opus magnum

Rolf Kaufmann
Die Krise des Tüchtigen

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DER ANTIKE PHARISÄER IM VERSTÄNDNIS DER TIEFENPSYCHOLOGIE

Was wir von den Pharisäern wissen -Ein geschichtlicher Rückblick

{106}  Geistig wurde Paulus von der pharisäischen Tradition geprägt, wie er an einigen Stellen seiner Briefe erwähnt. Im Philipperbrief (3,5. 6) sagt er von sich: «Beschnitten am achten Tage ... , ein Pharisäer nach dem Gesetz ... , in der im Gesetz verlangten Gerechtigkeit untadelig geworden.» Paulus war also ein «Musterpharisäer». Er charakterisiert sich im Galaterbrief mit den Worten: «Ihr habt ja von meinem ehemaligen Wandel im Judentum gehört, dass ich ... weiter ging als viele Altersgenossen in meinem Volk, indem ich in besonders hohem Maße ein Eiferer für die Überlieferungen meiner Väter war» (Gal 1,13. 14).

{107}  Wenn wir nun wissen, was das Ideal des Pharisäers war, dem Paulus als junger Mann nacheiferte, dann erhalten wir wertvolle Informationen zur Beurteilung der Persönlichkeit des Paulus. Was bedeutete es damals, ein eifriger Pharisäer zu sein? Für eine Untersuchung wie die vorliegende ist dies wichtig zu wissen; denn wenn wir, zum Beispiel im Gefolge einer einseitigen christlichen Verbrämung der Pharisäer, von dieser religiösen Partei zur Zeit Jesu ein verzerrtes Bild malen, ziehen wir falsche Rückschlüsse auf die Struktur der Persönlichkeit des jungen Paulus.

{108}  Das hier skizzierte Bild folgt den einschlägigen Darstellungen (vgl. L6, 13, 15, 36,47) und versucht, die historisch gesicherten Fakten über den Pharisäismus festzuhalten. Diese sollen dann in einem zweiten Schritt tiefenpsychologisch untersucht werden.

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{109}  Ihren engeren geschichtlichen Ursprung scheinen die Pharisäer im zweiten vorchristlichen Jahrhundert zu nehmen, als das Volk Israel sich unter der Führung der Makkabäer der inneren und äußeren Bedrohung durch die Seleukiden und die hellenistische Mentalität widersetzte. Alle Israeliten waren sich einig, dass die Griechen dem Volk Jahwes unter keinen Umständen ihren heidnischen Kult auferlegen durften. Während nun die einen dieses Ziel durch eine geschickte politische Taktik zu erreichen suchten, waren die radikaleren Kreise der Chassidim (der «Frommen») anderer Ansicht: «Unmöglich», sagten sie, «den Glauben zu verteidigen, wenn man auch nur die geringste Berührung mit den Heiden zulässt! Man muss als Jude unter Juden leben und alles als unrein und unreligiös von sich weisen, was nicht jüdisch ist. Der wahre Gläubige muss sich von allem Heidnischen und von jedem < absondern) (= aramäisch <parusch>), der einer Ansteckung durch das Heidentum verdächtig ist.» Abgesonderte, Peruschim, Pharisäer - so bezeichnete man die Anhänger dieser puritanischen Richtung. Die Pharisäer scheinen um 135 vor Christus erstmals als eigene Partei politisch aktiv in Erscheinung getreten zu sein, indem sie für ihre heilige Sache gegen die «Paktierer mit dem Heidentum» einen Bürgerkrieg entfesselten, der sie - trotz ihrer Niederlage nach außen - im Volk populär gemacht zu haben scheint. Sozial entstammen sie vornehmlich den mittleren Schichten, vor allem den Kreisen der Kleinhandwerker. Vielleicht kann man den Pharisäismus als eine Art konservativ-puritanisch-pietistische Bewegung kennzeichnen, die auf die persönliche Frömmigkeit und die persönliche Heiligung des Lebens das größte Gewicht legte.

{110}  Man muss sich vergegenwärtigen, dass das Volk Israel zu jener Zeit politisch und religiös außerordentlich gefährdet war. Der Seleukidenkönig Antiochos IV. , von dem Polybios in seinen Annalen erzählt, er habe in dem Ruf gestanden, mit Vorliebe Heiligtümer zu berauben, hatte im Jahre 167 v. Chr. Jerusalem erobert und das Heiligtum geplündert und geschändet. Die Häuser wurden verbrannt, die Stadtmauern geschleift, Frauen und Kinder als Sklaven verschleppt - Jerusalem war ein Trümmerfeld, und die neu aufgebaute Stadt wurde hellenistisch verwaltet und organisiert. Gesetzestreue Jerusalemer fanden kein Wohnrecht mehr darin, sondern nur noch die obrigkeitsfreundlichen Hellenisten unter den Juden. Diese bevorzugte Behandlung der Kollaborateure mit der fremden Besatzungsmacht ging Hand in Hand mit der totalen Unterdrückung der jüdischen Religion. Alle kultischen Akte wurden ohne Ausnahme verboten. Weder durften Opfer dargebracht noch der Sabbat gefeiert werden. Die Beschneidung wurde untersagt. Die heiligen Schriften, deren man habhaft werden konnte, wurden vernichtet. Die Ausübung von Kultakten für Jahwe wurde mit der Todesstrafe geahndet. Dafür wurde - um das Maß in den Augen der Frommen übervoll zu machen - im heiligen Bereich ein fremder Kult eingeführt: in Jerusalem wurde ein Abbild des Zeus Olympios aufgestellt. Die Makkabäerchronik (2 Makkabäer 6,1 ff.) berichtet: «Nicht lange darauf sandte der König einen alten Athener, der die Juden zwingen sollte, von den väterlichen Gesetzen abzufallen und nicht mehr nach den Geboten Gottes zu leben; auch sollte er den Tempel in Jerusalem entweihen und ihn nach dem olympischen Zeus benennen ... Dieser Ansturm der Bosheit war für die große Menge schwer und unerträglich. Denn der Tempel war mit Schwelgerei und Gelagen erfüllt durch die Heiden, die mit Buhlerinnen scherzten und in den heiligen Vorhöfen Weibern beiwohnten und noch dazu mancherlei Unziemliches hineinbrachten.» Die apokalyptische Trostschrift, die in Daniel 7-12 überliefert ist, spricht vom «Gräuel der Verwüstung». (Die Apokalyptik - wörtlich «Enthüllung» oder «Offenbarung» - ist eine damals aufkommende Geheimlehre für Eingeweihte, welche einen nahe bevorstehenden Äonenwechsel, das Weltende und das kommende Gottesreich, verkündigt.) Auch auf dem Lande wurden heidnische Altäre errichtet. Die Regierung setzte Kommissare mit dem Sonderauftrag ein (wie alt doch gewisse Praktiken in unserem 20. Jahrhundert sind!), die jüdische Religion abzuschaffen.

{111}  Für Israel war alles in Frage gestellt. Es lief Gefahr, seine weit über tausend Jahre alte Identität zu verlieren. In dieser Zeit extremer Bedrohung, wo ein ganzer Äon vor der Katastrophe stand, wurden gewaltige Umbruchsfantasien aus der Seelen tiefe des jüdischen Volkes emporgeschleudert und im archaischen Apperzeptionsschema konkretistisch gedeutet: die Apokalyptik mit ihrem Bild vom vergehenden bösen und vom kommenden guten Äon breitete sich aus. Teilweise entnahm sie ihr konkretes Anschauungsmaterial dem persischen Dualismus (Palästina stand einst auch unter persischer Oberherrschaft), teils der Verkündigung der alten israelitischen Propheten. Gottesreich und Weltreich standen einander nun immer mehr feindlich gegenüber. Im Bewusstsein der frommen Kämpfer für die Sache Gottes ging es um den Endkampf gegen die widergöttliche Gewalt, welche diese Welt peinigte. Dadurch, dass man sich durch frommen Gehorsam in den Dienst Jahwes stellte, erhoffte man, dem prophezeiten Untergang der bösen Welt entgehen zu können. Denn, so war der Glaube, dereinst wird sich Gott wieder als Gott erweisen und seine Majestät am Tage des großen Gerichtes wieder ans Licht bringen. Man glaubte also noch an die eigene Identität, auch wenn sie noch so sehr in Frage gestellt war. Dieser Glaube hat dieses Volk seit jeher gerettet. Wer sich jetzt schon auf der Seite Gottes hielt, konnte hoffen, das Endgericht heil zu überstehen. Dieser apokalyptische Mythos ist die Antwort der Psyche der damaligen jüdischen Chassidim auf die totale Bedrohung durch übermächtige äußere und innere Gegner. Bei der Beurteilung der Apokalyptik darf man die «apokalyptische Sphäre» ihrer Entstehung nicht vergessen.

{112}  Als Hitler 1939 zum Angriff blies, hatten auch wir aufgeklärten Europäer sehr oft nur noch apokalyptische Bilder bereit, um die furchtbare Lage zu charakterisieren. Oder wenn wir uns das gegenwärtige militärische Rüstungspotenzial in Ost und West und die gedankenlosen Sprüche von einem «begrenzten Atomkrieg» etwas genauer überlegen - auch dann tauchen unwillkürlich Bilder apokalyptischen Inhalts vor unserem inneren Auge auf. Die Apokalyptik entsteht in Tiefenschichten unserer Psyche, zu denen unser nur rationales Bewusstsein keinen Zutritt hat. Der apokalyptische Mythos entspringt dem Zustand tiefster Aufgewühltheit und äußerster Bedrohung all dessen, was der Mensch als Kulturwerte empfindet. Er spendet Trost in einer Zeit, da in der Welt nichts Trostreiches mehr zu sehen ist.

{113}  Auf diesem Hintergrund muss man die Pharisäer zu verstehen versuchen. Ihr großes Verdienst ist es, die jüdische Religion dank der Verinnerlichung und Individualisierung des Glaubens und besonders der Ethik vor dem endgültigen Untergang gerettet und damit dem jüdischen Volk seine Identität bewahrt zu haben. Denn im Jahre 70 n. Chr. ereignete sich die Katastrophe von 167 v. Chr. nochmals, und das jüdische Volk wurde endgültig von seinem Tempel getrennt und in alle Welt zerstreut. Wären damals die Inhalte der jüdischen Religion noch früharchaisch an den Tempelkult gebunden gewesen und hätten nicht die einzelnen Frommen das Göttliche in den «Worten der Weisung» finden können, dann wäre dies das Ende des Volkes Israel gewesen. In diesem Vergeistigungs- und Individualisierungsprozess der jüdischen Religion spielten die Pharisäer eine sehr wichtige Rolle. Das Volk konnte nun seine Identität ohne Land, Tempel und Heilige Stadt bewahren.

{114}  Die Pharisäer bildeten einen Verband von Gesetzeseiferern auf breiter volkstümlicher Grundlage. Sie sind die Vorläufer des Rabbinismus. Es geht ihnen vor allem um die richtige Auslegung des Gesetzes Gottes, der am Berg Sinai geoffenbarten Tora. Wer nach der göttlichen Weisung lebt, gehört - zwar noch verborgen vor den Augen der Welt - schon jetzt dem «Gottesreich» an, und zwar nicht mehr nur als Kollektivglied des auserwählten Volkes, sondern auf Grund seiner eigenen persönlichen Frömmigkeit. Diese Individualisierung der Religion auf breiter Basis verwirklicht zu haben, ist das Hauptverdienst der Pharisäer; deshalb darf man sie wohl mit den europäischen Puritanern und Pietisten vergleichen, welche gleichfalls, neben der mittelalterlichen Mystik, zur Verinnerlichung des christlichen Glaubens Wesentliches beigetragen haben.

{115}  Die Pharisäer sind eine kämpferische Organisation. Vor allem der Sünde wird der Kampf angesagt. Sie fordern eine strikte Trennung von den Sündern, wie schon ihr Name sagt: «die Abgesonderten». Das hebräische Wort für «sich absondern» heißt aber gleichzeitig auch «heilig sein». Der Kampf und die Reinhaltung sind heilige Dinge! Dementsprechend werden auch die göttlichen Gebote, die sich in der Tora und Halacha finden, peinlich genau befolgt. Im Gegensatz zu laxeren religiösen Parteien empfehlen die Pharisäer beispielsweise die Meidung der so genannten Adiaphora, der an sich nicht sündhaften Dinge, die einen aber vielleicht doch zur Sünde verführen könnten; der Fromme errichtet - wie man damals sagte - einen «Zaun um die Tora», damit der Chassid auch noch gegen alle eventuellen Anfeindungen gefeit sei! Zu diesem Zwecke musste das Gesetz Gottes immer breiter auf immer mehr konkrete alltägliche Dinge hin ausgelegt werden. Die immer feinere Verästelung des Gesetzes in alle möglichen Fälle des Lebens hinein (was natürlich nur mit einer hoch entwickelten, spitzfindigen, rationalen Auslegungstechnik möglich war, welche die Schriftgelehrten meisterhaft beherrschten) bot dem Frommen zwar einerseits einen zuverlässigen Schutz in seinem Bestreben, es seinem Gott recht zu machen; aber andererseits führte diese übertriebene Kasuistik auch zu einer Einengung des Gläubigen, der sich wohl oft, wenn er an geistigen Turnübungen nicht großen Gefallen finden konnte, verunsichert gefühlt haben mag: «Was gilt denn überhaupt? Ist nicht bloß noch die geistige Elite fähig, den Willen Gottes zu erkennen? Und die weniger Gebildeten, die Frauen und Kinder - sind sie vom Gottesreich ausgeschlossen?» Der Pharisäismus zeigt einen stark intellektualistischen Einschlag. Es wird wohl zutreffen, dass die Pharisäer ihren Gegensatz zu den Ungebildeten gerne zur Schau trugen.

{116}  Ein weiteres wichtiges Element für die geistige Einstellung der Pharisäer ist ihre Betonung des freien Willens. Um Gott zu gefallen und Eingang in sein Reich zu finden, muss man Gottes Gesetz halten; dies ist dem Menschen prinzipiell durchaus möglich, wenn er nur will und sich Mühe gibt. Gerechtigkeit ist Willenssache! Die menschliche Leistung ist für die Stellung des Menschen vor Gott entscheidend. Das führt zur puritanischen und leistungsbetonten Lebensweise mit ihrer peinlichen Befolgung einer Unsumme von Gesetzen, die man alle auswendig gelernt haben muss, um sich im Leben so zurechtfinden zu können, wie es Gott gefällt. Ein Kernsatz lautet: «Gott tut des Menschen Willen, wenn der Mensch Gottes Willen tut» (Pirqe Aboth II 4). Auch die göttliche Allmacht schränkt die menschliche Willensfreiheit nicht ein: «Alles ist vorausgesehen; aber der freie Wille ist gegeben» (III 15), und damit wird der Mensch für alles, was er tut, verantwortlich. Dies ist eine sehr heikle Lehre! Denn der Schluss liegt nur allzu nahe: «Wenn es dir schlecht geht, bist du selber Schuld!» (vgl. Hiob). Für die Bildung des sittlichen Bewusstseins des einzelnen ist sie aber außerordentlich bedeutsam; über ihre Schattenseite muss weiter unten die Rede sein. Diese rigorose puritanische Auffassung führt natürlich nicht nur zu einem außergewöhnlichen Pflichtbewusstsein, sondern auch zu Überängstlichkeit und großen inneren Spannungen; oft sind Depressionen dabei die Folge, gegen die auch der Stolz auf die eigene Leistung nicht mehr hilft.

