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Im Apparat

Der Schauspieler Thomas Lawinky nutzt seinen Skandal-Ruhm, um sich als Stasi-IM zu outen

27.03.2006

Feuilleton - Seite 29

Ulrich Seidler

Vor fünf Wochen ereignete sich im Schauspiel Frankfurt eine Lappalie, die zum Eklat führte. Der Schauspieler Thomas Lawinky entriss dem Kritiker Gerhard Stadelmaier den Block und beschimpfte ihn. Stadelmaier hängte den Vorgang an die große Pressefreiheitsglocke, woraufhin die Frankfurter Oberbürgermeisterin für die Entlassung Lawinkys sorgte. Der Fall ging durch die deutsche und europäische Presse. Jetzt ist Lawinky berühmt. Er ist keineswegs stolz auf diesen Ruhm, aber er hat Verwendung dafür. Er nutzt das künstlich aufgepuschte Interesse an seiner Person, das "Plateau der öffentlichen Aufmerksamkeit", um sich als ehemaliger Stasi-Mitarbeiter zu outen und sich wirkungsvoll vor breitem Publikum zu dekonspirieren. Er versteht diese Offenbarung nicht als Reinwascherei, auch nicht als PR-Trick, sondern als politische Handlung, mit der er anderen "Tätern, Opfern und Täter-Opfern" Mut machen will, sich zu erklären.

Seine Geschichte zeigt, wie irreführend Begriffe wie Opfer und Täter, Schuld und Verrat im moralischen Dickicht der Vergangenheit sind. Lawinky ist ein Schauspieler, der sich mit voller Wucht, als ganzer Mensch auf die Bühne zu werfen pflegt, der sich körperlich und seelisch dermaßen ins Zeug legt, dass einem als Zuschauer durchaus bange werden kann. Auch mit diesem Schritt an die Öffentlichkeit besteigt er eine Bühne. Er reißt sich das Hemd auf - möge man ihn zerfleischen. Lawinky erzählte mir, bewusst seine berufliche Existenz aufs Spiel setzend, seine Geschichte. Er erzählte mit Sinn für Pathos, Bildhaftigkeit und Dramaturgie, und immer in der Furcht, dass ich ihn falsch verstehe.

Brennender Brüsewitz

Lawinky ist 1964 in Magdeburg geboren worden und dort aufgewachsen. Seine Kindheit war glücklich, seine Jugend nicht mehr. Mit 12 Jahren, im August 1976, sieht er in der Tagesschau den brennenden Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich aus Protest gegen die enge Bindung der Kirche an das repressive Regime der DDR mit Benzin übergoss und anzündete. Das Bild fraß sich bei Lawinky ein - wie die Tatsache, dass die Aktuelle Kamera es nicht zeigte. Sobald man in der DDR selbstständig zu denken anfing, machte man die Entdeckung, dass gelogen wurde. Lawinky arrangierte sich nicht mit diesen Lügen, sondern er nahm eine Anti-Haltung ein.

Ein Bild des Punksängers Sid Vicious im Hakenkreuz-T-Shirt spielte dabei eine wichtige Rolle. Lawinky jagte sich Sicherheitsnadeln durch die Ohren, und als er begriff, dass die Selbstschussanlagen an der Grenze nicht nach Westen, sondern nach Osten gerichtet waren, beschloss er abzuhauen. Klug genug, nicht den direkten Weg zu nehmen, plünderte er sein Jugendweihesparbuch und bestieg zusammen mit seinem Kumpel einen Bummelzug nach Frankfurt (Oder). Sie hatten von der Grünen Grenze zwischen Böhmen und Bayern gehört. Schon in Frankfurt wurden sie aufgegriffen und durchsucht. Dabei entdeckte ein Polizist ein Hakenkreuz, das sich Lawinky im langweiligen Physikunterricht auf die Wade gemalt hatte, mit dem Zusatz: "Nazipunk, fuck off!"

