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01.12.2002
Strategie von unten
Was LUFTKRIEG bedeutet, kann man von denen her beurteilen, die in den Kellern oder Höhlen sitzen und von denjenigen, die Städte nach dem Angriff löschen sollen/ Der Historiker Jörg Friedrich hat die BOMBEROFFENSIVEN im 2. Weltkrieg und die Praxis des «Luftschutzes» gründlich erforscht. Alexander Kluge im Gespräch mit Jörg Friedrich

Friedrich Der Luftkrieg treibt das Opfer unter die Erde, in den Keller. Es werden Stollen gebohrt in Bergwerke. Es werden Gräben gezogen in Städten wie Düsseldorf, wo der Grundwasserspiegel so hoch ist, dass es keine ordentlichen Keller gibt und die Leute ziehen Splittergräben durch die Stadt, in denen sie sich bergen können. Sie suchen, wie Engerlinge, den Schutz der Erde. Der Bomber fliegt in 6.000 Meter Höhe. Das ist eine ungeheure Apparatur, die auf diesen Engerling herabstürzt. In 9.000 Meter Höhe schwebt Gottvater, das ist der Masterbomber. Der Masterbomber steht mit seinen Erzengeln im Funksprechverkehr. Dann kommen die Beleuchter, die veranstalten das Jüngste Gericht.

Kluge Auch tags? Sie machen auch tags ein Ziel aus, oder nur nachts?

Friedrich Nein. Man fliegt nachts. Man fliegt nachts, weil sonst Gottvater und seine Erzengel die Opfer der Jäger sind. Sie suchen die Dunkelheit, sie wollen unverletzt sein, sie wollen immun sein, sie wollen nur das Fleisch am Boden zerstören, in Staub und Wasser. Um dem Jäger zu entfliehen, fliegen sie nachts, aber sie haben Schwierigkeiten zu erkennen, was sie vernichten. Die Erzengel sind die Beleuchter, sie tauchen das Schlachtfeld in ein gleißendes Licht.

Kluge Wie Weihnachtsbäume.

Friedrich Sie fliegen in 6.000 Metern Höhe. Die unterste Sohle ist der Markierer. Der Markierer ist derjenige, der mit roten und blauen Farben genau die Areale kennzeichnet. Die fliegen so schnell, dass – mit Sekundenverzug – sie über so eine Stadt weg sind. Man wollte mal Nürnberg treffen und ist in der nähe von Stuttgart in einem kleinen Örtchen gelandet und hat dies mit Hunderten von Tonnen Bomben plattgemacht. Gottvater hatte sich vertan. Er hatte eine Flussmündung falsch identifiziert, auch das Dörfchen war an einer Flussmündung. Und dann geht eine Kuhherde den Weg allen Fleisches. Durch das Zusammenwirken der Bomben mit den Elementen entsteht ein einzigartiges Phänomen, das die Generalstäbe der angloamerikanischen Luftwaffe erst wahrnehmen, nachdem es passiert ist, in Lübeck beipielsweise. Da gibt’s überhaupt keine Rüstungsindustrie, man kann aber die Stadt 1943 gut anfliegen. Sie besteht aus verschachtelter Altstadtstruktur. Da gibt es keine Brandmauern, da gibt es wenig Grün, da gibt es wenig Freifläche. Diese Städte sind gebaut wie von Nero, es sind Feueranzünder. Und durch die Wucht des Elementes, das ein solches aus Fachwerkbauten errichtetes Altstadtareal – dreihundert, vierhundert Jahre alt – in einen großen Kamin verwandelt, wo die Flammen nach oben schießen, benötigt der Brand, wie der Mensch, Sauerstoff. Damit die Flamme lebt, benötigt sie Sauerstoff und sie zieht sich diesen Sauerstoff durch einen Sog vom Boden entlang, der in den Brandherd schießt. In diesem Feuersturm werden Pappeln zu Boden gedrückt …

Kluge … und mit Wurzeln in den Brand gestoßen.

