn" von Oravita nach Anina/Steiersdorf und an Bord eines Donauschiffes durch das Eiserne Tor umfassen; weiters, vorbei an der wahren Heimat des Johann Strauß`schen Zigeunerbarons bei Bazosu Nou/Neu-Bazos, in die altehrwürdigen Kurorte Lugoj und Baile Herculane/Herkulesbad, zu den orthodoxen Klöstern mit ihren Holzkirchen in der Gegend von Faget und, weiter südlich, in das Semenic-Gebirge mit seinen malerischen deutsch-böhmischen Dörfern.

"Der schönste Platz der Welt"

Wer bloß einen einzigen Tag erübrigen kann, sollte einen Ausflug in die Schwäbische Heide, das brettlebene Ackerland westlich von Timisoara, unternehmen. Eine Zeitreise in die bäuerliche Welt unserer Großeltern - in ein ärmliches, aber geruhsames, von Gänsen, Störchen, Schaf- und Schweineherden bevölkertes Idyll. Nebenbei kann man in Csatád/Lenauheim dem Geburtshaus von Nikolaus Lenau, und in Sannicolau Mare/Groß-Sankt Nikolaus der Gedenkstätte für Béla Bartók, Ungarns hier geborenen Meisterkomponisten, eine Visite abstatten.

Ganz eilige Geschäftsreisende sollten dennoch nicht versäumen, die Stadt zu Fuß zu erkunden. Sollten zum Beispiel vom Zentralgarten entlang dem Bega-Kanal bis in den Fabrikpark spazieren. Oder über den Corso lustwandeln, anschließend auf der Terrasse des prächtig renovierten Art Nouveau-Restaurants Lloyd, das einst Café Wien hieß, eine Melange schlürfen, und hernach über den Freiheitsplatz und durch das alte Judenviertel zum Domplatz gehen. Von diesem wunderbar weiten, von Barockfassaden gesäumten, urbanen Anger, behauptet Wiens Staatsopern-Direktor Ioan Holender mit der Kennerschaft und Überzeugungskraft des gebürtigen Temesvarers, er sei ohne Zweifel "der schönste Platz der Welt".

Freitag, 05. November 2004

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