Der DDR-Staatsdiener drosch dem 14-jährigen Lawinky die Faust in den Magen. Die beiden wurden in ein Durchgangslager für schwererziehbare Jugendliche verschleppt und dort eine Woche lang festgehalten, bis die Eltern sie abholen durften. Die Zellen, in denen sie schliefen, hatten keine Fenster, sondern nur vergitterte Löcher. Es war Oktober. Wenn "Freizeit" befohlen war, wurden die bis zu 18-jährigen Insassen in einen hoch ummauerten Hof geschickt und ohne Aufsicht sich selbst überlassen. Es gab regelmäßig Prügeleien. Spätestens jetzt hasste Lawinky die DDR. Die Schnapsidee, in den Westen abzuhauen, reifte zum Lebensziel.

Mit diesen Erfahrungen zurück in Magdeburg, sah er mit seinen Freunden den DEFA-Film "Sabine Wulf". So, wie Lawinky, inzwischen 15 Jahre alt, den Film damals verstand, wurde gezeigt, wie eine junge Frau im Jugendwerkhof zur sozialistischen Persönlichkeit reift. Lawinky drehte durch.

Seinen Freunden voran zog er um sich schlagend eine "Schneise der Zerstörung" durch die Stadt. Schaufenster gingen zu Bruch. Der Weg führte eher zufällig über den Friedhof, wo er eine Blumenschale vor einem sowjetischen Ehrenmal als Frisbee benutzte, Grabsteine fielen auch. Es kam zu einer Großfahndung und zur Verhandlung, die im Speisesaal seiner Schule vor 500 Zuschauern - "mein erstes Publikum" - stattfand. Lawinky, der den Grund seiner Wut mit Kalkül verschwieg, bekam neun Monate auf Bewährung und musste die Straße kehren.

An diesem Punkt wechselte Lawinky seine Taktik. Er gab sich Mühe in der Schule, begann eine Lehre als Montagefacharbeiter und trat in die SED ein. Er hoffte auf einen der begehrten Posten als Leiharbeiter, die im Westen eingesetzt wurden. Er engagierte sich auch beim Magdeburger Theaterjugendklub, wo er - einzig und allein die Gastspielreisen ins nichtsozialistische Ausland im Sinn - auf die Idee kam, Schauspieler zu werden. Er sprach in Potsdam und in Leipzig vor. Beide Schulen wollten ihn haben. Er entschied sich für die Filmhochschule Babelsberg - weil sie im Grenzgebiet lag. So nah am Westen, dass man eine Sondererlaubnis brauchte, um zur Schule zu dürfen.

Doch nun kam erst einmal die Armee dazwischen. Im Mai 1987 wurde Lawinky eingezogen. Er wollte die Zeit absitzen, Schauspieler werden, und ab in den Westen. Er glaubte Glück zu haben, als er nach der Grundausbildung in eine Baueinheit geschickt wurde, die irgendwo im Wald, dreißig Kilometer von Schwerin entfernt, eine Flugabwehrraketenstation errichtete. Das bedeutete ein paar Tage mehr Urlaub - mit anderen Worten: das Paradies.

Drei Wochen nach Arbeitsbeginn wurde Lawinky in die Stabsbaracke befohlen. Im Korridor musste er stillstehen und warten. In dem Moment, als zwei unbeteiligte Soldaten vorbeikamen, ging eine Tür auf, ein Mann in Zivil kam heraus, reichte Lawinky mit den Worten: "Tach, Thomas, komm doch mal rein", die Hand und zog ihn in sein Büro. Erst drinnen begriff Lawinky, dass er in eine Falle gegangen war. Draußen hörte er die Soldaten weggehen und wusste: Sie werden erzählen, dass sie gesehen haben, wie er einem Stasi die Hand geschüttelt hat. Das bedeutete, dass er von nun an anderthalb Jahre als Stasi-Ratte in der Einheit verbringen würde. Mit dieser "Tarnquellen-Maßnahme" versuchte man den Verdacht von den eigentlichen Informanten abzulenken. Sofort versuchte Lawinky - "mit punkerhaftem Egoismus" - die Sache unter Kontrolle zu bringen und bot dem Stasi-Oberst seine Mitarbeit an. Der war baff und lehnte natürlich ab.