*

{117}  Für die tiefenpsychologische Auswertung und Charakterisierung des Pharisäismus seien die wichtigsten oben erwähnten Punkte kurz zusammengefasst:

{118}  - . Der Pharisäismus ist bestimmt vom apokalyptischen Sehnen und Hoffen auf die Ankunft des Messias, des ewigen himmlischen Königs, der die gegenwärtige böse Weltzeit zu Ende führen und das Gottesreich aufrichten wird am Tage seiner Ankunft, wo er endgültig die Böcke von den Schafen scheiden wird. Entstanden ist dieser apokalyptische Mythos in einer Zeit äußerster politischer und geistiger Bedrohung durch «böse Mächte», welche die eigene Identität, die eigenen heiligen Überlieferungen und Überzeugungen zerstören und so den eigenen Kosmos dem Chaos ausliefern wollten. In der Fantasie der Beteiligten ist die ganze Schöpfungsordnung in Gefahr, der «Sündflut», dem Tohuwabohu, den «Schlingen der Hölle», den «Klauen Satans», den Mächten der Zerstörung preisgegeben zu werden.

{119}  - . Diese «feindlichen Mächte» scheinen derart in der Übermacht zu sein, dass ihnen gegenüber keine aktive Konfrontation (im Sinne eines Angriffs und der Einverleibung des Gegners durch dessen Assimilierung) mehr gewagt werden kann; sondern es bleiben nur noch Verteidigung, Rückzug und Bewahrung des Bisherigen. Eine Getto-Mentalität breitet sich aus. In vielen Märchen kommt dieses Problem im Thema der «Flucht» zur Sprache. Auch dort ist jeweils die böse Macht derart stark, dass sich der Held nur durch die Flucht retten kann. Es gibt im Leben Situationen, wo der Mensch sich nur noch durch Flucht und Absonderung bewahren zu können scheint. Falscher Stolz und tollkühner Mut würden sich in einer solchen Lebenslage verheerend auswirken. Dies sind aber immer gewisse Ausnahmezustände. Im Normalfall muss die aktive Auseinandersetzung mit dem inneren und äußeren Gegner gewagt werden; denn die Abkapselung führt zur Isolation (die Pharisäer lebten in einem völligen geistigen Getto) und somit mit der Zeit zu großen inneren und äußeren Spannungen. Das dualistische Weltbild der Apokalyptik ist nur solchen Extremsituationen des Lebens adäquat und wirkt, wenn es verallgemeinert wird, in einer normalen Lebenslage schädigend und einengend. Es fördert eine neurotische Spaltung der Persönlichkeit. Denn der Kampf des Lebens muss unter gewöhnlichen Umständen gewagt werden. Die pharisäische Neigung zur Absonderung vom «Bösen» ist wohl leicht einfühlbar; sie darf aber nie zum «heiligen Prinzip» gemacht werden, das die Polarität des Lebens dualistisch zerreißt.

{120}  - . Die Neigung zur Spaltung hat im normalen Leben auch eine gewisse Unredlichkeit zur Folge. Man ist nicht mehr wahrhaftig, sondern blendet die eigene Unvollkommenheit nur allzu gerne aus - und dann erscheint sie im «bösen» anderen, wie das Bild Jesu vom Splitter im Auge des anderen und dem Balken im eigenen Auge aufdecken will. Darum werden im Neuen Testament die Pharisäer einmal sogar mit frisch getünchten Gräbern verglichen, die auswendig schön, innen aber voller Unrat seien (Mt 23,27). Der verallgemeinerte Vorwurf der Heuchelei ist aber wohl nicht gerecht; denn das Bemühen um das Gute kann trotz negativen Folgen subjektiv ehrlich gemeint sein.

{121}  - . Die Absonderung vom «Bösen» erzeugt auch, wie die Geschichte leider immer wieder zeigt, starke Aggressionen. Der Typ des Pharisäers ist ein sehr kämpferischer Mensch, der immer viele Feinde um sich schart. Er funktioniert nach dem Mechanismus der Sündenbockpsychologie: weil das eigene Böse nicht sein darf, aber natürlich trotzdem da ist, wird es nur außen in der Projektion am andern erfahren -und dort auch bekämpft! Wer dauernd Gegner anzieht, ist ein gespaltener Mensch, dessen gespaltene Psyche sich in seinem äußeren Leben realisiert. Ein solcher stets für das Gute Kämpfender sollte wohl einmal in sich gehen und sich fragen, warum er wohl so viele Feinde hat. Vielleicht liegt es auch an ihm selber? Leider werden diese Kämpfe dann auch noch häufig nach dem Motto «Der Zweck heiligt die Mittel» geführt - und somit pervertiert der «heilige» Kampf meistens in sein Gegenteil, nämlich in die primitivste Grausamkeit und Unmenschlichkeit, wie die Geschichte immer wieder zeigt. Wie bestialisch wurden doch all die «heiligen» Kriege geführt! Die «pharisäische» Mentalität der Abspaltung vom Bösen ist nicht unschuldig daran (es handelt sich hier aber um ein Phänomen, das sich keineswegs auf die historischen Pharisäer reduzieren lässt, sondern in bestimmten Strukturen der Psyche begründet liegt, aus denen auch der historische Pharisäismus erwachsen ist).

{122}  - . Zum dualistischen und aggressiven Moment kommt noch die Betonung der eigenen Leistung dazu. Wenn der Mensch durch Befolgung des göttlichen Willens Gott dazubringen kann, des Menschen Willen zu tun, dann ist das eine Ansicht, die jedem echt religiösen Menschen als Gotteslästerung erscheinen muss. Denn das ist die Mentalität der Fünf-Jahres-Pläne! Die Macht des freien Willens wird hier überbetont. Wenn aber das Irrationale wie ein gefährlicher Hund in Ketten gelegt wird, beginnt es sich bald auch wie ein Höllenhund zu benehmen - und wehe, wenn er losgelassen! Die Ansicht, das Schicksal sei durch unsere Willenskraft manipulierbar, ist Ausdruck der menschlichen Hybris und erzeugt Krebsübel.

{123}  - . Ein letzter Punkt: der Intellektualismus der Pharisäer. Indem fast alle ihre Schritte im Leben zum Voraus im weit verzweigten Netz ihrer göttlichen Weisungen festgelegt waren, wurde die Kreativität und Spontaneität erheblich eingeschränkt. Bevor ein Schritt getan werden konnte, musste man ja einen Moment innehalten und sich fragen: «Ist es recht so?» Am besten plante man gleich alles zum Voraus, . damit keine «dummen» Spontanreaktionen eintreten konnten, die einen aus dem Geleise werfen würden. Alles Instinktive und Direkte wurde nur soweit toleriert, als es mit dem göttlichen Gesetz übereinstimmte. Das Leben wurde somit verplant und ins Prokrustesbett des Nomismus gezwängt. Dieses ständige Sich-vergewissern-Müssen, diese ewige intellektuelle Kontrolle über das Leben musste doch mit der Zeit zu einer Verarmung im emotionalen, kreativen, erotischen und instinktiven Bereich führen, sodass der Mensch zu dem Wahn kommen musste, sein Fundament sei nicht mehr die Natur, sondern das Rationale. Er ist dann nicht mehr schöpferisch, kann nicht mehr frei spielen.

{124}  Bei aller Kritik müssen wir aber festhalten, dass der Pharisäismus einst vor allem für die Entwicklung des sittlichen Bewusstseins des Menschen unschätzbare Dienste geleistet hat. Seine Mängel sind - wie bereits festgehalten - sein Dualismus mit der dazugehörigen Sündenbockpsychologie, sein Intellektualismus, die Überbetonung von Willenskraft und Leistung und damit der Stolz, die Hybris der Überschätzung unserer menschlichen Tüchtigkeit. Die Kehrseite der glänzenden Medaille der hohen Entwicklung menschlichen Könnens ist die Verkümmerung des Spontanen und Kreativen, der Verlust der Verbundenheit mit den natürlichen Instinkten, welche zum Beispiel die Sexualität und die Kindererziehung in den ersten Jahren nicht mehr - wie noch beim ursprünglichen Menschen - im Naturganzen beheimaten (vgl. viele heutige junge Paare!).

{125}  Wir müssen zusammenfassend feststellen, dass die antiken Pharisäer bereits eine psychische Grundstruktur besaßen, welche der unsrigen heute ähnlich ist. Dies ist natürlich nur auf dem Hintergrund der antiken Hochkulturen möglich geworden. Nun gab es bereits damals Ansätze zu einer Weiterentwicklung, zu einer Überwindung des Dualismus, zur Aufhebung der Wirksamkeit der Sündenbockpsychologie, zur Assimilation der Naturseite - wie dies heute bei uns auf breiter Basis der Fall ist. Man suchte das ursprünglich Ganze.

{126}  Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, wollen wir versuchen, anhand der psychoanalytischen Modelle von Freud und Jung noch etwas tiefer ins Wesen des Pharisäismus einzudringen. Die Tiefenpsychologie kann das Verständnis der Geschichte erheblich vertiefen, wenn sie dies mit der geforderten Sorgfalt tut und den jeweiligen historischen Umständen Rechnung trägt.

Das Wesen des Pharisäismus in tiefenpsychologischer Sicht

{127}  Es soll nun versucht werden, die den Pharisäismus prägende Lebenshaltung noch etwas tiefer zu verstehen, und zwar dadurch, dass wir zuerst die freudsche und hernach die jungsche Ansicht von der Entwicklung der menschlichen Psyche heranziehen - dies natürlich in der hier gebotenen Kürze. Bekanntlich hat Freud als erstes Stadium der Entwicklung der kindlichen Libido die orale Phase genannt, die Zeit also, in der das Kind «Säugling» ist, vom Saugen und davon lebt, dass alles in den Mund gestopft wird. Das Kind ist psychisch mit der «Mutterbrust» noch eins. Während des Stillens herrscht ein «ozeanisches» Lebensgefühl des Einsseins von Kind und Mutter vor. Das Kind lebt psychisch symbiotisch mit seiner Mutter. In der «oralen Regression» kann auch der Erwachsene das Gefühl dieses «ozeanischen» Verschmelzens des eigenen Ich mit seiner Umwelt und seiner Seelentiefe wieder erleben, beispielsweise sexuell im Orgasmus.

{128}  Mithilfe dieses Begriffes der «oralen Regression» lässt sich das Wesen des Pharisäismus aber nur negativ bestimmen, und zwar insofern, als wir feststellen müssen, dass die Erlebniswelt des Pharisäers nicht von diesem symbiotischen Gefühl gegenseitiger Verschmelzung zur Einheit geprägt ist. Der Pharisäer ist der Trennende: «parusch» = «sich absondern, heilig sein». Er ist von der Zahl zwei und nicht der Eins bestimmt.

{129}  Das Lebensgrundgefühl des Pharisäismus lässt sich besser den beiden nächsten Phasen im Entwicklungsmodell der kindlichen Libido bei S. Freud zuordnen: dem Stadium des Analen (anus = After) und des Ödipalen (Ödipus heiratete seine Mutter).

{130}  In der analen Phase lernt das Kind, zu Gunsten der Forderungen der Umgebung auf eigenen Lustgewinn zu verzichten. Es lernt trennen, sich zum Beispiel von seinen Körperausscheidungen zu trennen, diese herzugeben. Es soll sich an seinem warmen Fäkus, der langsam durch das After schleicht, nicht mehr freuen und darf diesen nicht behalten, sondern muss ihn abgeben; es soll auch nicht selbstvergessen an den Fingern lutschen; es muss seine Bedürfnisse, gehätschelt zu werden, oft zurückdrängen. Es darf «der Natur nicht mehr freien Lauf lassen», sondern muss «sich zusammenreißen». Dafür erntet es Lob und Zuwendung; wenn es sich «sozialisiert», das heißt, den Wünschen der Umgebung fügt, wird es «lieb» und «gut». Lob und Zuwendung für das «Brav-Sein» sind das Wasser und Brot, an dem sich die Seele des gefügigen Menschen erlabt. Der Mensch erhält jetzt seine Fassade. Dressur kann ihn zur Fassaden-Existenz verleiten. In der analen Phase kann «die Milch der frommen Denkungsart» herangezüchtet werden. Damit aber wird das Kind un-selb-ständig. Es entwickelt ein Ich, welches sich nur noch an den Normen seiner Umgebung orientiert. Für das Ich ist dann nur das «Man tut» wichtig, welches an die Stelle des Ureigenen als des Zentrums der Gesamtpersönlichkeit tritt. Winnicott nennt dies ein «falsches Selbst» (welches vielen späteren Depressionen zu Grunde liegt), weil das Ich allzu sehr nur fremdbestimmt ist und die ureigenen Impulse nicht ins Leben einbringt. Die eigene selbstständige innere Orientierung, die viel geschmähte so genannte «Selbstverwirklichung», fehlt. Das Eigene wird aus Angst vor Strafe verdrängt. Das Ich wird eingeengt; «Scheuklappen» kennzeichnen das Bewusstsein dieser Menschen, die sehr fleißig, gehorsam, dienstfertig usw. sind, damit sie mit fremdem Lob ihr Selbstwertgefühl erhalten können. Für Lob und Tadel anderer sind sie lebenslänglich überempfindlich. Wie sich dieser Typ religiös verhält, schildert K. Lüthi (L 51/S. 140f.) prägnant:

{131}  Die Religiosität, die sich auf die Stufe der Analität bezieht, ist diese: Gottesdienst wird hier innerweltlich als Arbeit, als kulturelle Leistung, als Produktion verstanden. Geld ist Ausdruck des göttlichen Segens ... Calvinismus. Auf anale Prägungen weisen aber auch ein puritanischer, dualistischer Glaube und entsprechende Haltungen hin ... Die Problematik des Weiblichen oder der Bezüge zwischen dem Weiblichen und religiösen Haltungen unterscheidet sich in dieser Phase eindeutig von der ersten, oralen Phase. Eine dualistische Religiosität und die ihr entsprechende Wirklichkeitsgestaltung definiert die Frau als die Andere ... Leicht stellen sich dann Unterscheidungen wie rein und unrein ein, und man schämt sich dann der Frau; man ordnet sie der sog. schmutzigen Sexualität zu, und sie wird so die Unordentliche und die Verführerin! Auch fürchtet man sich vor der Frau; man ist von ihr bedroht und vermutet, dass sie die Welt der Ordnungen und Leistungen in Frage stellt.

{132}  Zweifellos trifft diese Schilderung auch auf den antiken Pharisäismus zu. Zu dieser «analen Grundprägung» des Pharisäismus kommen nun noch Momente der dritten frühkindlichen Phase nach Freud hinzu, die das Wesen des Pharisäismus bestimmt haben, nämlich starke Elemente des Ödipalen.

