Von Friedrich Weissensteiner
Nach seiner Wahl zum Parteiobmann am 22. April 1995 in der
Wiener Hofburg stellte Wolfgang Schüssel für die Österreichische
Volkspartei den politischen Führungsanspruch. "Ich will mit eurer Hilfe
Bundeskanzler werden", rief der Wirtschaftsminister den Delegierten zu und
erntete stürmischen Applaus. Am 4. Mai löste er dann auch den als
Parteichef abgewählten Erhard Busek als Vizekanzler ab und übernahm
dazu von Alois Mock das Außenministerium. Der neue Bundesparteiobmann
machte sofort unmissverständlich klar, dass er die Partei straff zu
führen gedenke. Monatelange öffentliche Diskussionen um die
Parteiführung mit und zwischen den Bünden sollte es in Hinkunft nicht
mehr geben. Seine Leadership ist bis heute in der Partei unbestritten.
In beiden Aufgabenbereichen - Partei- und Regierungsarbeit - nahm
Schüssel Umgruppierungen vor oder stützte sich auf neue,
unverbrauchte Kräfte. Maria Rauch- Kallat übernahm als
Generalsekretärin die Führung der Parteizentrale. Staatssekretär
Martin Bartenstein wurde Umwelt-, Johannes Ditz Wirtschaftsminister. Das
Unterrichtsministerium vertraute er Elisabeth Gehrer an, Staatssekretärin
im Außenministerium wurde Benita Ferrero-Waldner. Im Parlament zog der
Partei-Ideologe Andreas Khol als Klubobmann der ÖVP-Fraktion die
Fäden. An der Zusammenarbeit mit der SPÖ hielt Wolfgang
Schüssel, dessen persönliche Trademark damals statt einer Krawatte
bunte Mascherln waren, fest. Allerdings mit der erklärten Absicht, bei
Gelegenheit zur Nummer Eins in der Regierung zu werden. Die Gelegenheit kam
bald. Finanzminister Andreas Staribacher brachte kein Budget zustande, die
ÖVP hatte seit Schüssels Parteiübernahme steigende Umfragewerte,
die SPÖ war nach 25-jähriger Regierungstätigkeit erschöpft.
Die Koalition zerbrach, für den 17. Dezember 1995 wurden Neuwahlen
ausgeschrieben. Im Wahlkampf und den TV-Duellen mit seinen politischen Gegnern
spielte Wolfgang seine Stärken aus: seine hohe Intelligenz, seine enorme
Nervenstärke, seine druckreife Argumentations- und Formulierungskunst.
Für einen Wahlsieg reichte es trotzdem nicht. Die ÖVP, die lediglich
ein Mandat zulegte (53 statt 52), kam nur als Zweiter durch das Ziel. Die
Vranitzky-SPÖ gewann sechs Mandate hinzu (von 65 auf 71). Die FPÖ,
die Grünen und das Liberale Forum waren die Wahlverlierer.
Letzte Große Koalition
Franz Vranitzky bildete
eine neue Regierung, Wolfgang Schüssel blieb Vizekanzler und
Außenminister. Daran änderte sich auch nichts, als der
SPÖ-Langzeitkanzler zweieinhalb Monate nach der Wahl sein Amt an Viktor
Klima übergab. Eine Erfolgsstory war die (vorläufig) letzte Ausgabe
der Großen Koalition keineswegs. Es gab schwer wiegende Differenzen in
der Sicherheitspolitik, mühsame Kompromisse bei der Pensionsreform 1997
und in anderen sozial- und wirtschaftspolitischen Bereichen. Der
Außenminister kam im Sommer 1997 durch einen verbalen Ausrutscher, der
ihm am Rande einer EU-Tagung in einem Amsterdamer Hotel über einen
prominenten deutschen Banker passierte, unter schweren journalistischen
Beschuss und geriet innerhalb der eigenen Partei und innenpolitisch in eine
Krise. Im Jahr darauf machte er während der EU-Präsidentschaft
Österreichs durch seinen engagierten Einsatz und als unbeirrbarer
Befürworter für die Aufnahme der ehemaligen Ostblockstaaten in die
Europäische Gemeinschaft den Imageverlust wieder wett. Für die im
Herbst 1999 fälligen Nationalratswahlen standen die Chancen der ÖVP
auf einen Wahlerfolg schlecht. Zwei Wochen vor dem Wahltag, dem 3. Oktober,
sagten ihr die Meinungsforscher einen Stimmenanteil von unter 25 Prozent
voraus. Durch rhetorisch glanzvolle TV-Auftritte und die Ankündigung, dass
er die Volkspartei in die Opposition führen werde, sollte sie hinter der
FPÖ auf dem dritten Platz landen, konnte er im letzten Augenblick noch
viele ÖVP-Wähler bei der Stange halten. Für Rang zwei reichte es
dennoch nicht. Die Volkspartei wurde von den Freiheitlichen mit 415 Stimmen
überrundet. Beide Parteien erreichten 26,91 Prozent. Die ÖVP erzielte
das schlechteste Ergebnis seit 1945, die FPÖ ihr bestes. Die SPÖ
blieb mit 33,16 Prozent wohl stärkste Partei, aber auch sie hatte nie
schlechter abgeschnitten.
