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Im gleichen Jahr, als Hitler von Berlin aus den Krieg in die Welt brachte, begannen zwei Berliner Juden, in New York die Welt des Jazz zu verändern. Der Mythos Blue Note wird in diesen Tagen 60 Jahre alt.

Happy Birthday!
60 Jahre Blue Note
Eine Passion und ihre Folgen

Schon mit 5 Jahren zog es Alfred zu den Musikern im Orchestergraben, mit 16 entdeckte er den Jazz. Weil im Berlin der 20er Jahre Jazzplatten schwer zu kriegen waren und Gastspiele amerikanischer Bands viel zu selten stattfanden, reiste er mit 19 erstmals nach New York. Dort arbeitete er auf den Docks und schlief im Central Park unter freiem Himmel - alles nur, um jeden Tag Jazz hören zu können. Die brutale Attacke eines fremdenfeindlichen Hafenarbeiters beförderte ihn eines Tages ins Krankenhaus und von dort zurück nach Berlin, doch kaum zwei Jahre später kam Alfred wieder. Bald lebte er in Südamerika, reiste für eine Import-Export-Firma durch die Welt, fuhr regelmäßig nach New York und nahm dort schließlich 1936 eine Stelle an. Zu Weihnachten 1938 besuchte Lion ein Boogie-Konzert mit Albert Ammons und Meade Lux Lewis in der berühmten Carnegie Hall. In seiner Begeisterung für die beiden Piano-Akrobaten mietete er ein Tonstudio und nahm mit ihnen am 6. Januar 1939 zehn Stücke auf. Das war der Anfang von Blue Note.

Weil Lion ein Fremdling in Amerika war, hörte er den Jazz anders als die Amerikaner. Für ihn war diese vitale Musik nicht einfach der aktuelle Sound, der das schnelle Geld bringt, sondern eine faszinierende neue Kunstform. Er begegnete Jazzmusikern mit Respekt und Bewunderung und sah ihre Aufnahmen als Kunstwerke, nicht als Verzehrware. In einem ersten Communiqué zur Firmengründung nannte er den Jazz "Ausdruck und Kommunikation, eine musikalische und gesellschaftliche Offenbarung". Blue Note, so schrieb er, interessiere sich "für den Antrieb, aus dem diese Musik kommt, und nicht für die sensationsheischende und kommerzielle Ausstaffierung". Blue-Note-Produzent Michael Cuscuna sagt heute: "Hinter Alfreds Verhältnis zum Jazz stand eine europäische Ästhetik und eine Wertschätzung der Künste. Die Musiker hegten für Alfred weit mehr Liebe und Respekt als für die meisten amerikanischen Plattenproduzenten. Er war mit vielen Musikern wirklich befreundet. So etwas schlägt sich bei der Studioarbeit nieder, und das hört man dann auch der Musik an, wenn sie auf Platte erscheint."

Alfred Lion ließ sich in erster Linie von seinem Enthusiasmus und seiner Intuition leiten. Als er das Ergebnis seiner ersten Session auf 12-Inch-Platten veröffentlichte, damals dem "seriösen" Format klassischer Musik, war das nicht geschäftliches Kalkül, sondern Unerfahrenheit: Die Aufnahmen waren in der Begeisterung zu lang geraten. Als er seine zweite Session auf morgens um halb fünf ansetzte, hatte er kein anderes Ziel, als den Spirit der Jam-Sessions einzufangen: Die Musiker kamen direkt von ihren Late-Night-Gigs, aufgekratzt und schon ein wenig müde. Bereits im ersten Jahr konnte Lions Firma blendende Kritiken ernten und hatte sogar einen echten Hit: Sidney Bechets "Summertime", aufgenommen im Juni 1939. Der Sopransaxophonist aus New Orleans wollte die Gershwin-Nummer endlich einmal in derselben Länge auf Platte festhalten, wie er sie im Konzert spielte, und Lion war der einzige Produzent, der das zuließ. "Summertime" wurde Bechets Erkennungsmelodie für den Rest seines Lebens.