Friedrich Menschen können nicht mehr aufrecht gehen, Kinder werden aus der Hand der Eltern gerissen, der Mutter, die ihren Säugling auf dem Arm hat. Und dieser heulende Sturm, dieser Orkan reißt alles, was nicht angeschraubt ist, in den Brandherd hinein. Dieses Zusammenwirken der Elemente bedarf besonderer Witterungsstrukturen. Es gelingt nicht immer. Berlin ist beispielsweise mit Brandmauern, großen Freiflächen durchzogen, es gibt viele Wasserkanäle, da kann die Flamme nicht springen. Das Wesen des Elementes ist der Funkenflug, sind die Hitzewellen. Und da wo Schneisen sind, Wasser, Grün, wird das Feuer aufgehalten und es ergibt nicht diesen zusammenschießenden Kamineffekt, der nur durch das Zusammenwirken von Baustruktur, Witterung und der Natur der Waffe entsteht. Nachdem man das gemerkt hat, wie die Elemente selbst ein Bestandteil des Vernichtungsplans werden können, beginnt man das Zusammenspiel mit den Elementen zu planen. Man macht eine ausgeklügelte Mischung von Brand- und Sprengstoffen. Als erstes fallen die Sprengstoffe, sie decken die Dächer ab, sie lassen die Fensterscheiben zerplatzen. Danach kommen die Brandstoffe. Durch die Zugluft, die durch die zerplatzten Fenster dringt, werden die Brandstoffe in ein Inferno verwandelt. Es dauert, bei einem entflammten Dach, bei einem entflammten Dachstuhl, weitgehend aus Holz, drei Stunden bis ein Stockwerk abgebrannt ist, dann kommt das nächste. Alle drei Stunden brennt ein Stockwerk ab. Wenn der Brand soweit gekommen ist, ist er nicht mehr zu löschen. Man setzt die Feuerwehr lahm, indem man durch die Sprengstoffe die Strassen verkratert, die Hydranten zerstört. Es dauert Stunden bis überhaupt ein Zugang zu diesen brennenden Häusern erreicht ist. Das einzige, was den Engerlingen hilft, sind archaische Methoden: ein Eimer mit Sand, eine Brandklatsche, ein Eimer Wasser. Denn in den ersten fünf Minuten ist die Sache noch zu retten. Es gibt kaum ein staatliches Organ, das dieser Hölle Herr werden kann, aber es gibt die Hausgemeinschaften, die Löschgemeinschaften, neun, zehn Häuser, die sich zusammenschließen, wo brennende Balken, die durch die Luft fliegen, noch entsorgt werden können, wo, wenn die Wasserleitung auf der einen Strassenseite getroffen ist, man Schläuche aus der entgegengesetzten Häuserfront nehmen und löschen kann. Das heißt, die völlig durchorganisierte Gesellschaft, die eine Schiffsdeckdisziplin halten soll, ist in der Lage ein Minimum an Leben in dieser Hölle zu erhalten. Da haben die Briten und Amerikaner sehr gestaunt, dass sie nur ein Drittel der Menschenmengen vernichten konnten, die sie zu vernichten planten.

Kluge Ist das geübt worden? War man vorbereitet auf diesen Luftkrieg?

Friedrich Zunächst mal haben alle Parteien dieses Krieges einen Luftschutz in den dreißiger Jahren aufgebaut. Niemand hat mehr geglaubt, dass die Kavaliersregeln der Kriegführung des 19. Jahrhunderts in diesem Krieg noch Geltung haben.

Kluge Und die Hauptkavaliersregel heißt: Kombattanten und Zivilbevölkerung sind getrennte Größen in einem Krieg. Das war die einzige Errungenschaft, sagen wir mal, des Völkerrechts und des Kriegs im 19. Jahrhunderts.

Friedrich Ja, der Krieg verschont zwei Gruppen: Das unbeteiligte Zivil und den Kombattanten, der seine Waffen streckt und Pardon genießt. Krieg ist allein die Veranstaltung von Staaten, die bewaffnete Verbände in eine Arena schicken und die tauschen die Gewalt aus. Wer sich durchsetzt, zwingt dem anderen seinen Willen auf.

Kluge Das ist Krieg.

Friedrich Das ist der Staatenkrieg, der sich im 17., 18., 19. Jahrhundert zu einer Form der Kunst, der Kriegskunst entwickelt.

Kluge Abgesetzt von den einfachen Massakern unter Nachbarn, von ethnischen Verfolgungen, vom Religionskrieg, von den Aufständen eines einzelnen, eines Michael Kohlhaas, eines spanischen Guerillas gegen die Armee. Der sanktionierte Krieg kennt diese beiden Privilegien, dass es Kriegsgefangene gibt, dass die Zivilbevölkerung geschont wird, unter der Bedingung, dass das Gewaltmonopol des Staates erhalten ist. So kann man’s doch sagen. Und das nennt Clausewitz „Krieg“.