Lawinky schaffte es, den Verdacht, dass er bei der Stasi sei, bei seinen Kameraden auszuräumen. Mit dieser Überzeugungsfähigkeit wurde er für die Stasi dann tatsächlich interessant. Daraufhin kam es zu einer richtigen Werbung. Weil er seine Ruhe haben wollte, und weil er schlicht Angst hatte vor dem Staatssicherheitsdienst, unterschrieb er den Geheimhaltungsparagrafen, dachte sich ohne lange zu überlegen einen Decknamen aus und war dabei. Er nannte sich nach dem Begründer des absurden Theaters "Beckett" - auch, damit seine Freunde, sollten sie einmal dahinter kommen, dass er IM war, Bescheid wüssten, was sie davon zu halten hätten. Als nächstes wurde er "rehabilitiert", das heißt in den Bau gesteckt, damit der Stasi-Verdacht endgültig von ihm abfiel.

Anfangs verfasste er "Legastheniker-Berichte", dachte sich also blödsinnige Geschichten aus, weswegen er Ärger mit seinem Führungsoffizier bekam, der ihm unmissverständlich deutlich machte, dass Tricksen nicht funktioniert. Lawinky wurde klar, dass die jetzt nicht mehr losließen. Sie wollten Ergebnisse sehen. Er fing Briefe ab, er gab Auskünfte über Westverwandtschaft von Kameraden weiter. "Die Frage ist, wann kippt man um." Es ging darum, achtzehn Monate durchzuhalten und nicht im Knast zu landen, wie etwa seine heutigen Regisseure, Sebastian Hartmann, der mehrmals arrestiert wurde, und Armin Petras, der in Schwedt saß. Vor ihnen zieht er den Hut.

Denunziation

Die Stasi ließ ihn ihre Macht spüren. Gleichzeitig wurde das, wovor er in der Jugend paranoide Angst hatte, auf einmal zum Instrument, mit dem er sich Vorteile verschaffen konnte. Er brachte es in der Armee zum eigenen Laden und machte viel Geld mit Walkmans. Gleichzeitig verstrickte er sich immer mehr und setzte sich selbst unter Druck. Das ging in einem Fall bis zur Denunziation. Lawinky meldete, dass ein Unteroffizier desertieren wolle. Der wurde beim Ausgang in Zivil erwischt und saß für Monate in Neubrandenburg. Ständig hat Lawinky mit dem Gedanken gespielt, sich in der Waffenkammer zu bedienen, um sich eine Kugel in den Kopf zu schießen und sich aus der schizophrenen Lage zu befreien.

In welchem Moment Lawinky begriffen hat, dass er nun tatsächlich zum Stasi geworden ist, kann er nicht sagen. Jedenfalls blieb er auch nach der Armee dabei. Der Gedanke hatte sich eingebrannt: Ich komme nur raus mit der Stasi. Ihm war alles, was mit der DDR zu tun hatte, egal. Und seine Kommilitonen hatten etwas mit der DDR zu tun. Allerdings bekam er es während des Studiums mit einem "lächerlichen Männchen" von Führungsoffizier zu tun, dem er wieder nur "Blödsinn" berichtete, dafür aber Vorteile erwirkte - unter anderem einen Job für seine Frau. Sie arbeitete bei der Meldestelle der DEFA, dort, wo Reisepässe ausgestellt wurden - für Gastspielreisen in den Westen.

Triumph! Lawinky glaubte tatsächlich, die Stasi ausgetrickst zu haben. Seine Frau war vernünftig genug, keine Pässe zu fälschen. Lawinky erfuhr über seinen Führungsoffizier vom nahenden Ende der DDR und wartete auf den Knall. Auf einer Demo ist er nicht gewesen. "An dem Tag, als die Mauer fiel, habe ich begriffen, dass meine Biografie umsonst war. Heute weiß ich, sie war nicht umsonst." Für Lawinky, der immer in den Westen wollte, war dieser Mauerfall keine Befreiung. Er hat jedem, der sich dafür interessierte, seine Geschichte erzählt. Losgeworden ist er sie aber nicht.

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Foto: "Ich verneige mich in tiefer Demut vor Oskar Brüsewitz, Rudolf Bahro, Jürgen Fuchs und allen anderen, die in der DDR ihrer Seele treu geblieben sind." Thomas Lawinky

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Foto: Lawinky als Brandstifter (Hamburg, 2002, R.: Sebastian Hartmann).