Der vielleicht wichtigste Schritt in die Zukunft von Blue Note erfolgte im Oktober 1939. Frank Wolff, Lions Jugendfreund aus Berliner Tagen, verließ Deutschland mit einem der letzten Schiffe, die die Nazis nach New York ließen, und wurde Lions Partner bei Blue Note. Die beiden kannten sich seit 1924 und hatten bereits gemeinsame geschäftliche Unternehmungen hinter sich - ziemlich erfolglos übrigens. Wolff kam aus einer wohlhabenden, intellektuellen, künstlerisch interessierten jüdischen Familie. Er hatte Fotografie gelernt, liebte den Jazz und wurde der Session-Fotograf des Labels, dessen kühle, strenge Schwarzweiß-Porträts später die Blue-Note-Optik entscheidend prägen sollten. Während Lion, der enthusiastische Dynamiker, die Aufnahmen organisierte, steuerte der zurückhaltende Wolff im Hintergrund die Geschicke der Firma, machte die Verträge und verhandelte mit den Lieferanten. Und als Lion 1941 zum amerikanischen Militär eingezogen wurde, nahm Wolff eine Stelle bei Commodore Records an und vertrieb von dort weiterhin die Blue-Note-Platten.

Erst ab 1943 widmeten sich beide, Lion und Wolff, hauptberuflich und exklusiv dem Label, das daraufhin schnell an Profil gewann. Die Blue-Note-Spezialität der 40er Jahre waren Swing-Combos, sogenannte "Swingtets", die heiß oder bluesig spielten, aber immer originell und inspiriert. Edmond Hall, der "schwarze Benny Goodman", war oft mit dabei, auch der Gitarrist Tiny Grimes, der Saxophonist John Hardee. Und dann natürlich Ike Quebec: Er wurde Blue Notes Ben Webster und brachte dem Label 1944 den nächsten Hit, "Blue Harlem". Quebec, der erst vier Jahre vorher das Saxophonspielen begonnen hatte, war nicht nur der erfolgreichste Blue-Note-Künstler dieser Zeit, er wurde auch Alfred Lions A&R-Mann; und durchkämmte für ihn die aufblühende Szene des Bebop. Quebec empfahl schließlich zwei junge Männer, Thelonious Monk und Bud Powell, und genau diese beiden wurden die prägenden Pianisten des modernen Jazz.

Insbesondere Monks Spiel faszinierte Lion tief. Insgesamt sechsmal ging der sprichwörtliche Einzelgänger zwischen 1947 und 1952 für Blue Note ins Studio und nahm dabei all seine frühen Meisterwerke auf, die heute Jazz-Standards sind: "Ruby My Dear", "Epistrophy", "Misterioso", "Straight No Chaser", "Well You Needn't" und natürlich "Round Midnight". Die Verkaufszahlen waren übrigens katastrophal, und kein anderer Produzent zeigte in diesen sechs Jahren irgendein Interesse an Monk. Heftiger umworben wurde Bud Powell, der "Charlie Parker des Klaviers". Er machte seine ersten Blue-Note-Aufnahmen im August 1949, 24 Jahre alt, und der daran beteiligte Saxophonist hieß Sonny Rollins und war noch keine 20. Es entstanden klassische Bebop-Nummern wie "Dance of the Infidels", "Wail", "Bouncing with Bud". Später folgte auch Ungewöhnliches, 1951 "Un Poco Loco", 1953 "Glass Enclosure". Powells neurologische Probleme machten eine kontinuierliche Zusammenarbeit jedoch zunehmend schwierig. Seine letzte Aufnahme für Blue Note entstand 1963 in Paris, drei Jahre später starb er.

Blue Note war kein Pionier-Label des Bebop, ermöglichte aber zahlreichen jungen Musikern der Bebop-Jahre ein Debüt als Bandleader: Tadd Dameron, James Moody, Howard McGhee, Art Blakey. Auch für die Talente von Miles Davis, Clifford Brown, Lou Donaldson, Fats Navarro, Kenny Dorham, Sonny Rollins oder Milt Jackson hatte Alfred Lion ein offenes Ohr. Kommerziell war der moderne Jazz jedoch kein lohnendes Unternehmen, und als die Branche dann auch noch von den 78er Schellacks auf LPs umstellte und Platten-Covers verlangt wurden, geriet das Label kurzzeitig ins Straucheln. Die Format-Änderung erwies sich jedoch als einmalige Chance: Mit der Neuorientierung begann um 1954 die eigentliche Erfolgsgeschichte von Lion und Wolff.