{133}  Was ist damit gemeint? Damit sich der Knabe von seiner «Mutter» absetzen und selb-ständig auf eigenen Füßen stehen kann und nicht von ihr vereinnahmt wird (passiver mythologischer Inzest), muss er sich mit dem «Vater» und all dem, was die Väter-Welt bestimmt (Autorität, Ansehen, Willensstärke, Härte, Ausdauer, Gesetze, Vernunft, Zuverlässigkeit, Rationalität) identifizieren und versuchen, dem nachzueifern, was ihm als Ideal nun heilig wird. So wird er davor bewahrt, wie der mythische Ödipus seine «Mutter» heiraten zu müssen, das heißt, als Unfreier seinem Unbewussten verhaftet zu bleiben. Das ergibt den eifrigen Sohn, der sich massiv von der Welt der «Mütter» absetzt. Die väterlichen Instanzen werden im Überich introjiziert, das heißt, in sich hineingenommen als Teil seiner selbst. So wird dann das Leben stark vom «Vater» bestimmt; die ganze Kultur wird patriarchal, von einem positiven Vaterkomplex geprägt. Überall gibt das Männliche den Ton an. Wichtig ist auch immer der Logos, das Wort, das Denken, das Rationale, das scharfe Unterscheiden-Können, auch Haarspaltereien. K. Lüthi schreibt weiter:

{134}  «Die eben skizzierten kulturellen Muster haben eine Entsprechung im Raume der Religiosität und der Theologien. Es geht hier um die Überhöhung der Vaterautorität durch die Gottesautorität. Der kulturelle und gesellschaftliche Paternalismus erfährt eine mächtige ideologische Stützung durch Religionen. Die Macht und Bedeutung des Vaters ist unmittelbar einsichtig für das Judentum, für den Islam und für das Christentum.» (S. 143).

{135}  So weit K. Lüthi. In seiner «Religionspsychologie», in welcher H. Faber (L 17) diese freudschen Phasen als Leitbilder zur Beschreibung verschiedener Formen von Religion benutzt, hat er dem Pharisäismus ein eigenes Kapitel gewidmet. Auch er bringt den Pharisäismus in einen engen Zusammenhang mit dem nachhaltigen Einfluss des Reinlichkeitstrainings während der analen Phase:

{136}  «Wir meinen, dass das Leitbild des Pharisäismus der Struktur des Leitbildes der zweiten Entwicklungsphase und damit des analen Leitbildes entspricht» (S. 188). Für den Pharisäismus erkennt Faber als sehr wichtig, dass die Pharisäer ein Ansehen genießen, sowohl bei Gott als auch im Volk. Von diesem Ansehen leben sie! Es ist die Grundlage ihres Selbstwertgefühles. Dieses Ansehen gewinnen sie durch ihre Leistung, in der «ein übertriebenes Ordnungsgefühl zum Ausdruck kommt. Die Pharisäer sind zwanghafte Menschen; sie können nichts durchgehen lassen. Es muss alles bis aufs I-Tüpfchen stimmen. Sie geben ein Bild von unfreien Menschen ab, die unter ihrem Gewissen (dem Überich) leiden» (S. 188).

{137}  Ihr Gewissen (man denke an alle die kultischen Reinheitsvorschriften!) ist aber stark vom Reinlichkeitstraining geprägt. «Unter dem Einfluss des Sauberkeitstrainings entsteht das deutliche Gefühl <du musst) und <du darfst nicht), etwa im Sinne von <ich bin dazu verurteilt ... , wenn ich akzeptiert werden will). Das Sauberkeitstraining ist mit der Angst vor Statusverlust verbunden ... Der Pharisäer ist in gewissem Sinne der Manager in der jüdischen Gesellschaft zurzeit Jesu» (S. 189). Hierher passt die Gestalt des «Workoholic», der ja gleichfalls einseitig rational einem «falschen Selbst» folgt.

{138}  In der freudschen Schule wird die Grundhaltung des Pharisäismus in Zusammenhang gebracht mit einem allzu übertrieben gehandhabten Reinlichkeitstraining der Kinder, das in der analen Phase eingesetzt hatte. In dieser Zeit also können dem Kind die Sauberkeitsprinzipien der Mutter so sehr in Fleisch und Blut eingeimpft werden, dass das Kind einen zwanghaften Ordnungsfimmel bekommt. Die freudsche Schule betrachtet die Erscheinung des Pharisäismus vom persönlichen und familiären Aspekt her. Diese Betrachtungsweise hat sicherlich ihre Berechtigung. Mir scheint aber, hier werde die Beeinflussung eines Menschen durch die Erziehung zu stark betont. In jeder Familie mit mehreren Kindern kann man doch beobachten, wie die einen von klein an «leicht zu führen», gehorsam, gefügig und brav sind und vorwiegend darauf achten, es ihren Erziehern «recht» zu machen, während andere Kinder derselben Familie eigenständiger, eigensinniger und rebellischer sind und «mit dem Kopf durch die Wand wollen». Die pharisäische Lebenshaltung muss also auch etwas mit der Erbanlage zu tun haben, in der Weise, dass gewisse Menschen von klein an sich lieber durch «Vernunft und Ordnung» von außen her bestimmen lassen, während andere mehr ihrer eigenen inneren irrationalen Stimme des Gefühls folgen. Ordnungsliebend veranlagte Menschen können durch einen puritanischen Zeit- oder Familiengeist leicht zu zwanghaften Pharisäern gemacht werden, wobei - wie Freud dies klar erkannte - die Weichen zur Fehlentwicklung in der analen Phase falsch gestellt wurden (man kann natürlich noch weiter zurückgehen).

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{139}  In der jungschen Schule versucht man, die Erbanlage eines Menschen ernster zu nehmen, die im Laufe der Jahre durch das Umweltmilieu geprägt wird, wie eine Pflanze durch den Boden, in welchem sie heranwächst. Der Ordnungsgeist und die Neigung, stets «vernünftig» und «angepasst» zu reagieren, wird nach dem jungschen Modell also nicht nur von außen her eingeimpft, sondern entsprechend «konstelliert» durch das Zusammenwirken von Vererbung und Umwelt. Man spricht hier vom Archetyp des Logos, der bei entsprechender Veranlagung und Erziehung konstelliert werden kann, sodass eben der zwanghafte Pharisäer entsteht.

{140}  Der Typ des Pharisäers ist der Extremfall des Menschen, der das, was ihn vom Tier unterscheidet, allzu sehr hervorheben will und sich dabei einseitig mit seiner Rationalität, mit dem «Licht der Vernunft», dem «hellen Kopf», der Kultur und der Freiheit seines Willens gegenüber der Natur und Leiblichkeit identifiziert. Diese «Sonnen-Seite» des Menschen ist im Keim in jedem enthalten; aber sie entwickelt sich natürlich nur, wenn sie durch eine entsprechende Kultur gefördert wird.

{141}  Dies mögen zwei Beispiele aus ganz verschiedenen Kulturen veranschaulichen. Das erste Beispiel stammt aus einem «pharisäischen» Milieu des viktorianisch geprägten Europa.

{142}  Wie es in einem solchen Fall in der Psyche eines vierjährigen Mädchens (am Ende des ersten Weltkrieges) bereits ausgesehen hat und wie es im Leben dann mit diesem «engelhaften» Kinde herausgekommen ist - die Grundstruktur war in diesem Fall mit 4 Jahren bereits geprägt -, das soll die Folgende kurze Besprechung zweier Träume dieses kleinen Mädchens zeigen. Die beiden Träume lauten (L 41/S. 115 f.):

{143}  «Der Rollladen des einen Fensters hebt sich ganz sachte, und ich erblicke eine Hochzeitskutsche, die auf dem Kiesweg des Gartens daherfährt und um die Hausecke einbiegt. In der Kutsche sitzt ein Hochzeitspärchen, auf dem Bock als Kutscher der Teufel. Plötzlich fängt die Kutsche an, lichterloh zu brennen und verschwindet in der aufsteigenden Flamme. Ich fürchte mich sehr.»

{144}  «Ich stehe im Badezimmer unseres Hauses und betrachte mich im Spiegel. Da sehe ich, wie mir ganz langsam Flügel aus den Schultern herauswachsen, sodass ich einem Engelein gleiche.»

{145}  Dieses Kind fürchtet sich also davor, was draußen im «Naturpark» bei einer Hochzeit geschieht. Da ist der Teufel dabei, und das Feuer der Leidenschaft verzehrt einen. Das Mädchen ist von diesem «teuflischen» Naturvorgang nicht nur durch die kalte Fensterscheibe, sondern sogar noch durch die Rollläden abgeschirmt. Sie tut nur ganz sachte einen kurzen Blick in die wahre Welt und die Tiefe ihrer Natur - und erschreckt so sehr darüber, dass sie sich im Badezimmer reinigen (Buße tun, die Sünde abwaschen) muss. Das gelingt ihr auch, und ganz langsam wird sie zu einem «Engelein» werden, das seinen «Rollladen drunten hat». Mit ein wenig Fantasie und Erfahrung kann man sich vorstellen, was dieses geistig veranlagte Kind für Eltern hatte. Jung berichtet von diesem überbraven Kind, als daraus bereits eine Medizinstudentin geworden war, «dass sie noch nicht Mensch geworden ist» (S. 130). «Sie ist ... von sehr zartem Aussehen, sehr scheu und überaus empfindsam, sodass sie kaum wagt, die Patienten anzurühren, aus Angst, ihnen weh zu tun. Sie hat religiöse und philosophische Interessen und macht bei der Oxfordbewegung mit. Sie sehen, dass die Träumerin immer noch die Engelein-Einstellung hat. Sie ist gegen die Welt abgekapselt, lässt die Welt noch nicht in sich hinein. Sie ist noch richtig im Ei drin» (S. 130f.). Jung spricht in diesem Zusammenhang auch vom mangelnden Körperbewusstsein und davon, dass beispielsweise eine Ohrfeige solchen Menschen wenigstens wieder in Erinnerung bringe, dass sie überhaupt noch einen Leib haben ...

{146}  Wird also der obere Pol zu sehr betont, so führt dieser Dualismus zu erheblichen Schwierigkeiten im Leben, weil die ganze untere Hälfte in die Verbannung gedrängt wird und dort negativ zu wirken beginnt. Man kann sich etwa ausmalen, was für eine Pein dieses Fräulein als Medizinstudentin im Seziersaal ausgestanden hat, wenn es zum Beispiel im Gedärm oder an den Genitalien herumschneiden lernen musste und die «bösen Buben» ihre Angst für derbe Scherze ausnützten!

{147}  Nun hatte dieses Mädchen auch philosophische und religiöse Interessen und suchte den «Weg nach oben» aktiv in einer pietistischen religiösen Gemeinschaft. Dies zeigt, dass Philosophie und Religion offensichtlich dieses Obere gleichfalls hoch eingeschätzt haben. Sie unterstützten den Höhenflug des Mädchens, was ihre Systemtrennung zementierte. In Kulturen, in denen diese Systemtrennung, dieser Graben zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, oben und unten, Verstand und Trieb nie so tief getrieben wurde, blieb ein ganzheitlicheres Lebensgrundgefühl erhalten. Man blieb natürlicher, «primitiver». Da sich keine so großen Spannungen ergaben, war man auch konservativer; alles blieb etwa beim Alten. Eine Geschichte in unserem Sinne fand gar nie statt. Wozu auch? Rene Gardi berichtet von einem solchen Stamm, der noch nicht in den Strudel unserer Entwicklung hineingerissen wurde:

{148}  «Voksi, der Großvater, trug die zweijährige Tochter seines zweiten Sohnes auf dem Arm und schäkerte mit ihr ... Dann putzte er ihr mit einem Blatt das verschmierte Naschen und rannte einer gackernden Henne nach, die entrüstet flüchtete. Das Kind jauchzte vor Vergnügen und pisste dem Großvater in der Aufregung über den Arm; aber das kümmerte ihn wenig. Manchmal auch lag Voksi faul und mit der ganzen Welt zufrieden vor seinem Hof auf einer Matte, und die kleinen Kinder kuschelten sich an ihn (L 26/S. 275).»

{149}  Das ist noch das Leben in der Natur- und Instinktnähe, im ewigen Kreislaufseiner selbst.

{150}  Hier haben sich die beiden Pole des «Himmels» und der «Erde», des «hellen Kopfes» und des «dunklen Unterleibes», des Rationalen und des Irrationalen noch nicht so stark voneinander entfernt, dass zwischen ihnen ein unüberbrückbarer Graben aufklaffen könnte. In der jungschen Begrifflichkeit spricht man hier davon, dass in ursprungsnahen Kulturen der Archetyp des Logos noch nicht scharf vom Archetyp des Eros getrennt werde, wie dies in unserer jüdisch-christlich geprägten Kultur der Fall sei.

{151}  Dennoch aber - so etwa E. Neumann (L 59, L60) - scheint die Entwicklung des Menschen aus der «Ursprungseinheit» einer spannungsarmen Naturzeit des Urmenschen hinein in eine Phase der Trennung zwischen «oben» und «unten» für den Menschen aller Kulturen arttypisch zu sein - nur ist eben das Maß dieser Trennung verschieden. Die beiden Pole erscheinen psychisch in verschiedenen Bildern. Nach E. Neumann entsteht die Gleichung: «Kopf- Ich - oben -Himmel und der Gegenpol: Unterer Körperpol - Nicht-Ich - unten - Erde. Auf ihr beruht die archetypische Symbolverbundenheit von Kopf - Bewusstsein - Licht und Sonne und ihr chthonischer Gegensatz: Unterer Körperpol -Triebseite- Dunkel und Erde» (L 59, S. 138).

{152}  Für die Entwicklung des Pharisäismus auf der Grundlage der antiken Hochkulturen ist nun entscheidend, dass hier der Kopf-Pol für das herrschende Kulturideal eine solche faszinierende Macht erhielt, dass der Leib-Pol als negativ qualifiziert wurde. Diese Macht des «Himmels» wurde in der Antike übereinstimmend von allen Kulturvölkern des mediterranen Kreises als männlich empfunden und qualifiziert, und die «Erde» (also die Macht des Eros-Poles der Psyche) wurde als weiblich betrachtet und geschildert.

{153}  Wenn das Kopf-Ich nun im Laufe der Entwicklung sich dem Leib und seinen Bedürfnissen gegenüber als «Herr», als Meister, als bestimmend erweisen wollte, dann musste es zu diesem in Gegensatz treten; vermochte es sich nicht von diesem abzusetzen, wurde es dessen Sklave, weichlich und «weibisch». Es vermochte dem Kultur-Ideal nicht zu genügen (vgl. den Film «Schweiz Transit»). Die Befreiung des Ich zu einem «freien», logischen und vernünftigen Verhalten, das Bauen des Kultur-Turmes (aus dem so leicht ein Babylonischer Turm wird), nahm in der Alten Welt eine sehr lange Zeit in Anspruch. Das rationale Verhalten wurde nur sehr mühsam erworben. Diese riesigen Anstrengungen zur Befreiung des Ich aus den «Schlingen der Großen Mutter» spiegeln sich in den Heldenmythen der mediterranen Völker wider, wo ein Held im Kampf den Mutter-Drachen besiegt und sich so seinen Freiheitsraum erobert, also ein richtiger «Mann» wird. Mithilfe dieser Mythen wurden die jungen Männer damals motiviert, es den bewunderten Freiheitshelden gleichzutun.