FriedrichWer sich heraushält hat eine Chance – bis auf den Soldaten, der wird eingezogen. Also, durch die Industrialisierung des Krieges, die mit dem Ersten Weltkrieg einsetzt, ist klar, dass nicht mehr „Mann gegen Mann“, die Vision gegen die Vision kämpft, sondern es kämpfen Nationen, Wirtschaften, Fabriken und auch das Durchhaltevermögen und die Leidensbereitschaft von Nationen gegeneinander. Im Ersten Weltkrieg wird über Deutschland eine Hungerblockade verhängt, an der ca. 800.000 Zivilisten eingehen. Und es wird den Generälen, die an der Front kaum eine Entscheidung herbeizuführen wissen, allmählich klar, dass die Armeen sich zum Gewaltaustausch am schlechtesten eignen. Sie sind die am meisten gepanzerten und darum ist es auch am teuersten eine Armee zu vernichten. Es ist viel leichter ein Krankenhaus zu vernichten, es ist viel leichter zu überprüfen, sind die Kölner bereit die Zerstörung des Kölner Doms hinzunehmen? Wann sagen sie, „Es ist gut.“? Also wird der weiche Unterleib des Feindes, dort wo die Rüstungsarbeiter wohnen, das Ziel des Krieges.

Kluge Das heißt, im Schoße des industrialisierten Krieges steckt der Terror – als Gedanke. Nicht der individuell ausgeübte zunächst, sondern die Staaten selber werden hier terroristisch tätig, gegen das Gesetz des Krieges. Das kann man doch so sagen? Um die Entscheidung seitlich von den Armeen, seitlich von dem sogenannten Zweikampf den ein Krieg darstellt, zu erzielen.

Friedrich Das Gesetz des Krieges setzt die Unterscheidbarkeit von Krieg und Terror voraus. Der Terror interveniert immer in den Krieg, wie der Bankräuber in die Bank interveniert, aber die Bank ist ein Fort und bleibt bestehen. Inzwischen sind Bank und Bankräuber nicht mehr unterscheidbar. Der Krieg ist der Terror. Die Amerikaner bombardieren im Korea- Krieg Staudämme in Nordkorea, in der Absicht, dass die sich ergießenden Wassermassen die Reisernte vernichten. Die Bevölkerung wird damit dem Hungertod preisgegeben, es sei denn, sie vermag ihren Diktator zur Aufgabe zu veranlassen. Es ist aber ein Wesenszug des Diktators, dass er sich zu nichts veranlassen lässt, was von den Beherrschten kommt. Das wissen die Amerikaner schon im Zweiten Weltkrieg über Deutschland. Sie wissen, dass die Ziele, die sie treffen, die Bevölkerung der Städte, alte Männer, hauptsächlich Frauen, Kinder, Zwangsarbeiter, Strafgefangene in den Gefängnissen sind. In Essen wird 1943 die Männerabteilung eines Gefängnisses getroffen, mit 200 Toten. Es gibt Siechenanstalten, es gibt Blindenanstalten.

Kluge Der Krieg wurde entschieden, als die amerikanische Luftflotte mit Tagesangriffen die industrielle Infrastruktur, die Versorgung mit Benzin usw. völlig unterband. Während die ganzen Terrorangriffe eigentlich nicht die Willenskraft dieser Bevölkerungen verändert haben, wenigstens nicht gegen das Herrschaftssystem, das ja gleichzeitig immer der erste Helfer ist, nach dem Angriff. Wie sehen Sie das?

Friedrich Man hat immer eine illusionäre Vorstellung von Bevölkerung. Im Gau Braunschweig gibt es ein Kloster mit dem Namen „Himmelspfort“ mit 200 Schwachsinnigen und die verbrennen. Ist es die Willenskraft dieser 200 Schwachsinnigen? Die Blindenanstalt in der Oranienstraße in Berlin, die unter Bombenterror gerät – es ist die Willenskraft der Blinden. In Krankenhäusern, wo die Pfleger die Gehbehinderten als erste versuchen in die Krankenhausbunker zu schaffen – es ist die Willenskraft der Gehbehinderten. Die Psychologie der Bunker ist ein unerforschter Ort unserer Geschichte, auch die Psychologie der Keller unter den Häusern. In den Bunkern verrohen und vertieren die Menschen. Die Männer rasieren sich nicht, sie waschen sich nicht. Sie stinken, sie verrichten ihre Notdurft nicht mehr auf den Aborten, weil die Wasserversorgung oder auch die Stromversorgung der Bunker ausfällt. Sie stieren vor sich hin. Durch diese, in ein fahles, blaues Licht getauchten Bunker, an denen eine Orientierung nur durch Streifen und Pfeile, die in Leuchtfarbe an den Wänden aufgetragen sind, möglich wird, ziehen Gestapobewegen Streifen, die zusehen, ob sich Kriegsgefangene oder Flüchtlinge oder Deserteure unter den Menschen befinden. Es ist ein Ort wildester Gerüchte, Menschen erzählen sich Unerhörtes. Dass Frauen ihre Kinder ertränken, ihre lebenden Kinder ertränken, im Wasser, damit sie in den Feuerstürmen nicht verbrennen, dass Frauen mit den Köpfen ihrer Kinder, ihrer zerschmetterten Kinder, auf das Land ziehen um sicher zu sein. Dass nun der Gaskrieg anfängt, das Beregnen der Städte mit Phosphorkanistern wird eigentlich als der Beginn des aerochemischen Krieges gedeutet. Nun fällt Gas. Das Gas ist die Chiffre der Endlösung der Zivilbevölkerung und sie wird auch zum Subjekt der Ausrottung. Die Menschen in den Bunkern wollen nicht dass es aufhört, oder besser sie denken nur dass es aufhört, wenn der Gegner ausgerottet ist. Der Führer sagt, der ganze Luftschutz bringt nichts, nur die härteste Vergeltung und selbst christlich orientierte Menschen entwickeln in den Bunkern die Psychologie, dass alle Engländer Bestien sind, die gegen Schulen und Dome Krieg führen und sie gehören ausgerottet, mit Stumpf und Stiel.