Entscheidend war zunächst einmal die musikalische Innovation, vertreten durch zwei Namen: Art Blakey und Horace Silver. Schlagzeuger Blakey kam aus dem innersten Bebop-Zirkel und machte 1948 auf Blue Note sein Debüt als Bandleader - mit einer Formation, die er "Jazz Messengers" nannte. Pianist Silver wurde 1950 von Stan Getz nach New York geholt, sollte 1952 für eine Blue-Note-Session Lou Donaldson begleiten und wurde, als der Leader ausfiel, selbst zum Bandleader. Blakey war Silvers Schlagzeuger, und Silver war Blakeys Pianist - zum Beispiel beim denkwürdigen Auftritt des Blakey-Quintetts 1954 im Birdland. Als Horace Silver im gleichen Jahr seine erste eigene Session mit Bläsern aufnahm, hieß das Ergebnis "Horace Silver and the Jazz Messengers" und bedeutete die Geburt eines neuen Stils: Hardbop. Das war Bebop der relaxten Art, den Wurzeln des Jazz nahe, dem Blues und der Gospelmusik, und betont "funky" - eine Eigenschaft, die Horace Silver für den modernen Jazz erfunden hatte und die binnen kurzem den neuen Stil höchst populär machte. Weil Blakey aber den Namen "Messengers" für sich reklamierte und Silver sein eigenes Quintett leiten wollte, hatte Blue Note plötzlich zwei Trendsetter-Ensembles im Stall, und beide funktionierten viele Jahre als Talentschmieden.

Der musikalische Fingerzeig war nicht alles: Zum Blue-Note-Erfolgsrezept gehörten außerdem die Zutaten Sound, Image und Qualität. Alfred Lion lernte 1953 Rudy van Gelder kennen, einen jungen Optiker, der begonnen hatte, nachts und am Wochenende im Wohnzimmer seiner Eltern Tonaufnahmen zu machen. Dort entstand der echte Blue-Note-Sound, der so stark und klar war, daß van Gelder bald für alle möglichen Labels arbeitete und den wichtigsten von ihnen je einen bestimmten Tag in der Woche reservierte. "Alfred wußte genau, was er hören wollte", sagt van Gelder heute. "Es war eigentlich sein Sound. Ich hatte keinen Sound, bevor ich mit ihm arbeitete." Dann war da das optische Image: Reid Miles, ein Werbegraphiker, entwarf ab 1956 die berühmten Blue-Note-Covers mit ihren großen Lettern, farbigen Flächen und ausdrucksstarken Schwarzweiß-Fotos (die Frank Wolff beisteuerte). Und schließlich: Alfred Lions liebevolle Art, Sessions zu produzieren. Geduldig diskutierte er mit den Musikern über Konzept und Besetzung, war bei den (bezahlten) Proben dabei und bekam am Ende ein ausgereiftes Produkt. Lion wußte: Originelle, souveräne Improvisation kommt aus der Sicherheit, nicht aus dem Risiko.

Alles das zusammen - Stil, Sound, Optik und Qualität - machte Blue Note plötzlich zum Trendsetter, als der Jazz gerade in die LP-Ära trat. Und bis weit in die 60er Jahre lieferte Blue Note den besten Hardbop und Soul-Jazz der Szene und präsentierte Dutzende junger Talente wie Hank Mobley, Donald Byrd, Lee Morgan, Grant Green, Freddie Hubbard, Herbie Hancock, Joe Henderson, Wayne Shorter, Wynton Kelly, Sonny Clark, Paul Chambers und - natürlich - Jimmy Smith, dessen Hardbop-Hammondorgel eine unglaubliche Mode auslöste. Auch wenn mancher große Musiker nur kurzzeitig für Blue Note aufnahm, gehörten die Ergebnisse meist zu seinen besten Aufnahmen - wie Kenny Burrells "Midnight Blue", John Coltranes "Blue Train", Cannonball Adderleys "Somethin' Else". Session um Session wuchs Blue Note zur lebendigen Legende.