{154}  Der Freiheitskampf entspricht aber einer kriegerischen Mentalität. Es geht immer um Heldenkämpfe und Schlachten. In dieser Phase der Entwicklung (wir scheinen uns heute ihrem Ende nähern zu müssen!) ist der Mensch eine Kriegsgurgel, wie die Geschichte aller patriarchalen Völker bis zum Überdruss lehrt. Der Mensch merkt in dieser Phase noch nicht, dass das Kämpfen-Müssen in Wirklichkeit ein Zeichen von Schwäche und mangelnder Reife ist; er meint noch, der Sieger auf dem Schlachtfeld sei wirklich der Sieger, und realisiert noch nicht, dass es Frieden nur geben kann, wenn alle mitleben dürfen.

{155}  Ein solcher Freiheits-Sonnenheld ist für Neumann etwa die mythische Gestalt des Simson (Schämäsch = Sonne!) im Alten Testament (Richterbuch, Kap. 13 ff.). Simson, der «helle Kopf» mit seinen gescheiten Rätseln, kämpft gegen die Philister, die noch dem matriarchalen, instinktverbundenen Fruchtbarkeitsprinzip verhaftet sind (auf diese «Heiden» wird der negativ qualifizierte Leib-Pol projiziert). Simson ist in seiner Ich-Stärke noch nicht sehr gefestigt und verfällt mehrmals seiner Triebhaftigkeit, seiner unbewussten Instinktwelt, die im Bild der Göttin Astarte und der Dirne Delilah erscheint. Sowie er dieser erdgebundenen Welt verfällt, wird er geblendet und seiner Haare (dessen, was aus dem Kopf wächst) beraubt und muss als Gefangener der Heiden dem Fruchtbarkeitsgott Dagon in instinktiver Stumpfheit und ewigem Kreisen um dasselbe die Mühle drehen. Mit der Jahwe-Kraft hat Simson, der Sonnenheld, «den Kopf verloren» - das Schlimmste, was einem Menschen von biblisch-jüdischer Mentalität passieren kann.

{156}  Das Ich, das sich hier gegen das Erdhafte, Chthonische und Instinkthafte abzusetzen versucht, qualifiziert seinen Gegenpol, wie dies bei Absetzungsversuchen immer der Fall ist, als negativ. So hat das Judentum den heidnischen Kult, in welchem elementare Vorgänge des menschlichen Unbewussten dargestellt wurden, einfach als ethisch minderwertig, Hurerei, Sodomie usw. gebrandmarkt. Das hat im Laufe der Jahrhunderte natürlich zu einer Vereinseitigung des Menschen geführt, der zu große Kopflastigkeit erhielt.

{157}  «Die Ent-Sakralisierung der heidnischen Werte ist im Kampf für Monotheismus und Bewusstseinsethik notwendig und zeitgeschichtlich ein Fortschritt gewesen, hat aber zur völligen Entstellung der Ursprungswelt der alten Zeit geführt» (L 60/S. 33).

{158}  Insbesondere muss hier bemerkt werden, dass das Judentum und dann auch das Christentum wesentlich dazu beigetragen haben, Leiblichkeit und Sexualität abzuwerten (vgl. L69).

{159}  Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch M. L. von Franz: «Verglichen mit den übrigen mediterranen vorchristlichen Religionen, spielt die Naturbeziehung Jahwes eine viel geringere Rolle ... Jahwe fehlte eine intensive Beziehung zur kosmischen Natur ... »(L 21/S. 129).

{160}  Das Wesen des Pharisäismus hängt offensichtlich - wie die Schulen von Freud und Jung übereinstimmend zeigen - mit einer dualistischen Grundstruktur der Psyche zusammen, in welcher die für den Menschen arttypische Grundspannung zwischen «oben» und «unten» überbetont ist. Mochte die einseitige Faszination durch den Logos-Pol damals zur Erhaltung des jüdischen Volkes nötig gewesen und mag sie auch heute in einem gewissen Umfang für den jungen Menschen durchaus gesund und richtig sein, so ist ihre Zeit als einer prägenden Kraft unserer abendländischen Kultur heute doch überholt. Wir brauchen nicht noch mehr Tüchtige, die «oben» hinaus wollen, sondern solche, die die Gräben der Welt zu überbrücken vermögen, und dazu ist die Grundhaltung des Pharisäismus nicht in der Lage.

Die pharisäische Einstellung zum «Weibe» und ihre Bedeutung für die heutige Zeit

{161}  In der «Achsenzeit» (ca. 500 v. Chr. ; Max Weber, sodann Karl Jaspers) erfolgte im Nahen und Fernen Osten «ein Durchbruch des logischen Geistes, der von nun an immer stärker die Menschen zu bestimmen beginnt. Dieser Geist wurde wesentlich als männlich empfunden und von Männern getragen» (L 67/S. 229).

{162}  Israel nun war in besonderem Maße von diesem das Irrationale, Mondhafte und Chthonische ablehnenden Geist geprägt worden. Der Kampf gegen die heidnischen weiblichen Gottheiten und ihre Kulte, von denen weite Teile des Volkes fasziniert waren, drängte auch im täglichen Leben die Frau in den Hintergrund.

{163}  Das Weib soll sich dem Manne unterordnen. Dahinter steht der Kampf des Geistes, der zu Bewusstheit und Klarheit drängt, gegen die in der Ahnung, dem Gefühl und den Emotionen beheimateten Mächte (L 67/S. 229f.). Die patriarchale Entwicklung führt zu einer Umwertung und Entwertung des Weiblichen ... Die Welt des Alten Testaments ist weitgehend bestimmt durch diese Umwertung, in der alle mütterlich-erdhaft betonten Züge der kanaanäischen Vorwelt entwertet, umgedeutet und durch die patriarchalische JHWH-Wertung ersetzt werden. Dies gehört zu den Grundphänomenen der jüdischen Psychologie (L 60, S. 331).

{164}  Seit der «Achsenzeit» übte der Logos-Pol in der gesamten Antike mehr und mehr Faszinationskraft auf immer breitere Kreise der damaligen Bevölkerung aus. Auch die (mit Ausnahme des jüdischen Volkes) überall verbreitete Homosexualität dürfte mit dieser Höherbewertung des Männlichen zusammenhängen. Sogar der berühmte Philosoph Plato vertrat ja die Ansicht, wahre Liebe sei nur zwischen Männern möglich!

{165}  Selbstverständlich konnten sich auch gebildete Frauen dem Logos-Pol verschreiben, ihn anbeten und ihm dienen. Dadurch vermochten sie nämlich dem unwürdigen Schicksal zu entfliehen, als eigene Person nicht ernst genommen zu werden, sondern lediglich als Zielscheibe des verdrängten Irrationalen, der kompensierenden unvernünftigen Fantasien der Männer, dienen zu müssen. Deshalb wurden von vielen Frauen damals die «himmlischen Tugenden» auch fleißig geübt.

{166}  Wir wenden uns nun vorerst dem jüdischen Bereich zu. Wie war es damals im jüdischen Volk in der offiziellen Doktrin um die Frauen bestellt? (Vgl. L18,20, 56, 57, 76).

{167}  Priesterinnen hat es am Tempel zu Jerusalem nie gegeben; das priesterliche Amt ist allein dem Manne vorbehalten. Die Frau wird zur Zeit des Paulus ganz von der Teilnahme am Kultus zurückgedrängt und von den Männern getrennt; sie darf während der kultischen Handlungen nur im Vorhof der Frauen anwesend sein und auch da nur unter Wahrung der Reinheitsvorschriften. Auch außerhalb Jerusalems, also in den Gottesdiensten der Synagogen der Diaspora, waren die Frauen durch einen separaten Raum vom Hauptraum abgetrennt, wie die archäologischen Befunde zeigen. Auch galt es in der Regel als nicht erwünscht, dass die Frauen «die Schrift» lernten. Bekannt ist der Ausspruch von Rabbi Elieser: «Wer seine Tochter die Tora lehrt, der lehrt sie Ausschweifungen!» Das heißt, die Frauen kommen beim Lernen der Gebote und Verbote bloß auf «dumme» Gedanken, weil sie die sittliche männliche Kraft nicht aufbringen, den Versuchungen zu widerstehen ... Noch schärfer ablehnend zur Frau äußert sich Rabbi Juda ben Elai (2. Jh. nach Chr.): «Drei Lobpreisungen muss man jeden Tag sprechen: Gepriesen sei, der mich nicht zum Heiden machte! Gepriesen sei, der mich nicht zur Frau machte! Gepriesen sei, der mich nicht zum Ungebildeten machte!» (Tos. Berachoth 7,18). Schon aus diesen wenigen Äußerungen wird klar, dass das Bild der Frau maßlos von Projektionen verzeichnet war; die Männer sehen den Balken im eigenen Auge nicht und «erkennen» ihre Schattenseite im «andern» (dem gegenteiligen!) Geschlecht. Leider besitzen wir keine Zeugnisse von damaligen gewitzten jüdischen Frauen über die Männer! In ihrem engagierten Jesus-Buch sagt Hanna Wolff zur Stellung der Frau im Judentum zur Zeit des Paulus:

{168}  Die Umwelt, auf deren Hintergrund Jesus zu sehen ist, ist ein ausgesprochenes Patriarchat, ein hartes und starres Patriarchat (L 76/S. 75) ... Schon die Geburt eines weiblichen Kindes ist kein Anlass zur Freude. «Wehe dem, dessen Kinder weiblich sind!» Die Frau ist natürlich dem Manne «unterworfen» und hat zum Zeichen dessen z. B. die Pflicht, ihm die Füße zu waschen, auch wenn sie vier oder noch mehr Sklavinnen in die Ehe gebracht hat. Sie ist ein Wesen niederer Art, wie vor allem im sexuellen und religiösen Bereich deutlich wird. Schon «die Stimme an einer Frau ist etwas Unzüchtiges». «Für eine Mahlzeit gibt sie sich hin, beim dritten Becher Wein fordert sie bereits zur Unzucht auf, beim vierten bietet sie sich jedem Esel auf der Straße dar.» ... Die Berührung mit der Frau, der Beischlaf speziell, bleibt etwas Unreines. (Man wird hier interpretieren: «Natürlich, denn dadurch gerät ja das reine logische Denken in Verwirrung, und der Mann, der sich mit dem Hellen und Rationalen identifiziert, wird unsicher!» [d. Vf. ]). Dass mit dieser sexuellen Verfemung die menschliche und moralische einhergeht, verwundert nicht mehr. Die Frau ist «genäschig, horchsüchtig, träge und eifersüchtig, unzuverlässig und lügt», und darum darf sie kein öffentliches Zeugnis ablegen. Man soll sie meiden, wo man kann, nicht nur auf der Straße, überhaupt nicht unnötig mit ihr reden. Man soll ihr «überhaupt keinen Gruß entbieten», auch der eigene Mann nicht ... «Viel Weiber, viel Zauber» (S. 77f.). Animosität gegen das Weibliche war geradezu zum Gesetz der Gesellschaft erhoben (S. 79).

{169}  Asketinnen hingegen wurden geduldet, wie die Ausgrabungen von Qumran zeigen, wo sich aber die Frauen völlig den strengen asketischen Übungen der Männer anglichen - wie später etwa die Nonnen in den Klöstern des Christentums. So weit die Frauen also dem männlichen Ideal nacheiferten, waren sie im Judentum jener Zeit durchaus geduldet (ist es heute in unseren Industriebetrieben so viel anders?).

{170}  Ein Beispiel aus jener Zeit ist die frühchristliche Märtyrerin Perpetua, die mit 22 Jahren, kurz vor ihrem Tode, im Gefängnis mehrere Visionen hatte, deren letzte in unserem Zusammenhang besonders aufschlussreich ist. M. L. von Franz (L 22/S. 129) schreibt dazu:

{171}  «In der Endvision, in der Perpetua im Amphitheater mit einem riesigen Ägypter - dem Geist des Heidentums - kämpfen muss, wird sie zuerst von schönen Jünglingen entkleidet und mit Öl eingerieben. Dabei wird sie in einen Mann verwandelt, und als ein solcher, als ein «Miles Christi», besiegt sie dann den Feind. Clemens von Alexandrien zitiert eine zeitgenössische Schrift, die sagt, dass sich das Männliche im Jenseits nach dem Tode mit dem Weltgeist (Logos) unmittelbar vereinige, das Weibliche hingegen erst nach einem längeren Prozess der Vermännlichung ins Pleroma eingehe. Hier offenbart sich eine tiefe Tragik im Schicksal der christlichen Frau: Weil das Gottesbild des Christentums nur männlich ist, kann sie nur durch eine Entfremdung von ihrer eigenen, weiblichen Natur mit Gott eins werden. Dies ist aber nichts anderes als eine geistige Besessenheit, eine Auslöschung ihres weiblichen Bewusstseins ... »

{172}  Das Kulturideal ist übermäßig sonnenhaft-männlich geprägt. Dasselbe Phänomen der Vermännlichung des innersten Wesens der Frau ist aber auch heute - auch darin erscheint ein Erbe des «Pharisäismus» - recht weit verbreitet. An Stelle vieler Beispiele aus der Praxis möge hier nur ein Traum einer solchen - freilich extrem männlich diktierten Frau angeführt werden:

{173}  «Ich befinde mich im Estrich des Hauses und blicke nach oben ins Gebälk hinauf. Dort klettert ein Schweinchen hilflos herum. Es ist ganz zerschlagen und geschunden. Wie ich mich umdrehe, steht hinter mir mein ehemaliger Chef, überlebensgroß auf einem Tisch, und blickt mich drohend an. Ich bin völlig machtlos ... »

{174}  Wenn man sich daran erinnert, dass in zahlreichen matriarchalen Kulturen das Schwein als Ursprung allen Lebens gefeiert wird (so etwa bei den Yalis, wo auch der Mensch aus dem Urschwein entstanden ist), dann wird einem deutlich, was für eine ungeheure Umwertung aller Werte damals im Judentum erfolgt ist. Wenn das «innere Schwein» einer Frau mit seinem fein entwickelten Riechorgan nicht mehr die «Erde» aufwühlen und den lieben Mitmenschen unter die Haut und hinter die Fassade schnuppern darf, sondern im «Oberstübchen» im Gebälk herumklettern muss und dabei erst noch von einem männlichen Chef bedroht wird, dann muss man schon sagen: «Eine Frau, die solches träumt, ist von einem der Natur feindlichen Milieu ganz und gar auf den Kopf gestellt worden.» So etwas wäre in einer noch ursprünglichen, matriarchalen Kultur niemals möglich. (Es ließen sich mit Leichtigkeit viele weitere ähnliche Fälle aufzählen.)

{175}  Die Verketzerung des archetypisch weiblichen Bereiches führt besonders im Judentum zu dessen Verdrängung in die psychische Unterwelt, welche dann nur noch via Projektion erfahren werden konnte. Man erblickte sie im «sündhaften Weibe» sowie im «sündigen Heidentum», welches damals in einer Verfassung war, die diese Projektionen weitgehend zu rechtfertigen schien.

*

{176}  Wir wollen uns nun kurz der heidnischen Welt zuwenden. Damit der Leser wenigstens einen kleinen Einblick in die Zustände am kaiserlichen Hof zu Rom, dem «Nabel der Welt», wo die maßgebenden Leute im römischen Weltreich residierten, erhalten kann, sei hier ein längeres Zitat aus Bornemanns «Patriarchat» (L 7a) angeführt (dessen Theorie von der Minderwertigkeit des Mannes gegenüber der Frau ich als Mann natürlich niemals befürworten kann; es wäre doch - wenn schon! - Sache einer Frau, solches zu «beweisen»).