Taktisches Meisterstück
In dem rund vier Monate dauernden Gesprächs- und
Verhandlungsmarathon, der den Wahlen folgte, gelang Wolfgang Schüssel ein
Meisterstück an zielgerichteter Taktik. Er rückte zum richtigen
Zeitpunkt vom Oppositionskurs ab, trat in Verhandlungen mit den
Sozialdemokraten ein und stellte zuletzt Forderungen, die Viktor Klima nicht
annahm. Die Gespräche scheiterten. Der ÖVP-Chef verhandelte ohne
Auftrag des Bundespräsidenten mit der FPÖ und kam mit Jörg
Haider zu einer raschen Einigung. Beide Politiker stellten Thomas Klestil, der
mehrmals in der Öffentlichkeit für eine "breite Zusammenarbeit"
eingetreten war, vor vollendete Tatsachen. Der Bundespräsident gelobte die
schwarz-blaue Regierungsmannschaft am 4. Februar 2000 mit eisiger Miene an.
Nach dreißig Jahren gab es wieder einen Bundeskanzler aus den Reihen der
Österreichischen Volkspartei. Die neue ÖVP-FPÖ-Regierung
stieß bei den Regierungschefs der übrigen 14 EU - Mitgliedsstaaten
auf Ablehnung. Sie beschlossen, die bilateralen Beziehungen mit Österreich
einzustellen. Diese politisch unkluge Maßnahme wurde am 12. September
2000 formell wieder zurückgenommen.
Die "Wenderegierung", die
sich einem rigorosen Spar- und Reformkurs verschrieb, setzte unterdessen die
ersten Maßnahmen. "Speed kills" lautete die Devise. Finanzminister
Karl-Heinz Grasser (FPÖ) ließ binnen kurzer Zeit die Budgets
für die Jahre 2000 und 2001 erstellen. Das Doppelbudget sah Abgaben- und
Steuererhöhungen, die Einfuhr von Studiengebühren, die Besteuerung
der Unfallrenten, eine Ambulanzgebühr, die Privatisierung von
Staatsbetrieben, den Abbau von rund 13.000 Beamten und eine Pensionsreform vor.
Das Frühpensionsalter wurde schrittweise um eineinhalb Jahre angehoben.
Andererseits wurde das Kindergeld eingeführt. Die Arbeiter wurden den
Angestellten sozialrechtlich gleichgestellt und zum Zweck der
Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter ein mit 6 Mrd. Schilling
dotierter Fonds eingerichtet. Die hiefür nötigen Gesetze wurden vom
Nationalrat rasch verabschiedet. Einige waren nicht verfassungskonform und
wurden auf Antrag der Opposition vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben. Das
erklärte Ziel des Sparprogramms wurde von der Regierung
öffentlichkeitswirksam als "Nulldefizit" bezeichnet. Es wurde nur
vorübergehend erreicht.
Die größtenteils
unpopulären Maßnahmen des schwarz-blauen Kabinetts lösten
Proteste und von den Gewerkschaften organisierte Streiks aus. Aber auch von
Jörg Haider, der am 1. Mai 2000 den Parteivorsitz an die Vizekanzlerin
Susanne Riess-Passer abgegeben hatte, kamen aus Kärnten immer wieder
Querschüsse. Die FPÖ sackte nach der Regierungsbeteiligung in der
Wählergunst ab und verlor eine Landtagswahl nach der anderen. Als im
Sommer 2002 die Regierung beschloss, statt der für 2003 vorgesehenen
Steuerreform nach einem verheerenden Hochwasser Katastrophenhilfe zu leisten,
übte Haider bei einer FPÖ-Delegiertenversammlung in Knittelfeld
heftige Kritik an der Arbeit des freiheitlichen Regierungsteams. Die Folgen
für die Partei waren desaströs. Die Vizekanzlerin, der Finanzminister
und der Klubobmann der FPÖ-Parlamentsfraktion, Peter Westenthaler,
erklärten am 8. September 2002 ihren Rücktritt.