Kluge Das heißt, wichtiger als der Schutz für mich, ist, dass irgendeine Rache geübt werden kann.

Friedrich Das Unerhörteste ist das wehrlose Ertragen der Vernichtung. Das „Nicht-Austeilen- Können“, das „Sich-Ducken“ – das „Stillehalten“. Und sie laufen aus den Städten heraus, sie rennen – ziellos.

Kluge Wo eine Stelle ist, wo ein Fluss ist, wo Wasser ist, wo man irgendwie außerhalb der Stadt und in der Nähe von einem Rettungsmittel ist.

Friedrich Weg.

Kluge Wo andere Menschen übrig sind. Die sind alle an den Rändern der Stadt.

Friedrich Da sind keine anderen Menschen, da ist die Partei. Die Partei kennt sich aus, die Partei macht Auffangsammelstellen.

Kluge Da sind die Lehrer der Stadt, da sind die, die nicht eingezogen wurden. Man muss sich die Partei da konkret vorstellen. Das ist nicht die Partei der Aufmärsche, auch nicht die Partei der Geheimdienste oder der Unterdrückung, sondern das sind sozusagen die mittleren Führungskorps, die Unteroffiziere des Zivils, kann man das so sagen?

Friedrich Das ist die Hitlerjugend, die NSKraftfahrkorps …

Kluge … Verwaltungsbeamte …

Friedrich … auch SA-Leute, es ist die Partei der Suppenköche. Und sie fährt mit Fahrrädern herum und versucht die Menschen zu Gestapobewegen in diese Auffangsammelstellen zu kommen. Sie sorgt dafür, dass es ein gut belegtes Brot und ein warmes Getränk gibt. Das ist das Erste, was den Menschen wieder zum Menschen macht, der warme Schluck. Das weiß die Partei. Die Partei sorgt auch für die Särge, die Partei legt Wert darauf, dass sie die Beerdigungen organisiert. Der Hauptwürdenträger in der Partei am Ort hält die Ansprache. Wo immer es geht, stiftet der Führer einen Kranz. Die Rechnung für den Kranz geht an den Adjutanten des Führers, der zahlt hunderttausende von Kränzen. Der Führer möchte keine Massengräber, der Führer möchte, dass die Familien ihre Toten in ihren Familiengräbern begraben können. Erst von 1944 an, als die deutsche Jägerwaffe langsam ausgeschaltet ist, die Flugzeuge keinen Sprit mehr haben, die Angriffe Tag und Nacht kommen, dreißig, vierzig Tage hintereinander – und in den Ruhrgebietsstädten, die nah an den britischen Inseln liegen, herrscht wirklich durch Wochen jede Nacht Flugalarm, man weiß nicht, kommen sie zu uns, kommen sie nach Duisburg, oder kommen sie nach Mühlheim – da werden die Menschenmassen, die erschlagenen Engerlinge, auf Roste gelegt und man überschüttet sie mit Benzin und man sieht zu, dass sie verkohlen oder verschmoren. Aber man macht sich immer noch eine enorme Mühe, die Person zu identifizieren. Wie identifizieren Sie ein Kind von sechs Jahren, dessen Eltern nicht mehr leben? Wenn es drei Jahre alt ist, weiß es möglicherweise nicht einmal seinen Namen. Allen Kindern unter zehn Jahren hängt man ein Schild um den Hals, mit seinem Namen, den Namen seiner Verwandten, den Namen seiner Bekannten. Das heißt, alle Kinder unter zehn Jahren sind potenzielle Waisen.