{177}  Es gab bis zu Antonius kein Gesetz gegen die Vergewaltigung von Sklaven durch ihre Herren. Da der Sklave nicht als Mensch, sondern als «Sache» seines Herrn galt, betrachtete das Gesetz einen solchen Akt nicht als Rechtsverkehr zwischen Menschen und deshalb auch nicht als homosexuellen Akt.

{178}  Catull meinte, dass es die moralische Pflicht des Sklaven oder Freigelassenen sei, seinen Herrn sexuell zu befriedigen ... Eine der übelsten Folgen dieser Verbindung von Sklaverei und Homosexualität war die Kastration von Sklaven, die der Erhaltung eines jugendlichen Teints, der Unterbindung von Haarwuchs und der Erzielung einer «schönen» (also knaben- oder mädchenhaften) Stimme dienen sollte ... Zweifellos hat das Vorbild der Herrscher die Form und den Verlauf der Homosexualität in Rom maßgeblich beeinflusst. Das gilt nicht erst für die Kaiser, sondern bereits für Cäsar und die Triumvirn ... »

{179}  Die ersten drei Jahrhunderte des Kaiserreichs waren ein ausgesprochenes Konsumzeitalter. Da die Produktionsmittel sich nicht mehr weiterentwickelten, schlug die Libido vom Schaffen ins Verzehren um. Auf sexuellem Gebiete bedeutete dies, dass fast jeder, der Geld hatte, so viele und so verschiedene sexuelle Erfahrungen zu sammeln suchte, wie er sich nur leisten konnte. Wie ein Neureicher unserer Tage, dem man gesagt hat, ein Mann von Welt müsse mit Austern, Kaviar und Schnecken vertraut sein, sich nun verpflichtet fühlen mag, auch geröstete Ameisen, gedünstetes Hundefleisch oder gehäutete Schlangen zu vertilgen, hat man bei den homosexuellen Affären der Kaiser oft das Gefühl, dass sie sich zu manchen dieser Aktivitäten geradezu zwingen mussten, um dem Lumpenproletariat Roms, von dem sie abhängig waren, jenen Herrschertypus darzubieten, von dem sie glaubten, er sei erwünscht.

{180}  Cäsar selber war zweifellos bisexuell und hatte keinen Grund, irgendjemandem vorzumachen, er sei lasterhafter, als er es wirklich war. Sueton meint (Cäsar 2), er habe als junger Mann dem König Nikomedes von Bithynien als Lustknabe gedient. Man warf ihm vor, er habe sich in Frauenkleidung dem König als «Rivale der Königin und Matratze des königlichen Bettes» angeboten ... Auch dem Antonius warfen sie vor, er habe in seiner Jugend als Lustknabe gedient und «sich damit viel Geld zusammengevögelt» (Dio Cassio 45, 26. Cicero Phil. 11, 18). Die Toga habe er zu einem Hurenkleid gemacht.

{181}  Dem Augustus warf man vor, er habe sich seine Adoption durch seinen Onkel, mit welcher seine eigentliche Laufbahn begann, dadurch erworben, dass er ihm als Lustknabe gedient habe. Lucius, der Bruder des Marcus, warf ihm dagegen vor, er habe seinen Hintern nicht nur Cäsar, sondern auch Aulus Hirtius in Spanien für 300000 Sesterzien preisgegeben ...

{182}  Der erste Fall einer eindeutig pathologischen Persönlichkeit unter den Cäsaren tritt uns in Nero entgegen, der in seiner Jugend bereits von seinem Lehrer zur Homosexualität erzogen worden war (Cassius Dio) und seinen Stiefbruder Britannicus anal vergewaltigt hatte, als dieser erst 14 war (Tacitus, Annalen XIII). Und wer war dieser Lehrer? Niemand anders als der große Moralprediger Seneca. Nachdem Nero zur Macht gekommen war, machte er sich die Welt zum homosexuellen Theater und das homosexuelle Theater, vor allem die Schauspieler, zu seiner bevorzugten Welt:

{183}  «Den jungen Sporus, den er entmannen und mit allen Regeln der ärztlichen Kunst zur Frau machen ließ, heiratete er mit rotem Schleier und voller Mitgift nach feierlicher Vollziehung der Hochzeitszeremonien unter großem Gepränge in seinem Palast und ließ ihn wie seine Gemahlin behandeln. Es existiert darüber noch heute ein nicht ungeschickter Einfall eines Witzlings, es wäre ein Glück für die Menschheit gewesen, wenn Domitius, der Vater, eine solche Gemahlin gehabt hätte! Diesen Sporus kleidete er in die Tracht der Kaiserinnen, ließ ihn in einer Sänfte tragen und führte ihn auf den Festversammlungen und Messen von Griechenland, und darauf auch zu Rom am Sigillarienfest, unter vielen zärtlichen Küssen als Begleiter mit sich umher. Seinen eigenen Leib gab er so sehr preis, dass er, nachdem fast kein Teil von ihm unbefleckt geblieben war, sich eine Art Spiel ausdachte, in welchem er, in das Fell eines wilden Tieres genäht, aus einem Käfig herausgelassen wurde und in diesem Aufzug sich auf die Schamteile von an einen Pfahl gebundenen Männern und Frauen stürzte, und, nachdem er seine Lust befriedigt hatte, sich von Doryphoros, einem Freigelassenen, fertig machen ließ, den er seinerseits zum Mann nahm, wie er den Sporus zur Frau genommen hatte, wobei er auch die Töne und Aufschreie von Gewalt leidenden Jungfrauen nachahmte» (Sueton, Nero, 28 bis 29) ... Trajan, «der Beste aller Fürsten», reiste stets mit einem paedagogium, einem Knabenharem, herum, der ihn auch während seines siegreichen Orientfeldzugs begleitete. Sein Nachfolger, Hadrian, war einer dieser Knaben ... Von dem Kaiser Commodius sagt Lampridius (5 und 10): «Er hat sich zum Werkzeug fremder Lust gebrauchen lassen, und kein Glied an seinem ganzen Leibe, der Mund nicht ausgenommen, ist von den unkeuschen Berührungen beider Geschlechter freigeblieben.» Besonders liebte er einen Freigelassenen mit ungewöhnlich großem Glied, den er seinen «Esel» nannte (Onosandros): «Er hatte ihn sehr lieb, machte ihn zum reichsten Manne und zum Oberpriester des ländlichen Herkules.»

{184}  Das jüdische Volk war nun im Völkermeer der damaligen Zeit eine einsame Insel, auf der noch klare Verhältnisse herrschten, weil der jüdische Intellekt in einem positiven Vaterkomplex beheimatet war und an den geheiligten Überlieferungen der Väter herumnagen konnte, bis seine Zähne stumpf geworden und das jugendliche bodenlose Vernünfteln vorbei war. Das jüdische Volk bildete, im Ganzen, mitten in dieser verunsicherten Welt des Ödipus gegen übermächtige innere und äußere Einflüsse auf das menschliche Ich einen Gegenpol, der in den Pharisäern seine puritanisch-extreme Quintessenz besaß.

{185}  In Abwandlung eines Paulus-Wortes («Der Geist ist zwar willig, das Fleisch aber schwach») könnte man die damalige Szene vielleicht so skizzieren: die durchschnittliche heidnische Welt war gekennzeichnet durch das Motto «Das Fleisch ist stark und der Geist ihm willig», während die Pharisäer dem Leitsatz nachzuleben versuchten: «Der Geist soll stark sein und das Fleisch ihm willig!» Man muss sich aber bei der Gegenüberstellung dieser Positionen erstens davor hüten, pauschalen Projektionen zu verfallen, und zweitens sollte man sich bewusst bleiben, dass auch die schönsten Glaubenssätze im Alltag noch lange nicht immer eingehalten werden; denn wenn unser Geist auch wirklich oft willig ist, so ist dann halt das Fleisch von Zeit zu Zeit doch wieder stärker ... Der Vorwurf der Heuchelei gegen die Pharisäer im Neuen Testament ist ja wohl nicht nur als Schattenprojektion zu verstehen, sondern dürfte teilweise auch gerechtfertigt sein. Wäre er es nicht, so wäre die Bekehrung des Paulus letztlich unverstehbar.

{186}  Zum Problem von «Fleisch» und «Geist» sei in diesem Zusammenhang noch eine Stelle aus einem Paulus-Brief zitiert. Es geht Paulus dort darum, wie er aus seinen Gemeindegliedern in Korinth Menschen machen konnte, die den «Lüsten des Fleisches» nicht mehr erliegen und fortan danach streben, «Früchte des Geistes» hervorzubringen:

{187}  «Oder wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht ererben werden? Irrt euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, noch Ehebrecher, noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habsüchtige, noch Trunkenbolde, noch Lästerer, noch Räuber werden das Reich Gottes ererben - und das sind euer etliche gewesen!» (1 Kor 6,9ff.)

  ...  ...  ...  ...  ...  ...  *

{188}  Was ist nun daraus für die heutige Frauenbewegung zu lernen? Doch ganz einfach dies: die Frauenbefreiungsbewegung ist symbolisch zu verstehen, als Befreiung des Eros-Prinzips, und somit genauso Sache der Männer wie der Frauen. Es geht um die Kultivierung des auf die Frau projizierten Eros-Bereiches, um dessen Rehabilitierung und Assimilierung in unser Kulturbewusstsein hinein. Die Sexwelle zerstört in dieser Hinsicht mehr, als sie diesem Ziel dient. Sie fördert nämlich bloß die Gegenposition, den Puritanismus, weil sie nicht Ausdruck eines integrierten Eros, sondern eines isolierten und darum instinktlosen Eros ist. «Treibhäuser» sind nicht die Lösung. Echte Frauenbefreiung wäre persönlich die Befreiung der Frau aus der Projektion des Mannes und kollektiv die Befreiung des Eros ins Tagesleben hinein. Das ist aber die Aufgabe von Mann und Frau zusammen (siehe L 25a).

{189}  Die ganze Diskussion um diesen Punkt ist meines Erachtens noch viel zu sehr mit unsachlichen Projektionen belastet. Im Gebiet der Theologie beginnt man beispielsweise von einer «Theologie der Frau» zu reden. Aber das wäre ein Holzweg, der in den Dschungel von Projektionen führt, anstatt uns weiterzuhelfen. Gemeint ist wahrscheinlich etwas ganz anderes, nämlich eine ganzheitliche, menschliche Theologie, in welcher der Eros zugelassen wird, wo das Irrationale die veralteten dogmatischen Gebäude sprengt und damit eine umfassende Erfahrung auch im religiösen Bereich wieder möglich werden lässt.

{190}  Zum Schluss möchte ich ein wohl instruktives Zitat einer älteren Theologin anführen (EPD vom 19. 2. 81):

{191}  «Ich kann Gott nicht als den verstehen, der unverrückbare Grenzen setzt, sondern nur als den, der Leben und Kommunikation ermöglicht und für den Gesetze und Ordnungen vergängliche Größen sind. Ich kann nicht mehr an ein feststehendes Dogma glauben, an eine abgeschlossene göttliche Offenbarung, die wir nur noch zu interpretieren haben. Nein, Gott ist größer, ist auch in mir, ist in der Schönheit und in den Farben und in der Tiefe des Lebens. Seine Gebote sind nicht abstrakt. Er ist als der Lebendige nah, nicht zu fassen, geheimnisvoll. Ich weiß zwar, dass diese Seite in der Theologie und in der Kirche immer auch da war. Aber wie viele andere habe ich das nie zu sagen gewagt, weil ich wusste, dass es von der Kirche, von einer Kirche der Männer, als heidnisch und als ketzerisch abgelehnt werden würde und in der Vergangenheit abgelehnt worden ist.»

{192}  Es ist unschwer zu erkennen, wie auch diese Frau projiziert, nämlich, der Puritanismus sei Sache der Männer: so wie der Eros der Frau, so wird der Logos dem Manne zugewiesen! Dieses Denkschema beruht aber auf einer unbewussten, instinktiven Basis und orientiert sich nicht an der wirklichen Realität von Mann und Frau, welche ja immer an beiden psychischen Mächten Anteil nehmen. Diese Theologin hat sich genauso einem Leben mit zu großer Kopflastigkeit verschrieben und den Eros-Pol genauso aus ihrer Theologie verdrängt wie die Männer auch. Das ist doch gehopst wie gesprungen! Beide Seiten hatten Angst, sich auf ein fruchtbares Hin und Her zwischen dem Oberen und dem Unteren überhaupt einzulassen. Die Angst vor der eigenen Eros-Seite und nicht vor der Ablehnung durch das andere Geschlecht dürfte der wahre Grund der Verdrängung des irrationalen Momentes gewesen sein. Die Angst vor dem Heiden und Ketzer in sich selber dürfte dieser und vielen anderen Theologinnen (und Theologen!) den Mund verschlossen haben und nicht so sehr die Angst, von einer puritanischen Umgebung nicht verstanden zu werden. Weil die eigene innere Umgebung, das eigene Gewissen also, allzu puritanisch war, darum fehlte der Mut, selbstständig und ursprünglich zu denken. Man sollte die Schuld nicht so leichtfertig auf andere abschieben.

{193}  Die Lösung des Problems der Frauenemanzipation liegt in der Auflösung der gegenseitigen Projektionen und dem ernsthaften Versuch, die Naturseite mutig ins Leben hinein zu integrieren. Das ist heute eine Angelegenheit, die nicht nur ein Geschlecht allein, sondern den Menschen als Ganzen betrifft. Der Mensch kann nur heil werden, wenn Mann und Frau je für sich ganz werden.

{194}  Der nächste Abschnitt soll dieses Problem von der ethischen Seite her beleuchten.

Der Pharisäismus als Phase der ethischen Entwicklung

{195}  Einer der bekanntesten mythischen Texte im Zusammenhang mit diesem Thema ist die biblische Paradiesesgeschichte mit dem Apfel. Uranfänglich, so heißt es, waren Adam und Eva im Paradies. Alles, was dort geschah, war offenbar «recht», weil es der ewigen Naturordnung entsprach. Sonnenschein und Regen, Liebe und Hass, Fröhlichkeit und Trauer wechselten sich in natürlichen Rhythmen ab, ohne das äußere und innere Gleichgewicht in der Natur zu stören. Alles blieb im instinktiv vorgegebenen Rahmen. Auch das ethische Verhalten der Menschen war in dieser früharchaischen Zeit von uralten, ewig tradierten instinktiv-natürlichen Ordnungen geprägt, ähnlich etwa wie das Zusammenleben der Tiere durch ewige Verhaltensmuster bestimmt wird. Dieser instinktive Geist der Ordnung ist ein Naturgeist, ein vorerst für uns einfach selbstverständlich und deshalb unbewusst wirkender Geist, der das Verhalten prägt.