Die Chance
genützt
Der Bundeskanzler nützte die Chance, die ihm eine
total konfuse FPÖ in die Hände spielte. Er nahm Kurs auf Neuwahlen.
Am 20. September 2002 beschloss der Nationalrat seine Auflösung. Als
Wahltag wurde der 24. November festgesetzt. Wolfgang Schüssel führte
auch diesen Wahlkampf clever und mit großem taktischen Geschick. Im
Endspurt wartete er mit einem besonders effektiven Schachzug auf. Er teilte
mit, dass Karl - Heinz Grasser in einer von ihm geführten Regierung als
parteifreier Finanzminister tätig sein werde.
Der triumphale
Wahlsieg der Volkspartei kam dennoch überraschend. Die ÖVP kam knapp
an die absolute Mehrheit heran, die SPÖ verlor ihre Position als
stärkste Partei, die FPÖ erlitt eine katastrophale Niederlage, die
Grünen legten unerheblich zu. In Mandaten ausgedrückt hieß das:
ÖVP 79, SPÖ 69, FPÖ 18, Grüne 17. Der Wendekanzler konnte
sich seinen Koalitionspartner aussuchen. Er entschied sich für eine
weitere Zusammenarbeit mit der FPÖ. Die Regierung Schüssel II wurde
am 28. Februar 2003 angelobt. Sie setzt ihren konfliktreichen Reformkurs gegen
zum Teil heftigen Widerstand (Streiks der Eisenbahner, der AHS- Lehrer etc.)
mit gedrosselter Geschwindigkeit fort und hat seither weitere wichtige Vorhaben
durchgesetzt bzw. beschlossen: die Reform der Gesundheitsorganisation, die
Pensionsharmonisierung, die Universitätsreform, die Zusammenlegung von
Polizei und Gendarmerie, die Steuerreform 2005. Einige dieser Maßnahmen
sind so tief reichend, dass manche Politologen bereits voreilig von einer
"Ära Schüssel" sprechen.
Wolfgang Schüssel, am 7. Juni
1945 in Wien geboren, stammt aus kleinbürgerlichem Milieu. Der Vater war
von Beruf Journalist, die Mutter Handarbeitslehrerin. Die Eltern ließen
sich scheiden, als Wolfgang drei Jahre alt war. Eine Tante des Vaters, eine
tief gläubige Katholikin und Mittelschulprofessorin, ermöglichte dem
begabten Buben finanziell den Besuch des renommierten Wiener
Schottengymnasiums. Durch sie und die Benediktiner wurde der junge Mann
weltanschaulich geprägt. Wolfgang Schüssel betätigte sich in der
katholischen Jugend und während des Studiums an der Wiener
Universität (Volkswirtschaftslehre, Jus, Dr. juris 1968) bei der
Katholischen Studentischen Jugend. Einmal pro Jahr unterzieht sich der Kanzler
auch heute noch einem "Einkehrwochenende" bei den Benediktinern in Stift Seckau
in der Steiermark.
Ein Politprofi
Wolfgang Schüssel
ist ein Politprofi. Noch im Jahr seines Studienabschlusses wurde er
Sekretär des ÖVP-Parlamentsklubs, 1975 bis 1989 war er
Generalsekretär des Österreichischen Wirtschaftsbundes. Mit Rudolf
Sallinger, dem langjährigen Chef der Vereinigung, verband ihn eine
Vater-Sohn-Beziehung. Von 1979 bis 1996 war Schüssel mit Unterbrechungen
Abgeordneter zum Nationalrat, 1989 stieg der redegewandte Politiker, der einen
bescheidenen Lebensstil pflegt, als Bundesminister für wirtschaftliche
Angelegenheiten zum Spitzenpolitiker auf.
Wolfgang Schüssel ist
mit einer Kinderpsychologin verheiratet und Vater einer Tochter (geb. 1973) und
eines Sohnes (geb. 1987). Der schlagfertige Mann mit den stählernen Nerven
und der blitzschnellen Auffassungsgabe hat auch Hobbys: Er spielt gerne
Fußball wie Violoncello und ist ein begabter Karikaturist. |