Kluge Gibt es von der bewaffneten Macht, die mit Wasser bewaffnet ist, der Feuerwehr wenigstens, eine Gegenwehr? Was tut der Sicherheitsbeauftragte einer Stadt? Das ist der Oberbürgermeister, sein vorgesetzter Regierungspräsident oder der Polizeipräsident. Was tun die in ihrer Planungsabteilung, die ja während des ganzen Angriffs tätig ist, was tut die innere Sicherheit und was tut die Feuerwehr?

Friedrich Das Erste, was denen kaputt geht, sind die Telefonleitungen und dann können sie gar nichts mehr tun. Sie können ihre Befehle durch jemand übermitteln. Durch wen erhalten sie Nachrichten? – Durch die Hitlerjungen! Die Hitlerjugend ist die Geheimwaffe, sie durchzieht mit einer ungeheuren Tapferkeit die brennenden Strassen – sie kennt Weg und Steg.

Kluge Melder.

Friedrich Ja. Die Jungs kämpfen sich durch die Brände und lotsen die Löschtrupps zu den verschütteten Kellern. Und sie sterben dabei wie die Fliegen. Die Feuerwehr wehrt dem Feuer mit Wasser. Das Erste was der Masterbomber befiehlt, und die Markierer zu markieren versuchen, sind die Hydranten und die Hauptwasserleitungen, von denen die Abzweigungen zu den Häusern gehen. Was die Feuerwehr gelegentlich macht, und was imposant aussieht, sind die Brandgassen. Man macht aus großen Wasserstrahlen, da wo die Leitungen noch da sind, oder wo der Fluss in der Nähe ist, Kathedralen aus Wasser. Man benutzt diese Wassergassen, um in ein Feuersturm-Areal einzudringen. Im Feuersturm-Areal kann nicht mehr gelöscht werden, aber man sucht sich, wie bei einer befestigten Stadt oder wie bei einem Kessel, eine Schneise, wo man eindringt, denn in dem Kessel sind Leute gefangen.

Kluge Und durch die Wassergasse können sie raus.

Friedrich Man versucht durch die Wassergasse eine Insel zu schaffen.

Kluge Die Menschen kriegen nasse Tücher über den Körper und fliehen durch die Gasse.

Friedrich Ja, es ist das nasse Tuch, das hilft die zehn, zwanzig Meter aus dem Keller herauszuspringen. Mit ihren kolossalen Motorspritzen löschen sie an der einen Stelle, aber sie nehmen den Wasserdruck aus den Leitungen und deswegen können die Ansässigen an ihren eigenen Häusern mit ihren Handspritzen überhaupt nicht mehr aus den Leitungen schöpfen – wenn sie denn noch funktionieren – man hilft mit der einen und erledigt mit der anderen Hand. Eigentümlicherweise ist der Luftschutz, das heißt die Selbstorganisation der Bevölkerung, die effektivste Waffe. Es ist die Wachsamkeit des Luftschutzwartes der sein Haus, jedes Haus, inspiziert wie Soldat auf Wache, der auf dem Dachboden zusieht, dass kein Taubenmist da ist, dass die Holzbarren mit Feuerschutzmitteln gestrichen sind.

Kluge Dass die Dächer entrümpelt sind.

Friedrich Dass alles überflüssiges Holz da weg ist. Diesen Augen, denen nichts entgeht, die aufpassen, dass die Lichter aus sind. Der Masterbomber, der Markierer, und der Brenner brauchen ja einen Anhaltspunkt. Was ist eine Stadt? Sie ist hell. Ein Phänomen ist, dass die Leute wenn Luftalarm ertönt, in ihren Schlafzimmern das Licht andrehen. Sofort ist es hell, schlagartig. Und solche Entwicklungen sind alles Ziele, sind alles Orientierungspunkte, die Stadt muss verdunkelt sein.

Kluge Und zwar vollständig, diese fünf Prozent Nichtverdunklung ist das Gefährlichste.

Friedrich Die Fahrräder müssen dafür sorgen, dass der Fahrradscheinwerfer abgeschirmt ist, es herrscht überall ein schummriges Blaulicht. Die Bordsteine sind mit Leuchtfarben gestrichen, dass man sich orientieren kann. Treppen sind mit Zickzacklinien bestrichen. Die Glasdächer von Industriebauten, die Glasflächen von Krankenhäusern werden mit Netzen und Tarnungen abgedeckt, denn darin spiegelt sich das Mondlicht. Es gibt sogar für markante Punkte, wie Talsperren, Zusammenflüsse von Flüssen, den Gedanken der Vernebelung. Man wirft Säuren und diese Säure zieht das Wasser aus der Luft und verwandelt es in Nebel. Man vernebelt große Gebiete.