{196}  Dann aber kommt bekanntlich die Schlange, das listigste aller Geschöpfe, die der Herr geschaffen hatte. Im Bild der Schlange erscheint ein Drang des Menschen, der sehr tief in uns verwurzelt ist. Die psychotherapeutische Erfahrung zeigt, dass die Schlange als Symbol viel mit unserem vegetativen Nervensystem zu tun hat, also einem Teil unserer Psyche entspricht, der irgendwo im zwielichtigen Niemandsland zwischen dem Bewusstsein und dem unbewussten Körpergeschehen haust. So tief sitzt dieser urmenschliche Drang, der uns dazu verleitet, selber wissen zu wollen, was uns gut tut und was nicht. Der Mensch ist ja bekanntlich ein Instinkt-Mangelwesen (A. Gehlen) und deshalb mehr oder weniger darauf angewiesen, mithilfe des Bewusstseins «richtig» zu leben. Das war am Anfang aber nur in sehr geringem Umfang nötig, weil die ewige, eng mit den Instinkten verbundene Sippenordnung klar vorschrieb, was erlaubt und was tabu war.

{197}  Je mehr aber diese uralten Ordnungen zerfielen (etwa durch Wanderungen, Kriege, Exogamie [Fremdheirat], Handelsbeziehungen, Reichsgründungen und die sich immer stärker meldende innere Schlange Adams, also das vernünftige «Selber-Wissen»), desto mehr musste der Mensch bewusst lernen, was «recht» und was «verboten» ist.

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{198}  So folgte auf dieses uranfängliche Stadium einer mehr instinktiv und kollektiv befolgten Ethik der Schritt zur bewusst verantworteten persönlichen ethischen Gesinnung. Aber es handelt sich hier natürlich um einen sehr lange dauernden Prozess, bis wir Menschen so weit sind, dass jeder Einzelne seine eigene «Selbstverwirklichung» auf einem ethisch hohen Niveau zu leben vermag! Sobald mit der steigenden Betonung des eigenen Verstandes die Instinktordnung der Sippe zerfällt, wird der Mensch seinen locker gefügten Trieben unterworfen, die oft zu wenig genau dosiert sind. Mit der Natürlichkeit verschwindet das Gespür für das gesunde Maß, das uns die Naturordnung vorgegeben hat.

{199}  Dieses muss nun von den verunsicherten Menschen bewusst gelernt werden, und es waren immer begnadete Einzelne, welche die Menschen zu lehren vermochten, was der gesunden Naturordnung, dem Willen des «Jenseits», entspricht. Sie erhielten ihre Einfälle durch ihre Verbindung mit den «jenseitigen» Mächten, also mit dem ursprünglichen Naturgeist des menschlichen Unbewussten, der sich mit dem Herankommen der «Schlange» immer mehr entfernt hatte, sodass die Welt des Menschen nicht mehr der Garten war, der dank den Ordnungen des Herrn der Natur im inneren und äußeren ökologischen Gleichgewicht blieb, sondern zur Welt wurde, wo Kain und jene Menschen hausten, welche die Sintflut und das Urchaos mit ihrem außer Rand und Band geratenen Treiben herbeiführten.

{200}  Gegen den Verfall des Menschen an seine nicht mehr fest gefügten Triebe und maßlos gewordenen Emotionen musste das Bollwerk der bewussten Ethik errichtet werden. Dies war das Werk herausragender Persönlichkeiten, welche von Neumann als «Große Einzelne» (L 61) bezeichnet werden. Durch jahrelange geistliche Übungen fanden sie die Verbindung mit den jenseitigen Mächten, und dadurch wurden sie fähig, zu verkünden, was dem Großen Geist «recht» war und somit der ewigen (dank diesen «Großen Einzelnen» wieder erkennbaren) Naturordnung entsprach. Durch den Kontakt mit den «jenseitigen Wesen» hatten sie Zugang zu deren dem gewöhnlichen Menschen verborgenen Willen gewonnen.

{201}  Für das jüdische Volk waren diese herausragenden «Großen Einzelnen» Moses und die Propheten. Dank ihrem Wirken, das anfänglich immer auf Widerstand gestoßen war, sich aber dann dank seiner notwendenden Wirkung doch allmählich durchsetzen konnte, kam das Volk Israel in den Genuss einer jahrhundertelangen gründlichen und immer mehr bewusst verfeinerten ethischen Erziehung, wie sie damals im mediterranen Raum einmalig war. So war dieses Volk wie kein anderes dazu berufen, der im Sumpf der zerfallenden uralten Ordnung absinkenden Menschheit des späthellenistischen Zeitalters «Mores zu lehren». Wir werden weiter unten sehen, was für ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein das jüdische Volk damals wirklich besaß.

{202}  Der Pharisäismus nun hatte diese ethische Entwicklung damals auf die Spitze getrieben, auf einen Höhepunkt, der seine hellen Licht-, aber auch seine dunklen Schattenseiten aufwies.

{203}  Ungezügelter Egoismus, sexuelle Triebhaftigkeit, panische Angstreaktionen, übertriebene Neugier, Naschhaftigkeit, Jähzorn, Faulheit, Unaufmerksamkeit, Lüge, Eitelkeit und alle übrigen schädlichen Seiten wurden durch systematische Erziehung nach dem Motto «Wen der Herr liebt, den züchtigt er» ausgemerzt aus dem Gott geheiligten Volkskörper. Der jüdische Mensch hatte gelernt, sich so zu beherrschen, dass er dem genau fixierten Willen seines gestrengen Gottes und Herrn nachzuleben vermochte, so weit das menschenmöglich war. Der Einzelne war nun nicht mehr einfach dadurch automatisch des Heilswillens seines Gottes gewiss, dass er dem geheiligten Volke angehörte und die vorgeschriebenen religiösen Riten im Kollektiverband mitvollzog; sondern jeder musste sich nun persönlich darum bemühen, den Gotteswillen zu befolgen. Der Einzelne hatte von den Propheten lernen müssen, dass kollektiv vollzogene Riten nicht mehr genügen: «Nicht Tempelopfer will ich, sondern Recht und Gerechtigkeit», hieß der Gottesspruch im Munde der Propheten seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert. Der Einzelne bekam nun ein Gewissen, mit welchem er sein Tun und Lassen individuell an den göttlichen Vorschriften messen konnte. Neumann nennt dies «das Stadium der ethischen Einzelverantwortung» (S. 55), welches durch den Pharisäismus maßgeblich ausgebaut wurde.

{204}  Seine Schattenseite ist die Sündenbockpsychologie - in der wir auch heute noch weitgehend verhaftet sind, wie jedermann täglich erfahren kann. Die Sündenbockpsychologie kommt durch eine rigorose Erziehung ohne Verständnis für das Kind zu Stande. Was tabu ist, wird dem Kinde eingebläut. Es erfährt von klein an, dass es schmerzt und wehtut, wenn man der Kollektivnorm (die das göttliche Gesetz ist) nicht entspricht. Deshalb will das Kind lieb sein und dem Willen der Eltern, Erzieher und des Herrgottes möglichst entsprechen. Es wird gezwungen, einem Ideal nachzueifern, in welchem gewisse Teile seiner selbst nicht enthalten sind. Diese «bösen» Seiten werden so weit vergessen, dass sie ins Unbewusste absinken und dort, fern von der Kontrolle des bewussten Ich, ihr Wesen und Unwesen treiben. Das «böse» Eigene taucht dann im «bösen» Anderen wieder auf. Des eigenen «Bösen» wird man nur noch im Sündenbock ansichtig. Der Balken im eigenen Auge wird nur noch als Splitter im Auge des andern bemerkt. Hierhin gehört auch der Ausdruck «den Teufel an die Wand malen». Er wird aus dem eigenen Inneren an die Projektionswand des Sündenbocks gemalt.

{205}  Auf dieser ethischen Stufe brauchen die rechtschaffenen Bürger aller Zeiten Sündenböcke, an denen sie ihre eigene Bosheit lustvoll betrachten und dann ebenso lustvoll-sadistisch abreagieren können. Als Sündenböcke dienen vor allem «die anderen», andere Völker, Minoritäten des eigenen Volkes, aber auch Randsiedler der Gesellschaft. Viele Familien schaffen sich ihren Sündenbock; wie manche wohlgesittete Familie hat doch ihr «schwarzes Schaf» (das freilich nicht als solches geboren, sondern wegen gewisser Andersartigkeiten in diese Sündenbockrolle gedrängt worden ist). Jede politische Partei, jede religiöse Vereinigung, jede Gruppe Gleichgesinnter ist immer in Gefahr, sich solche Sündenböcke zu schaffen; denn dies stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Für Diktaturen ist es lebensnotwendig, «böse» Feinde zu haben, dank denen sie das Volk zusammenhalten können.

{206}  Zur Sündenbockpsychologie gehört das schreckliche Motto: «Der Zweck heiligt die Mittel!» Die Bösen auszurotten, das wird zur guten Tat. Man erkennt aber auf dieser Stufe der Entwicklung der Ethik noch nicht, dass diese Tat vor allem deshalb «gut» (bzw. wohltuend!) ist, weil sie endlich gestattet, das eigene Böse wieder einmal aus dem eigenen Keller herauszulassen, wo es bereits gefährlich mit den Ketten gerasselt hatte. «Gut» an der Ausrottung der Bösewichte ist also, dass die eigene Bosheit, die ja in den andern hineinprojiziert wurde, endlich einmal wieder zum Zuge kommen kann. Nun darf auch die verbotene Lust einmal sein - und das ist köstlich, weil man seine sittliche Instanz dabei täuscht und «gut» bleibt.

{207}  Die Sündenbockpsychologie ist der verheerende blinde Fleck der Ethik auf dieser Stufe des individualisierten Gewissens, wo jeder einzelne Bürger fähig geworden ist, zu merken, ob er in Übereinstimmung mit den kollektiven Normen lebt oder nicht. In dieser Phase der Entwicklung orientiert sich das Gewissen noch nicht ganzheitlich, sondern nur am Maßstab des Kollektivs: «Was sagen wohl die Leute, wenn ... ?» Dass es auch eine Verantwortung dem eigenen innersten Selbst gegenüber gibt, wird nicht erkannt. Solche Regungen werden als «egoistisch» abgelehnt. Das Göttliche wird nur im Kollektivgesetz gesehen.

{208}  Auch der Pharisäer Paulus lebte auf dieser Stufe; denn er verfolgte die junge christliche Gemeinde auf brutale Art. und zwar nur, weil diese seinem Kollektivideal nicht entsprach. Die Christen waren also seine Sündenböcke, an denen er «Dampf ablassen» und so seinen psychischen Haushalt einigermaßen im Gleichgewicht halten konnte.

{209}  Solches aber ist nicht möglich, ohne dass einer fanatisiert ist. Auch der Fanatismus gehört zu dieser Phase der ethischen Entwicklung. Der Fanatismus ist die Antwort auf den verdrängten und darum nur noch im Sündenbock sichtbaren eigenen Zweifel, dem sich zu stellen man nicht den Mut aufbringt.

{210}  Wenn Paulus gesteht, er habe die Christen «über die Maßen verfolgt und zerstört» (Gal. 1,13), dann ist dies nur unter dem Einfluss des Fanatismus erklärbar. Das Wort Fanatismus leitet sich ab vom lateinischen fanum = das Heilige, Heilsame, Heilbringende, der geweihte Ort. Der Fanatiker (lat.: fanaticus) ist der von einer Gottheit (einer psychischen Macht jenseits des Bewusstseins) in rasende Verzückung versetzte, also nicht mehr vernünftige Mensch (L 65). Wer fanatisiert ist, ist nicht mehr bei Sinnen, nicht mehr nüchtern, sondern übertrieben einseitig, starrsinnig, engstirnig, verbissen, unduldsam, fieberhaft, eigensinnig, maßlos aggressiv, unnachgiebig, unbeugsam, monoman, grausam.

{211}  Das Grundübel des Fanatismus ist seine unnatürliche Maßlosigkeit. Der Fanatiker ist nicht fähig, den goldenen Mittelweg zu beschreiten. Seine dualistische Grundstruktur treibt ihn zur Forderung: «Alles oder nichts!» Er ist aus der ausgewogenen Naturordnung herausgefallen.

{212}  Man kann nun den Pharisäer, wie dies Rudin getan hat, als «Fanatiker der ethischen Form» bezeichnen, «der in seinem individuellen Streben die ethische Formvollendung zu erreichen sucht. Die Psychotherapie spricht in diesem Falle meistens von <Perfektionisten>. Der Perfektionist will immer das Edelste, Reinste, Vollkommenste und will es in absolutem Grade. Er erträgt auch nicht den Schatten eigener Unzulänglichkeit (S. 105) ... So zahlreich die Varianten sind, allen ist der Grundzug des Perfektionismus gemeinsam: die Hauptworte in ihrem Vokabular sind von erschütternder Einfachheit, immer ist die Rede vom <Charakter>, von der (geraden Linie), vom (Geist des Ganzen) ... In der Hitze des Kampfes gilt nur noch das Idol des (Unter-keinen-Umständen-Nachgebens>, des (Auf-keinen-Fall-schwach-Werdens) ... Der Gegner wird rücksichtslos verdächtigt, karikiert, heruntergerissen, angeprangert» ...

{213}  «Wenn ein solcher Perfektionist nicht eines Tages ins Gegenextrem fällt oder doch noch den Weg zu einer maßvolleren, dem geschöpflichen Daseinsniveau entsprechenderen Haltung findet, dann kann er in die tiefe, alles zerfressende Verzweiflung geraten. Das Leben erscheint sinnlos und unerträglich, weil die Ideale, die man so kompromisslos vertritt, undurchführbar sind; alles scheint wertlos, denn der Höchstwert, den man unerbittlich anstrebt, bleibt aus; die Perfektion ist unerreichbar. Depressionen melden sich; Destruktionsimpulse werden wach, und die Gefahr des Suizides wird akut. Eines Tages freilich macht sich auch beim Perfektionisten das Gesetz der Enantiodromie (Gegenläufigkeit) bemerkbar. Dann brechen nicht allzu selten die Gegentendenzen in primitiv-chaotischer Form durch, und aus dem Perfektionisten wird - für die Umgebung unbegreiflich, für den Psychologen aber schon längst vorausgesehen - ein Laxist - vielleicht gar ein militanter Amoralist und Immoralist.» ... (S. 106) So weit J. Rudin in seiner wirklich «unfanatischen», schönen Studie über den Fanatismus.

{214}  Damit dürfte der Pharisäismus als Phase innerhalb der ethischen Entwicklung umrissen sein. Bei der Beurteilung oder gar Verurteilung dürfen wir allerdings - es sei hier nochmals gesagt - nicht vergessen, in welchen historischen Gefahrenmomenten der Pharisäismus damals lebte. Dann werden uns der Fanatismus und die Sündenbockpsychologie auf dem Hintergrund einer riesigen Existenzangst verständlich.

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{215}  Umso erstaunlicher ist dann aber die Tatsache, dass die nächste ethische Stufe in ebendemselben Volk bereits vor 2000 Jahren unter denselben äußeren Umständen zum Vorschein kam. Im nächsten Abschnitt soll von Jesus kurz die Rede sein. Denn ohne ihn ist der Umschlag in der Persönlichkeit des Pharisäers Paulus nicht denkbar. Durch den Geist Jesu wurde der Pharisäer Paulus zum Christen.