In den 60er Jahren öffnete sich das Label auch dem Free Jazz. Neutöner wie Ornette Coleman, Cecil Taylor und Don Cherry machten einige ihrer dichtesten, packendsten Platten für Blue Note. Der wichtigste innovative Impuls des Labels war jedoch der Versuch, den neuen Jazz mit der Hardbop-Tradition zu versöhnen - in einer Art Free-Bop. Symptomatisch für diese Bemühungen war der Altsaxophonist Jackie McLean, der 1959 zu Blue Note kam und zugleich seinen bewährten Bop-Stil den Einflüssen der Avantgarde öffnete. "Ich denke schon, daß ich die Blue-Note-Politik jener Jahre mitbestimmt habe", sagt McLean heute. "Alfred und Frank ließen mir konzeptionell immer freie Hand, und einige meiner frühen Blue-Note-Platten waren wirklich sehr speziell für jene Zeit: Platten wie 'Let Freedom Ring' oder die Sachen von Grachan Moncur, Bobby Hutcherson und Tony Williams, auf denen ich mitspielte." Eine andere Symbolfigur dieser Synthese von Bop und Free war Andrew Hill, den Alfred Lion neben Monk und Herbie Nichols zu den drei Pianisten zählte, die ihn am meisten beeindruckten.

Im Jahr 1966 nahm Alfred Lion das Angebot an, Blue Note an die Firma Liberty zu verkaufen. Vielleicht war er über die musikalische Entwicklung jener Jahre unglücklich, ausschlaggebend waren jedoch gesundheitliche Gründe: Besonders Ike Quebecs Tod 1963 hatte ihn sehr erschüttert. Nach seinen letzten Produktionen 1967 zog sich Alfred Lion völlig von der Jazz-Szene zurück. Zusammen mit dem Pianisten Duke Pearson, der bereits Ike Quebecs Funktion als A&R-Mann; innehatte, übernahm nun der eher schüchterne Frank Wolff das Produzieren. Da er dafür die Session-Fotografie opfern mußte, packte er sein Foto-Archiv in eine große Kiste und schickte sie seinem alten Freund Alfred als Andenken. Blue Note, nun das Sub-Label eines großen Konzerns, geriet schnell in den Sog kommerzieller Funk- und Fusion-Trends, und Frank Wolff verlor zusehends seinen Enthusiasmus. 1971 starb er, Duke Pearson verließ New York und nahm einen College-Job in Atlanta an. Ein Jahr später produzierte Larry Mizell den größten Hit, den Blue Note bis dahin hatte: Donald Byrds unsäglich dünne Disco-Funk-Nummer "Black Byrd".

Doch während der Spirit von Blue Note im Fusion-Sound verlorenging, entstand er schon wieder aus der eigenen Asche - durch Wiederauflagen der alten Platten, durch Erst-Veröffentlichungen von unbekannten Sessions und Alternate Takes. Der Mann, der sich seit 1975 um diese Revitalisierung bemühte, war Michael Cuscuna - ehemals Jazzkritiker und DJ, dann freier Produzent. Als Blue Note 1985 durch EMI/Capitol wieder gegründet wurde, erwies sich Cuscunas Reissue-Programm als unschätzbare Goldgrube. Der Blue-Note-Stil der 50er Jahre wurde dem neuen Mainstream-Jazz zum Vorbild, Reid Miles' Covers prägten die Designs der 80er Jahre, und selbst Englands DJs wurden im Blue-Note-Katalog fündig. Gilles Peterson, der selbsternannte Vater des Acid Jazz, durchforschte die Blue-Note-Archive nach tanzbaren Grooves und stellte ganze Serien von Samplern zusammen. Die Band US 3 entwickelte ihren erfolgreichen Hip-Hop-Acid-Jazz aus gesampleten Blue-Note-Originalen und machte Herbie Hancocks "Canteloupe Island" erneut zum Welthit. Aber auch im akustischen Jazz setzt das Label Blue Note wieder Akzente wie in seiner großen Zeit. Aktuelle Blue-Note-Künstler wie Joe Lovano, Benny Green, Greg Osby, Dianne Reeves, Cassandra Wilson, Jacky Terrasson oder Don Byron garantieren, daß man mit dieser Marke auch nach ihrem 60. Geburtstag rechnen muß.