Kluge Zum Beispiel das Rheinknie bei Mainz, wenn ich es verneble, weiß man nicht wo Mainz und Wiesbaden liegen.

Friedrich Eine Frau deren Mann bei einem Bombenangriff im Krankenhaus verstirbt, legt Trauerkleidung an – das passiert in Essen – und sie holt seine Personalpapiere, zwecks Beerdigung aus der Wohnung. Sie läuft in Trauerkleidung durch das Treppenhaus, begleitet von Polizei, Parteibonzen. Und im Treppenhaus, in dem Moment, entzünden sich dort noch liegende, durch Phosphor sich erhitzende Brandpartikel. Die Brandpartikel sind mechanisch nicht von der Haut zu entfernen. Ein Bürgermeister und ein Gendarm versuchen einen Brandkanister mit einer Zange fortzubewegen, und plötzlich, mehrere Stunden später, fängt die Haut an zu brennen und die Glieder fangen an zu zittern, diese Leute wissen nicht warum, sie liegen in ihrem Bett und plötzlich steht ihre Haut in Flammen, juckt und brennt. Das alles muss entgiftet und behandelt werden. Diese Phosphorkanister enthalten 25 Kilo einer Benzin-Kautschukmasse kombiniert mit Phosphor. Das Phosphor wird nicht durch den Aufschlag in Brand gesetzt, sondern durch Hitzeeinwirkung. Es fängt von selber an zu brennen und wann es das tut und wann es das nicht tut ist oft genug eine Zufallsangelegenheit. Plötzlich, ohne Veranlassung, im heitersten Sonnenlicht, verspritzt dieses Ding über 50 Meter einen Sprühregen einer Brandmasse, die nicht mehr von der Haut abgeht.

Kluge Nicht löschbar.

Friedrich Die brennt 25 Minuten.

Kluge Sie ist mit Sand löschbar.

Friedrich Ja.

Kluge Sand hilft, Wasser hilft nicht.

Friedrich Sandeimer stehen überall, Sandeimer, Feuerklatschen. Primitive Mittel, in der richtigen Sekunde angewandt, sind das sinnvollste. Man hat oft, schon in den dreißiger Jahren gesagt, es müssen faschistische Gesellschaften sein, die sich dem Bombenkrieg in den Weg stellen können, Gesellschaften, die genügend gedrillt und genügend formiert und diszipliniert sind, um sich durchzusetzen. Deswegen macht auch die Partei diese Sachen, weil diese älteren Feuerwehrleute und diese älteren Ordnungspolizisten nicht mehr in der Lage sind, den verzweifelten und panischen Menschen ein Äußerstes an Disziplin einzuflössen.

Kluge Die Planer des totalen Kriegs, also der Gegenmaßnahmen gegen solche Bombenangriffe, haben ja auch die Idee gehabt, die deutsche Industrie in Höhlen im Harz unterzubringen. Man soll überhaupt konsequent unter die Erde gehen, in eine Art Arkanreich, das dann unerreichbar ist für atlantische Luftflotten, kann man so etwas realistisch sagen?

Friedrich In die Höhlen geht beispielsweise die deutsche Kultur.

Kluge Die wird verstaut in Salzbergwerken, in Höhlen.

Friedrich Bibliotheken, Handschriften werden verpackt. Das sind solche riesigen Mengen von Papier, dass diese Transporte nicht mehr möglich sind.

Kluge Aber auch die Rüstungsindustrie, die Raketenwaffe und deren Rüstung, oder im Harz die Junkerswerke. Also, die Idee ist, alles unter der Erde noch mal neu bauen.

Friedrich Ein unterirdisches Reich.

Kluge Das was man die Alpenfestung nennt, als letzter Plan des Dritten Reichs.

Friedrich Die Nation wird ein Kyffhäuser und dort sitzt Wieland der Schmied und schmiedet die letzten Waffen.

Kluge Wie ein untergegangenes Zwergenreich, Reich Alberichs, das ist doch schon die Fantasievorstellung davon. Von Ingenieuren erdacht.

Friedrich Ja.

Friedrich Der Führer befiehlt, dass man in Bürgerhäusern Stuckdecken, Fresken fotografiert. Die ganzen Altstädte werden farbig fotografiert, man kalkuliert den Untergang ein.

Kluge Die Denkmäler werden in Backstein eingehüllt und verschlossen, aber möglichst abtransportiert.

Friedrich Die deutsche Geschichte überlebt als Foto.