{216}  Die neueren Untersuchungen über den historischen Jesus, die auf den Ergebnissen der seit 1956 wieder frisch in Gang gekommenen «Leben-Jesu-Forschung» basieren, heben alle die im Leben Jesu zum Vorschein kommende vereinigende Kraft hervor (vgl. L25, 36, 45): Jesus vereinte Getrennte. Es ist bekannt, dass Jesus als «Gottgesandter» solche Menschen um sich scharte, die dem verachteten «Pöbel» entstammten, dass er sich mit Frauen in geistige Diskussionen einließ, dass er «unnütze» Kinder als Vorbild für die Gläubigen hinstellte, gleichzeitig aber auch vereinzelt sittlich hoch stehende Pharisäer oder gar den reichen und gebildeten Joseph von Arimathäa für seine Sache zu gewinnen wusste. Mit dem Gleichnis von den beiden ungleichen Söhnen wirbt er um Liebe und Verständnis der korrekten Leute für jene, die gestrauchelt waren; es geht ihm offensichtlich um den Abbau der Sündenbock-Projektionen. Im Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner stellt er den ungesetzlich lebenden Zöllner als vor Gott mehr gerechtfertigt hin als den Pharisäer, weil dieser allzu selbstgerecht sei. Damit erweist er sich aber als ein ganzheitlich Lebender, der den Schatten nicht mehr dualistisch verbannt, sondern ins Leben hineinhebt, um ihn dort zu kultivieren. Hanna Wolff nennt Jesus mit ihrer etwas vehementen Art den ersten «nicht animosen Mann» inmitten einer von der Androzentrik (Zentrierung auf den Mann) beherrschten Antike.

{217}  Wie immer dem auch sei - Tatsache ist, dass bei Jesus weder die Sündenbockpsychologie noch die dualistische Abkapselung des Logospoles gelebt wurde, sondern dass in ihm eine vereinende Kraft zum Zug kam, welche das Leben nach Möglichkeit als Ganzes zu umschließen versuchte. Er war nicht nur Asket wie Johannes der Täufer gewesen, sondern scheint auch die Freuden gemeinsamer Gelage genossen zu haben, was ihm den Vorwurf eines «Schlemmers und Zechers, Freund von Zöllnern und Sündern» eingetragen hat (Mt 11,19). Er hat sich als Gotterfüllter von einer verachteten Dirne nicht nur die Füße waschen, abküssen und salben lassen (ein Pharisäer hätte dabei sicherlich die Beine schnurstracks hinaufgezogen ... ); sondern er hat sogar deren Liebe gegenüber jener des Pharisäers als vorbildlich hingestellt - was seinem guten Ruf nicht gerade förderlich gewesen sein dürfte ... Er wurde dann ja auch konsequenterweise als Sündenbock hingestellt und wahrscheinlich kurz vor dem alljährlichen Opfer des Passah-Lammes gekreuzigt. Seine Vollmacht, das Leben wieder als eines, als ein Ganzes und Heiles zu sehen und in dieser Richtung sozial wirksam zu werden, konnte aber in seinen Anhängern nicht mehr ausgemerzt werden, und so kam es dann zu jenen Erscheinungen, die unserem Osterfest zu Grunde liegen und die in der archaischen Apperzeptionsweise als leibliche Auferstehung verstanden wurden.

{218}  Wenn wir uns fragen, woher Jesus diese Macht nahm, Getrenntes zusammenzuführen, hoch und niedrig zu vereinen, Mann und Frau einander partnerschaftlich gegenüberzustellen, dann müssen wir heute, in der Sprache der Tiefenpsychologie, sagen: «Das sind eindeutig Auswirkungen des Archetyps des Selbst, jener unserem Ich transzendenten psychischen Macht, von der die Gesamtheit unseres Lebens gesteuert wird und die heute als eine die Gegensätze vereinende Größe gewöhnlich erst in der zweiten Lebenshälfte bewusst wird und zum Tragen kommt.» Es scheint, dass zu jener Zeit, als Paulus und Jesus lebten, die psychische Entwicklung im jüdischen Volk langsam in ein Stadium trat, da die Aufspaltung des Menschen in seine psychischen Gegensätze von oben und unten, licht und dunkel usw. auf einem höheren Niveau überwunden werden musste, weil der Dualismus mit seinem Fanatismus und seiner Sündenbockpsychologie samt der Verdrängung des Naturhaften ungesunde Ausmaße angenommen hatte. Die dualistische Spannung zwischen dem oberen und dem unteren Pol war übertrieben und darum lebensfeindlich geworden. Jesus war der begnadete Einzelne, der diesem Volk wieder eine gesündere Mentalität hätte bringen sollen. So wurde sein Name zum vereinigenden Symbol, das wieder Zukunft eröffnete.

{219}  Allerdings war die Zeit für dieses nächste Stadium noch kaum reif, und deshalb mussten Jesus und seine Getreuen entweder sterben, fliehen oder sich dann wieder den alten Normen anpassen (wie dies das Judenchristentum versuchte). Das war vor bald 2000 Jahren. Wie weit sind wir heute? Wir fragen uns: «Sind wir heute fähig, Ost und West, Süd und Nord, rechte und linke Parteien, Vorgesetzte und Untergebene, Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Weiß und Schwarz, Gastarbeiter und Einheimische usw. in Frieden zu verbinden und aus diesen verschiedenen Partnern etwas zu machen, das eine glückliche Vereinigung von Gegensätzen darstellt?» Die Frage stellen, heißt sie verneinen und gleichzeitig erkennen, dass auch wir heute noch tief in der durch den Dualismus gekennzeichneten Phase der ethischen Entwicklung drinstecken.

{220}  Mit seiner einenden Kraft, der Fähigkeit, Getrenntes zu verbinden, den Schatten zurück ins Leben zu holen, das Minderwertige zum Gleichberechtigten zu erheben, damit steht Jesus innerhalb der Tradition des Alten Testamentes aber nicht allein da. Die Pharisäer mit ihrer fanatischen Sündenbockpsychologie, in der nur der Gute etwas gilt, haben einen sehr wichtigen Wesenszug des alttestamentlichen Gottes nicht mehr realisiert. Denn bereits im Alten Testament ist oft das Minderwertige das Auserwählte, wie eine nur ganz bescheidene Auswahl aus der Fülle der Beispiele zeigen mag: der alte Abraham, von dem eigentlich nichts Neues mehr zu erwarten ist, bricht auf ins Neuland, wohin ihn die Verheißung führt. - Das versklavte und deshalb verachtete Volk wird aus den Händen des mächtigen Pharao befreit und in ein freies Land (freilich durch die Wüste!) geführt. - Der junge, unbedeutende Bauernsohn David schlägt Goliath und wird schließlich sogar König (in den umliegenden Ländern waren damals die Könige noch Abkömmlinge der Götter!). - Der Niedergang des Volkes Israel beginnt damit, dass das «Herrensöhnlein» Salomo (dessen Mutter Bathseba der Oberschicht des heidnischen Jerusalem entstammte) dieses Prinzip der Erwählung des Minderwertigen aufhob; alle Auflehnung der Propheten in der Folge konnte den Niedergang des Volkes nicht mehr wettmachen. Trotzdem aber lebte die Erinnerung an den Gott, der «den Elenden aus dem Staube erhebt und den Mächtigen in seiner Hoffahrt vom Throne stößt», in der religiösen Tradition weiter, wovon viele Psalmen und auch die Weihnachtsgeschichte künden, welche just die unansehnlichen Hirten auf dem Felde zu den Empfängern der göttlichen Freudenbotschaft von der Geburt des Erlösers im Stalle macht. Dieses Prinzip waltet auch in den Märchen, die in unserem Kulturraum Jahrtausende später entstanden sind: der Dummling, der Jüngste, der Unverstandene kann die Prinzessin oder den verborgenen Schatz heimholen und damit König werden. Genau in dieser gut alttestamentlichen Tradition von der Erwählung des Niedrigen, Kraftlosen, Unansehnlichen stand nun auch Jesus wieder, der nach dem Mythos in einem elenden Stall zur Welt kam und vor seiner herrlichen Auferstehung den Kreuzigungstod als Verfluchter Gottes erleiden musste (nach der Tora war verflucht, wer am Pfahl hängt). Mit den ihm verliehenen Kräften wusste Jesus diese Tradition der Erhöhung des Niedrigen zu leben. Auch er war bloß Sohn eines Zimmermanns. Seine Erwählten stammten zu einem großen Teil aus dem verachteten «am haarez», der Plebs, dem niedrigen Volk. Mit seinen Gaben wusste er aus ihnen aber «Söhne Gottes» (= Könige!) zu machen. Seine Predigten und Gleichnisse sind voller Beispiele aus der «unteren Sphäre»: Schatz im Acker, Fische im See, Lilien im Felde, Kinderspiele usw.

{221}  Bereits aus diesen wenigen Angaben dürfte deutlich geworden sein, dass sich in Jesus auf dem Gebiet der ethischen Entwicklung eine Wandlung in eine neue Phase angebahnt hatte, in eine Phase, die nicht mehr vom Dualismus, von der Zahl zwei, sondern vom Ganzheitlichen, von der Zahl eins, geprägt ist. Trotz aller scharfen Polarisierung ist in der alt-testamentlichen Tradition die Idee der Vereinung der Gegensätze immer lebendig geblieben, und deshalb besitzt dieses Buch trotz seinen Mängeln ewigen Wert.

{222}  Die Wandlung von der Zwei hinein in die eins führt auf einer bewussten Stufe das wieder zusammen, was der eifrige Dualismus mit seinem idealistischen Menschenbild einst getrennt hatte - was mythisch «Vertreibung aus dem Paradies» heißt. Darum feiert die Christenheit in Jesus die Wiedergutmachung der Sünde Adams und nennt diese sogar eine «Glück bringende Schuld» (beata culpa), weil ohne die Schlangenschuld Adams der Erlöser ja gar nicht hätte kommen können. Wir wären dann immer noch von unbewussten Verhaltensmustern gesteuerte Geschöpfe. Durch die Mutation von der Zwei zur Eins sind wir aber berufen, das innere und äußere ökologische Gleichgewicht wiederherzustellen und damit wieder im Naturganzen drin zu leben, wie einst im Paradies, aber diesmal bewusst. Nun, diesen Zustand zu erreichen, ist etwa gleich schwierig wie die Quadratur des Zirkels; aber die Berufung bleibt.

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{223}  Diese Wandlung in eine neue Ethik hinein, wo das Getrennte wieder vereint wird, ereignet sich immer wieder; denn der Geist weht, wo er will. Wie sie sich etwa heute, in der politisch gespannten Lage des Staates Israel, auswirken kann, möge das folgende Interview mit Joseph Abilea zeigen:

{224}  Interviewer:  «Joseph, du bist einer der Dauerläufer unter den Friedenskämpfern in Israel. Es fällt mir auf, dass jedermann, mit dem ich hier in Israel spreche, dich kennt, von deiner Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen weiß, von deiner Gewaltfreiheit und von deiner Hoffnung auf eine arabisch-jüdische Konföderation. Wie bist du zu dieser ungewöhnlichen Einstellung gekommen?»

{225}  Abilea: «Mein Engagement für die Gewaltfreiheit entspringt einer Erfahrung, die ich vor vielen Jahren gemacht habe. Es war im Jahr 1936, als es hier in Palästina Unruhen gab und die Lage für jedermann sehr gefährlich war. Die Juden waren gefährdet, die Araber waren gefährdet. Ich befand mich auf einem Ausflug auf arabischem Gebiet. Eines Morgens sah ich mich plötzlich auf freiem Feld einer Gruppe Menschen gegenüber; anscheinend waren es Moslems. Wir hatten ein kurzes Gespräch. Als sie merkten, dass ich jüdischer Herkunft war, sagten sie, sie müssten mich töten, weil ihnen befohlen sei, jeden Juden zu töten, der ihnen begegnete. Ich sagte: <Wenn das eure Pflicht ist, dann müsst ihr es tun. Ich bin in eurer Hand.> Ich verstehe ganz gut Arabisch, so verstand ich auch, was sie unter sich sprachen. Einer machte den Vorschlag, mich in einen Brunnen zu werfen. Als ich das hörte, fragte ich ganz ruhig, wo dieser Brunnen sei, und ging dann in diese Richtung. Als ich dort war, umringten mich die Leute, die mir nachgefolgt waren, und ich stand da, vor dem offenen Brunnen. Aber da war nicht einer, der das Herz hatte, mich hineinzustoßen. Es war eine schwierige Lage. Sie wollten mich nicht freilassen, weil sie sonst gegen ihre Pflicht verstoßen hätten. Aber keiner wollte der Erste sein, etwas zu tun, von dem ihm sein Gewissen sagte, dass es falsch sei. Endlich fiel ihnen ein Ausweg ein. Sie machten mich - pro forma - zu einem Moslem, und dann ließen sie mich frei.

{226}  Später dachte ich über die ganze Situation nach und über die Mentalität dieser Leute. In dem Augenblick, als sie handeln wollten, meldete sich ein Instinkt - es war kein autoritativer Befehl, der sie leitete. Ich erkannte etwas, was ich später in anderen Philosophien las: das von Gott in unserem Herzen, den göttlichen Funken, der uns erleuchtet und unser Handeln bestimmt.

{227}  Als ich auf diese Weise gerettet wurde, wurde mir bewusst, wie nutzlos und sinnlos Waffen für die Verteidigung sind. Wenn ich in dieser Lage einen Revolver gehabt hätte, würde ich vielleicht einen der Leute getötet haben -aber es waren ihrer dreißig - und dann wäre ich sicher auch getötet worden. Hätte ich nur den geringsten Widerstand gezeigt, so hätten sie mich getötet. Meine Art der Reaktion, die damals ganz instinktiv war, hat mir seither schon mindestens zehnmal das Leben gerettet.»

{228}  Die verbindende Kraft, die aus diesem Menschen strömt, erinnert einen an das damals ganz neue Wort Jesu: «Liebt eure Feinde!» Wichtig an diesem Interview scheint mir das Wort «instinktiv» zu sein. Es meint die Verbundenheit mit dem göttlichen Funken in uns, mit jenem Größeren, der in einem jeden von uns steckt und darauf wartet, das Leben mitgestalten zu dürfen. Das Leben aus dieser Instinktverbundenheit heraus ist nicht mehr rational und gehört deshalb nicht mehr der durch den Pharisäismus geprägten Phase der Evolution des ethischen Verhaltens an. Es ist nicht mehr dualistisch, sondern rund. Fanatismus und Sündenbockpsychologie sind überwunden. Diese Wandlung führt in die Zukunft.