(Ungekürzte Version.)

Blue Note heute
Ein Gespräch mit Michael Cuscuna (1998)

Michael, Sie kennen die riesigen Tonband-Archive von Blue Note, vieles davon wurde durch Sie erstmals veröffentlicht. Haben Alfred und Frank immer die richtigen Entscheidungen getroffen, die besten Takes und die besten Sessions ausgewählt?

Bis auf wenige Ausnahmen: ja. Ich fand nur ein paar Alternate Takes, die so gut sind wie die Master Takes oder sogar besser oder einfach ganz anders. Eine dieser Aufnahmen stammt von Monk, eine großartige Version von "Well You Needn't". Was die unveröffentlichten Sessions angeht, so waren die veröffentlichten meistens besser - außer bei zwei Künstlern: Grant Green und Lee Morgan. Green war Gitarrist, und die Kombination von Gitarre und Hammondorgel war damals enorm populär. Mehrere von Greens Sessions mit Pianisten wie Sonny Clark und McCoy Tyner blieben unveröffentlicht, obwohl sie mindestens so gut waren wie seine Sessions mit Orgel. Auch in Lee Morgans Fall hatte man die Karriere des Künstlers im Auge und beugte sich deshalb dem aktuellen Geschmack. Der Trompeter hatte 1964 sein Comeback auf Blue Note mit dem Album "The Sidewinder". Das Titelstück besaß diesen modischen "funky" Touch, aber niemand hatte erwartet, daß die Platte so ein großer Hit werden würde. Lee nahm dann die Platten "Search for a New Land" und "Tom Cat" auf, aber alle Vertriebe verlangten einen Nachfolge-Hit, deshalb wählte man als nächstes Album "The Rumproller". "Search" erschien vier Jahre später, "Tom Cat" wurde erst von mir veröffentlicht. 1967 nahm Lee eine seiner allerbesten Platten auf, aber auch die hatte kein "funky" Stück. Ich habe sie 1976 unter dem Titel "The Procrastinator" herausgebracht.

Wie gelang es Ihnen, Zugriff auf die Blue-Note-Archive zu erhalten?

Ich arbeitete als freier Plattenproduzent und sollte 1975 für Blue Note eine Chico-Hamilton-Platte machen. Ich hatte jahrelang versucht, an das historische Blue-Note-Material heranzukommen, weil Musiker mir immer wieder von tollen Plattensessions erzählten, die nie veröffentlicht wurden. Ich führte sogar Buch über alle Hinweise, die ich von Musikern bekam. Als ich dann bei der Hamilton-Produktion Charlie Lourie kennenlernte, der für das Marketing von Blue Note zuständig war, zeigte ich ihm mein Buch, und er öffnete mir die Schatzkammern. Ich grub eine Menge Unveröffentlichtes aus und durfte die "Blue Note Re-Issue Series" produzieren, 10 Doppel-LPs mit Raritäten und unveröffentlichtem Material.

Sie starteten dann aber zusammen mit diesem Charlie Lourie das Projekt "Mosaic Records". Warum?

1981 wurden die ganzen Blue-Note-Aktivitäten eingestellt. Capitol kaufte den United Artists/Liberty/Blue Note-Komplex, war aber an Jazz momentan nicht interessiert. Ein Jahr später machten Charlie und ich den Vorschlag, ein Jazz Department einzurichten und Blue Note wiederzubeleben. Wir schlugen ein Reissue-Programm mit dicken LP-Boxen vor - nicht zuletzt deshalb, weil ich 30 Minuten unveröffentlichter Monk-Bänder fand, und das war für eine eigene Platte zu kurz. Da Alfred Lion auf den Monk-LPs die Sessions wild durcheinandergemischt hatte, planten wir eine chronologische Dokumentation der kompletten Aufnahmen, die Monk für Blue Note machte. Capitol war einverstanden, wollte aber noch zwei Jahre warten. Charlie und ich waren arbeitslos und konnten nicht warten. Deshalb setzten wir die Idee in eigener Regie um, schufen das Reissue-Label Mosaic und lizenzierten dafür Aufnahmen von verschiedenen Plattenfirmen. Die Monk-Box war die erste, und inzwischen sind wir bei der 84. Box angelangt.