Kluge Das heißt, die Grundbücher der zerstörten Häuser könnten untergehen, die Menschen können untergehen, aus dem Rest werden sie sich regenerieren. Aber die historischen Denkmäler, die Schwerter und Kronen, die Königsschätze, die unsere Vergangenheit dokumentieren, die müssen erhalten bleiben – das ist die Grundidee.

Friedrich Und die Hochschwangeren! Die Partei sorgt sich als erstes für die Hochschwangeren. Das hat schon Napoleon bei den Verlusten im Russlandfeldzug gesagt. Er steht vor den Leichenbergen und sagt: „Das ist eine Nacht in Paris.“ Und so sorgt sich der Führer auch um die Schwangeren. Man macht unter der Erde Kreißsäle, man sorgt dafür, dass sie für 25 Stunden eine Wasserversorgung haben. Das heißt, das Volk als Keim wird erhalten und das Volk als Wurzel wird erhalten. Was dazwischen ist, das Leben, ist bereits abgeschrieben. Teilweise schreiben sich die Lebendigen selber ab. Es gibt Stimmen die sagen: „Bevor die Bolschewiken in Deutschland einmarschieren, soll der Führer uns alle vergasen, das ist besser.“ Untergangsfurcht und Untergangsfantasien und Selbstopfer verschwimmen in eins.

Kluge Was geschieht mit einer Erinnerung, die nicht verarbeitet werden kann? Läuft die wie die Wilde Jagd als Geistesgeschehen über die Welt? Leid kann doch nicht verschwinden.

Friedrich Ich vermute sie wird dadurch unsterblich, und zwar so, wie sich die Alliierten das gedacht haben. Man hat nach der Landung in der Normandie Tiefflieger-Angriffe gestartet. Insbesondere auf Bahnhöfe und Personenzüge. Einfache Leute, die in einem kleinen Nest in der Nähe von Gütersloh an Heiligabend standen, oder zu Silvester um 13 Uhr werden durch solch einen Flieger der 50, 80, 100 Meter taucht, niedergemäht. Das soll einen solchen puren Schrecken, wie die mittelalterliche Angst vor Pocken, Pest und Hexen verbreiten, dass es bis in die Enkel, das wird gesagt, bis in die Enkel hinein, sich in die nationalen Gehirnwinden gräbt.

Kluge Dies tut’s aber genau nicht. Die Amerikaner wundern sich darüber, dass im Grunde im Sommer 1945 kein Hassgefühl wegen der Luftangriffe, keine Absicht das geltend zu machen der Besatzung entgegengehalten wird. Es ist wie verschwunden.

Friedrich In meiner Kindheit stand das Land in Trümmern. Das sind eigentümliche Passivformen in denen diese Ereignisse beschrieben sind. Die Sätze heißen: „Ich bin ausgebombt. Ich bin abgebrannt. Die Frau Trimmborn ist unter den Trümmern geblieben. Der war verschüttet. Da fielen die Bomben.“

KlugeWir sind noch einmal davongekommen.

Friedrich Nein, gerade nicht. Nicht „wir sind“. Sondern das Subjekt dieses Tuns, das was in der Goebbels-Propaganda heißt, was sind das für Krieger, die gegen Dome, gegen Blindenanstalten und Entbindungsheime Krieg führen – das ist der Inbegriff des verbrecherischen Krieges. Das hat jeder so empfunden. Kann das schwerlich anders empfinden.

Kluge Und es ist 45 gelöscht, durch die Niederlage wird es gelöscht, es wird wie aus dem Kopf genommen, und ich nehm’ Schokolade, ich kann fraternisieren.

Friedrich Den Flugzeugen fehlt der Pilot, es ist ein Geschehen. Die, die den Piloten virtuell aus dem Flugzeug verbannen, wissen sehr wohl, wer es geflogen hat, aber dies ist die Hand, die nun die Deutschen füttert. Vielleicht will man sie beißen, aber man kann es nicht. Wir haben als Kinder vor den amerikanischen Jeeps gestanden und gebettelt. Die Frauen, die einen amerikanischen Freund hatten, waren umdrängt, man sagte, „die hat einen Ami.“

Kluge Der Mann der zurückkehrt, sieht, dass die Frau dem Fremden gehört, stellt sich seitlich an. Hat’s gegeben. Als wir auf die Twin Towers blickten, traf uns das doch völlig überraschend. Dass Menschen da zermahlen werden in Mauern, die zusammenstürzen, traf etwas, dass man sagt, jetzt beginnt eine neue Zeit. Das können wir nicht vertragen, das ist einfach ein Angriff auf das Zentrum auch unserer Gefühle. Die selbe Empfindung habe ich nicht feststellen können in den Bombenangriffen, die doch so große Zahlen von Toten hatten, weil man offenkundig vorbereitet ist auf diese Angriffe, von Anfang an vorbereitet.