Pharisäische Haltung und Midlife-Crisis

{229}  Wir haben oben ausgeführt, wie sich das Leben der menschlichen Psyche aus einer uranfänglichen dämmerigen «Ursprungseinheit» langsam polarisiert. Aus der Eins wird die Zwei. Solange die Gegensätze zwischen dem unteren und dem oberen Pol nicht überspannt werden, verläuft das menschliche Leben normal. Die Gegensatzspannung ist in einem gewissen Umfang, wie alle Völker zeigen, arttypisch für die Gattung «homo sapiens». Das menschliche Bewusstsein wird in der ersten Lebenshälfte normalerweise vom oberen Pol fasziniert und wendet sich deshalb vornehmlich dem Rationalen zu. In der zweiten Lebenshälfte aber, zur Zeit der Mittagshöhe des Sonnenhelden, meldet sich der untere Pol vermehrt und möchte aus dem Unbewussten auftauchen und ins Licht hinein mitgenommen werden. Das Bewusstsein wird gezwungen, sich nun vermehrt dem unteren Pol zuzuwenden und diesen ins bisherige Leben hinein zu integrieren. Auch dieses Geschehen ist arttypisch: Überall auf der Welt ziehen sich Großeltern und Kinder an, weil bei ihnen beiden die Eins im Vordergrund steht. Die Aufgabe der zweiten Lebenshälfte ist die bewusste Vereinung der Gegensätze. Was einst verdrängt werden musste, damit das jugendliche, noch unstabile Ich sich von all den Gefahren des locker gefügten Unbewussten fern halten konnte, das muss jetzt bewusst akzeptiert werden als etwas, das einfach auch dazugehört und darum ein Recht hat, irgendwie mitzuleben. Diese Aufgabe ist aber alles andere als einfach zu lösen. Die Vereinung von Himmel und Erde, Feuer und Wasser, Geist und Fleisch ist ein Werk, das der Mensch mit seiner Tüchtigkeit allein und dem Vertrauen auf seine Ratio und Willenskraft niemals leisten kann. Das Finden des Einen und Ganzen ist uns nur möglich, wenn wir uns der Führung durch die «jenseitigen Mächte» anvertrauen. Darum ist die Midlife-Crisis auch ein religiöses Problem. Das Ich muss lernen, sich vom umfassenden Selbst leiten zu lassen. An Stelle von Beispielen aus der Praxis des Alltages möge das eben Ausgeführte mit einer Märchenszene dargestellt werden, in welcher unsere arttypische Lage um die Lebensmitte zur Darstellung gelangt. Da dies in den symbolischen Bildern des Unbewussten geschieht, ist eine solche Darstellung geeignet, das für uns alle Typische aufzuzeigen, und wir verlieren uns dann weniger in konkreten Details bestimmter «Fälle».

{230}  Das Märchen, aus dem ein für die Midlife-Crisis typisches Bild ausgewählt werden soll, heißt «Der starke Hans» (Grimm Nr. 166). Als Büblein wurde Hans in ein biedermännisches Milieu hineingeboren. Dank seinem jahrelangen Aufenthalt in einer Räuberhöhle bekam er aber mehr Rasse und Schneid als sein Vater. Glücklicherweise wurde er jedoch nicht ins «Drama des begabten Kindes» (L 54) hineinmanövriert, weil seine Mutter in die Räuberhöhle mitkam und ihm dort viele Rittergeschichten erzählte, sodass er die Kraft seines dunklen Gegenspielers, des räuberischen Schatten-Ich, wie ein echter Ritter in gute Dienste stellen lernte. So wurde er ein Prachtkerl, der mit einem zentnerschweren Stab, dem Zeichen seiner männlichen Potenz und Durchschlagskraft, durchs Leben zog. Mithilfe seiner Kraft und Klugheit meisterte er alle Probleme: ein wahrhaftiger Sonnenheld! In seiner dreieinigen Männlichkeit wurde er mit allem fertig. Doch auch sein Lebensbaum wuchs nicht in den Himmel: im Zenit seines Erfolges begann ein teuflischer Zwerg aufzutauchen, der ihm recht übel mitspielte. Hans aber hatte, dank der erfolgreich bestandenen Lausbuben-Jugendzeit, den Mut. diesem widrigen Störenfried auf den Grund zu gehen. Dies führte ihn in einen tiefen Schacht hinunter. Er stieg also in seine Depression hinab und wollte erkunden, woher dieses verdammte Teufelszeug rühre. Er überspielte seine Midlife-Crisis nicht mit allerlei Tricks und Medikamenten, wie das meistens geschieht, sondern tauchte ins «Erdinnere» hinab, wie Menschen, welche in einer Psychotherapie sind oder sonst ehrlich genug, dem Übel bis auf den Grund zu gehen (der Psychotherapeut erscheint solchen Analysanden bisweilen im Bild des Bademeisters). Der starke Hans war nun zum ersten Mal seit vielen Jahren nicht mehr der starke im Sinne der Tüchtigkeit, sondern stark im Suchen nach der Wahrheit. Es ging ihm dann zwar eine Weile lang recht übel; aber durch seinen freiwilligen Abstieg von der Mittagshöhe des Erfolges kam er in den Besitz des großen Glückes: er gewann die Prinzessin und einen Ring, der ihm zum Glück verhalf. Aus der Zwei war wieder die glückhafte Eins geworden, und Hans durfte ins Königsschloss einziehen, ein für viele maßgebender Mensch werden.

{231}  Die Stärke des starken Hans war in seiner ersten Lebenshälfte seine männliche Durchschlagskraft in einem ritterlichen Geist (er war ein potenter Idealist, das Idol so vieler); seine Stärke in seiner zweiten Lebenshälfte aber war seine Wahrhaftigkeit, sein Mut, hinabzusteigen und dem Untergang seiner Sonne ins Meer bewusst ins Auge zu sehen und diese neue Situation als Ende des Erfolgs der Tüchtigkeit anzunehmen. «Wenn ich schwach bin, bin ich stark» (2 Kor 12,10).

{232}  Jeder zu Tüchtige hat um die Lebensmitte irgendwo seinen teuflischen Zwerg. Wenn wir in einem solchen Fall bereit sind, der prekären Sache auf den Grund zu gehen, können auch wir den Ring geschenkt bekommen, der uns zum Ganzen und Runden verhilft und unser zerrissenes Leben wieder eint.

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{233}  Zum Schluss dieses Abschnittes möchte ich noch das Beispiel eines tüchtigen Mannes anführen, der einer «pharisäischen» Haltung verhaftet war. Er stand in seiner Lebensmitte. Sein Teufelszwerg war eine Ehekrise. Seine Frau warf ihm dauernd vor, er habe nur seine Arbeit im Kopf und für sie nichts übrig. Das zermürbte ihn, und so wagte er den Schritt in eine Analyse, um der Sache auf den Grund zu kommen. Das war sehr mutig; denn er musste ja gewärtigen, dass seine ganze bisherige Mentalität in Frage gestellt würde. Dies war dann auch der Fall; aber sein Mut hat sich gelohnt.

{234}  Um die Gegensatzspannung in diesem liebenswürdigen, dienstfertigen, gewissenhaften und fleißigen Mann zu zeigen, seien hier zwei seiner Träume vom Anfang der Analyse erwähnt. Beide Träume handelten vom Militär. Die psychische Umgebung ist also noch «uniform», vom äußeren Kollektiv bestimmt. Das Ich richtet sich idealistisch nach den Kollektivnormen, und das Eigene wird verdrängt. Gott, das, was mich unbedingt angeht (P. Tillich), ist noch «draußen»; man richtet sich nach kollektiv gegebenen Größen.

{235}  Der erste Traum lautet: «Ich gehe im Militär, im Tenü <Kampfanzug>, ganz allein durch ein abgelegenes Tal. Dabei werde ich von meinem Helm behindert, den ich am dafür vorgesehenen Haken angehängt habe. Dieser aber ist so tief unten angenäht, dass mir der Helm zwischen den Knien baumelt. Es ist aber nicht erlaubt, ihn von diesem Haken wegzunehmen, und so wird das Marschieren recht mühsam.»

{236}  Man muss hier an die Scherzfrage denken: «Wer ist ein Gentleman?» - «Einer, der den Zucker auch dann noch mit der Zuckerzange nimmt, wenn er ganz alleine Tee trinkt.» Was vorgeschrieben ist, ist vorgeschrieben, und man hat sich daran zu halten, auch wenn die Vorschrift noch so unsinnig ist. Der Mann wandert allein. Er entfernt sich von der Truppe. Er befindet sich also auf seinem ihm eigenen Lebensweg. Die Analyse hat ihre ersten Knöspelein gebracht: die Suche nach dem Eigenen beginnt. Der Individuationsweg fängt an. Er will diesen aber immer noch mit kollektiven Mitteln bewältigen, was offensichtlich mühsam ist. Der angesehene Rollenträger kommt mit seiner Kollektivhaltung im persönlichen Bereich seines Lebens kaum zurecht. So beliebt er auswärts ist - zu Hause hat er nichts als Probleme. Der Helm hängt zu tief. Der Träumer bringt das Leben nicht mehr «unter einen Hut», weil der militarisierte Hut für den Individuationsweg ungeeignet ist und das rüstige Vorankommen behindert. (Zu dieser «uniformierten» Haltung, welche in der jungschen Psychologie «Persona» heißt, vgl. L37, L53.) Die Analyse muss hier ein neues Kleid bringen, in das sich dieser Mann hüllen kann, eines, das zu seinem Ganzen passt, ebenso einen neuen Hut, unter dem alles Platz hat.

{237}  Der zweite Traum (er stammt aus der Zeit vor der Ermordung des ägyptischen Ministerpräsidenten Sadat!) zeigt in dieselbe Richtung: «Ich befinde mich in einer riesigen Halle, wo der ägyptische Ministerpräsident Sadat seine Friedenspolitik gegenüber Israel verteidigen muss. Sadat setzt zu einer guten Rede an, wird aber immer schwächer und schließlich vom Pöbel niedergerungen. Meine Freunde und ich, die Sadat sehr wohlgesinnt sind. müssen die Arena schleunigst verlassen, um nicht auch eine Beute der Wut des Volkes zu werden. Ich hole dann noch meine Effekten in einem Haus -und finde dort meine Militäreffekten fein säuberlich ausgebreitet.»

{238}  Auch dieser Traum bildet den um die Lebensmitte zum Untergehen bestimmten pharisäischen Idealismus ab. Sadat, der es offensichtlich «zu gut» gemeint hat, wird von seinem Schatten niedergerungen. Hier wird auf die Gefahr des Umkippens des Idealisten aufmerksam gemacht: der ethische Perfektionist kann durchaus plötzlich (durch eine «negative Bekehrung») zu einem Amoralisten werden, wie jener italienische Professor, der zu den «Roten Brigaden» hinübergewechselt war, oder wie jene Rechts-Anwälte, die plötzlich zu «Unrechts-Anwälten» wurden. Die geforderte Auseinandersetzung mit dem auftauchenden Schatten-Pöbel ist alles andere als harmlos, und mancher, der einen Blick in seine innere bestialische Arena getan hat, betreibt dann rasch wieder die alte Vogel-Strauß-Politik: «Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.» Der alte Idealismus wird wieder aufgerichtet, und man bleibt in der dualistisch-pharisäischen Haltung befangen. Manchmal mag das auch besser sein, weil es das Ich nicht schafft, wie Schillers «Taucher» auf den Grund zu tauchen.

{239}  In der jungschen Sprache heißt diese Rückkehr des reuigen Sünders zu den alten gut-bürgerlichen Idealen die «regressive Wiederherstellung der Persona». Die Knie des Helden werden weich beim Anblick seiner wilden Tiere, und er kehrt als braver Sohn in sein Vaterhaus zurück. Nach dem Genuss des Apfels vom Baum der Erkenntnis sagt er zum Herrgott: «Ich bin's nicht gewesen; es war meine Eva», und Eva gibt der Schlange die Schuld. Aber faule Ausreden nützen nichts. Das Paradies ist verloren. Glücklicherweise konnte in dieser Analyse der Individuationsweg trotz der Sehnsucht nach den alten festen Formen des Pharisäers in einem guten Sinne fortgesetzt werden, und der Uniformgeist verschwand langsam, wie es dem natürlichen Verlauf des Lebens entspricht - sogar des Lebens im schweizerischen Militärdienst selber.

{240}  Es ist interessant, die innere Entwicklung des Menschen seiner kollektiven Uniform, seiner Persona gegenüber gerade dort zu verfolgen, wo diese sehr stark betont wird, nämlich im Militär: ein junger «zackiger» Leutnant ist sehr oft sozusagen bloß Persona, nur Uniformträger, solange er «im Dienst» ist. Wegen der mangelnden menschlichen Reife schlüpft er ins Kollektivgewand und benimmt sich unoriginell, was sehr oft zu Spannungen mit der Mannschaft führt. Wenn man daneben einen älteren Oberleutnant beobachtet, der nicht mehr ehrgeizig ist und Karriere machen will, dann fällt einem sofort eine gewisse menschliche Not auf. Etwas Warmes und Spontanes scheint durch die Uniform hindurch. Gerade diese Männer aber haben, obwohl sie weniger laut und scharf befehlen, oft die größeren militärischen Erfolge und erzeugen mit ihrer menschlicheren Art weniger «pöbelhafte Reaktionen» bei der Mannschaft, weil bei ihnen «der eigene Pöbel» bewusst und die psychische Systemtrennung nicht mehr so scharf ausgeprägt ist. Die «andere Seite» hat auch Platz. Solche Männer stehen psychisch bereits unter dem Einfluss des Selbst, das heißt des Individuationsprozesses in der zweiten Lebenshälfte, wo das Rationale und das Irrationale sich einander annähern.

{241}  Wir sehen also, wie die pharisäisch-dualistische Haltung mit einer inneren gesetzmäßigen Notwendigkeit in eine «Mid-life-Crisis» hineinführt, wo der Tüchtige durch hartnäckige Teufeleien geplagt wird. Von diesem Übel wird er nur dann erlöst, wenn er den Mut aufbringt, der Sache auf den Grund zu gehen.

{242}  Der tiefste Grund der übertriebenen Tüchtigkeit des Pharisäers liegt in seiner ohnmächtigen Faszination von jener psychischen Macht, die oben als «Sonnenheld» bezeichnet wurde. Man könnte sie ebenso gut den inneren überpersönlichen Mönch oder Asketen nennen, das Prinzip des einseitigen «law and order», einen übermächtigen inneren Zwinger-Geist und unerbittlichen Diktator, der den Rang einer Gottheit besitzt, welche die Alleinherrschaft über den Menschen an sich reißt. Dies kann nicht auf einen übertrieben strengen Vater oder eine die Reinlichkeitserziehung allzu puritanisch vornehmende Mutter reduziert werden. Die Verfallenheit an diese psychische Macht ist ein teilweise angeborener Faktor und teilweise ein phasentypisches Phänomen, das durch eine entsprechende Umwelt und Kultur mehr oder weniger stark ausgeprägt sein kann. Wer dieser die obere Welt einseitig betonenden Macht völlig anheim fällt, wird damit Bürger einer dualistisch-gespaltenen Welt, deren Pole sich verfeinden, anstatt sich gegenseitig zu befruchten. Zahlreiche psychosomatische Störungen sind die Folge einer solchen inneren Zerrissenheit und Unausgeglichenheit. Der erfahrene Dädalos hat den jugendlichen Ikaros einst dazu angehalten, seine Bahn in der Mitte zwischen Sonne und Meer einzuhalten - der kluge Rat erfolgte vergeblich. Der allzu Tüchtige stürzt mit innerer Notwendigkeit ab. Wir fragen uns: Hängt vielleicht die Bekehrung des Pharisäers Paulus mit dieser Wandlung des zu Tüchtigen zusammen?

{243}  Nach diesen tiefenpsychologischen Erörterungen über das Wesen des Pharisäismus wenden wir uns nun der konkreten Gestalt des Paulus zu: Wer war Paulus als Pharisäer?

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