Durch die Aktivitäten von Mosaic Records haben Sie dann auch Alfred Lion kennengelernt, den Gründer von Blue Note.

Ja. Alfred verkaufte Blue Note 1966 und zog sich im folgenden Jahr aus gesundheitlichen Gründen ganz zurück - weg von New York, weg vom Jazz-Business. Der einzige, zu dem er Kontakt hielt, war Horace Silver, aber Horace wahrte absolute Diskretion. Alfred las eine Besprechung unserer Monk-Box in der New York Times, schrieb uns einen Brief, wir schickten ihm die Box, und dann rief er mich an. Er wohnte in San Diego, und wir telefonierten bald häufig miteinander. Persönlich kennengelernt habe ich ihn aber erst beim Town Hall Concert.

Das war die offizielle Relaunch-Party für Blue Note 1985.

Richtig, und es gab ein Riesenaufsehen, als Alfred dafür aus der Versenkung auftauchte. Im Jahr davor holte EMI Bruce Lundvall, um das Pop-Label Manhattan aufzubauen, und Bruce war zugleich der richtige Mann, um den Jazz wiederzubeleben. Am Tag des Konzerts in der Town Hall erschienen unsere ersten neuen Platten: Die Zeit war reif für eine Renaissance des akustischen Jazz. Wynton Marsalis war im Kommen, und es gab einige andere junge Musiker. Aus den besten von ihnen stellten wir damals die Band OTB zusammen.

Welche Funktion haben Sie heute bei Blue Note?

Ich habe keinen Titel, und ich bin auch nie offiziell eingestellt worden. Bruce rief mich eines Tages zu einer Besprechung, und ich blieb einfach dort und begann zu arbeiten, produzierte Reissues und neue Platten und übernahm den A&R-Bereich.; Am Anfang waren wir nur zu dritt: Bruce, ich und eine Radio-Promoterin. Inzwischen sind wir etwa 12 Leute, ich produziere manchmal, berate in Musiker- und Marketingfragen und mache die ganzen Wiederveröffentlichungen. Das sind etwa 60 bis 100 Reissues im Jahr, davon vielleicht 80 % Blue Note, der Rest ist Roulette und Capitol Jazz. Und jährlich veröffentlichen wir etwa 20 neue Blue-Note-CDs.

Was war das erfolgreichste Blue-Note-Album seit 1985?

Das ist leicht zu beantworten: Das war "Hand on the Torch" von US 3. Davon verkauften wir weltweit etwa eine Million Exemplare. Der Durchbruch kam zuerst in Europa, aber dann war es auch in den Staaten ein großer Erfolg - vor allem bei den 13- bis 15jährigen. Es war das einzige Mal, daß meine Kinder sich für meine Arbeit interessierten. Am zweitbesten verkaufte sich wahrscheinlich die erste Platte, die wir 1984 machten, Stanley Jordans "Magic Touch". Auf Platz 3 könnte das zweite Album von Cassandra Wilson liegen, "New Moon Rising".

Und welche Blue-Note-Platten seit 1985 halten Sie für die künstlerisch wertvollsten?

Auf jeden Fall die frühen John-Scofield-Alben mit Joe Lovano. Außerdem die meisten von Joes Platten, vor allem "Live at the Vanguard" und "Trio Fascination". Ich denke auch, die beiden Alben von Tim Hagans gehören mit zum Besten, was je auf Blue Note erschienen ist, aber es war unmöglich, sie erfolgreich zu verkaufen. Das war für mich die größte Enttäuschung überhaupt. Natürlich ist es großartig, daß man immer noch Coltrane-Platten herausgeben kann und sie sich ohne Ende verkaufen. Sogar eine Hank-Mobley-Aufnahme läuft heute besser als je zu seinen Lebzeiten. Aber Jazz lebt nun einmal durch die aktiven Musiker, und die müssen sich heute nicht nur gegen ihre Kollegen durchsetzen, sondern auch gegen alle diese hervorragenden Platten von früher. Es ist fast unmöglich, mit den neuen Aufnahmen auch nur die Unkosten wieder hereinzuholen.

(Ungekürzte Textversion.)

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