Friedrich Es gibt da eigentümliche Empfindungen. Zum Beispiel steigen ungeheuerlich die Preise im Antiquitätenhandel. Derjenige der sein Biedermeier-Tischchen verloren hat, denkt als erstes, nicht an das Kriegsrecht, nicht an die Bestien, er hängt an seinem Tischchen und er versucht es im Antiquitätenhandel wieder zu bekommen. Was ist das Tischchen? Vielleicht ist es nur das Sich-Festklammern an der überkommenen Existenz.

 
  Der abgedruckte Text basiert auf einem TV-Gespräch zwischen Alexander Kluge und Jörg Friedrich, das am 11. 8. 2002 in der Sendung News und Stories ausgestrahlt wurde.

Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt ist Autor, Filmemacher und Fernsehproduzent. Kluges Kulturmagazine 10 vor 11 und Prime Time/Spätausgabe laufen auf RTL, News und Storys ist auf SAT.1 zu sehen und das Mitternachtsmagazin bei VOX.

Alexander Kluge Chronik der Gefühle Suhrkamp, 2000. 2 Bände im Schuber, 2040 Seiten, € 82

Alexander Kluge, Oskar Negt Der unterschätzte Mensch Zweitausendeins, 2001. 2 Leinenbände im Schuber, 2264 Seiten, € 50

Alexander Kluge, Heiner Müller Ich schulde der Welt einen Toten. Gespräche Rotbuch, 1996. 106 Seiten, € 7,60

Christian Schulte, Winfried Siebers Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine. Suhrkamp, 2002. 265 Seiten, € 10

Matthias Uecker Anti-Fernsehen? Alexander Kluges Fernsehproduktionen. Schüren Presse 2000, 208 Seiten, € 14,80

Jörg Friedrich, geboren 1944 in Kitzbühel/Tirol, lebt als Historiker in Berlin. In Standardwerken der Zeitgeschichtsschreibung hat er die Staatsund Kriegsverbrechen des Nationalsozialismus erforscht. Von Jörg Friedrich sind erscheinen u.a.:

Der Brand Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945 Propyläen, 2002. 300 Seiten, € 22 (D) / € 22,70 (A) / sFr 37,10

Freispruch für die Nazi-Justiz Die Urteile gegen NS-Richter seit 1948 Ullstein, 1998. 400 Seiten, € 16,95 (D) / 17,50 (A) / sFr 29

Das Gesetz des Krieges Das deutsche Heer in Russland 1941–1945. Piper, 2. Auflage 1996. 1085 Seiten, € 25,90 (D) / € 26,70 (A) / sFr 45,10

 
Der Standard, 16.05.2006
Erotische Literaturgeschichte auf CD-ROM
Anthologie erstreckt sich "von Lysistrata bis Lady Chatterley" beziehungsweise "von Anonym bis Zola"

Die Presse, 16.05.2006
Trauer: Günther Nenning ist gestorben
Der streitbare Querdenker, Aktivist und Journalist ist im Alter von 84 Jahren in Tirol gestorben. Als "Auhirsch" kämpfte er gegen das Kraftwerk Hainburg. Zuletzt sorgte er mit dem Austro-Koffer für Aufregung.

dradio.de, 16.05.2006
Crashkurs in Chuzpe
Israel Zangwill gilt als "Dickens der anglo-jüdischen Literatur", ein Urteil, dem er in "König der Schnorrer" mehr als gerecht wird. Darin versucht der sephardische Jude Manassah dem aschkenasischen Juden Grobstock Geld abzuschwatzen und verheiratet am Schluss seine Tochter, wofür Grobstock auch noch zahlt. Manassahs Schwiegersohn geht bei ihm in die Lehre und erhält einen Schnellkurs in gewitztem Schnorren.

dradio.de, 16.05.2006
Das Leben
Berühmt geworden ist der Schweizer Universalkünstler Dieter Roth (1930-1998) als eigenwilliger "Schimmelbild"-Artist und "Literaturwurst"-Hersteller, kaum jedoch als Lyriker. Roths Texte suchen freilich die weitest mögliche Entfernung zu den tradierten Formgesetzen eines literarischen Kunstwerks.

FAZ, 16.05.2006
Sakrilogo
Das Buch lag einst wie Blei bei allen deutschen Verlagen. Nur bei Lübbe erkannte man das Potential - und sicherte sich die Rechte an allen Werken Dan Browns. Die Geschichte eines Erfolgs.


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