Seit Jahren gilt die Gemeinschaft von Sant'Egidio als Kandidat
für den Friedensnobelpreis. Und wenn Mitte September in Mailand der
Träger des internationalen Balzan-Preises für "Humanität, Frieden
und Brüderlichkeit", der mit zwei Millionen Schweizer Franken
dotiert ist, gekürt wird, dann gehört die 1968 gegründete katholische
Freiwilligenorganisation, die sich an den Idealen des Urchristentums
orientiert, auch hier zu den Favoriten.
Seit Sant'Egidio im Jahr 1992 einen Friedensschluss im mörderischen
Bürgerkrieg von Mosambik vermitteln konnte, wird dieses "unlikely
team of peace-brokers" ("Washington Post"), dieses
"unmögliche Team von Friedensvermittlern", überall dort
gesucht, wo Frieden unmöglich scheint. Mario Marazziti, der
Pressesprecher der Gemeinschaft, nennt ihre Stärken: "Wir sind an
keine Macht gebunden, weder an das große Geld noch an Lobbys oder
Interessengruppen." Aber sie haben eine moralische Weltmacht im
Rücken: die katholische Kirche - aber ohne in ihre Hierarchien
eingebunden zu sein.
Sant'Egidio-Gruppen bestehen heute in 30 Staaten auf vier Kontinenten. In
ihnen treffen sich meist junge Katholiken, die Gebet und Sozialarbeit,
Verkündigung des Evangeliums und Engagement für den Frieden miteinander
verbinden. Im alten römischen Stadtteil Trastevere, der heute mit
unzähligen Bars, Pizzerien und Trattorien den touristischen Bauch der
Stadt bildet, hat die Gemeinschaft in einem ehemaligen
Karmeliterinnenkloster ihren Hauptsitz. In den Medien nennt man sie
manchmal auch die "UNO aus Trastevere". Abseits der
diplomatischen Hauptstraßen gelang hier nach dem Mosambik-Erfolg ein
weiterer, spektakulärer Friedensschluss, der den 35-jährigen
Bürgerkrieg in Guatemala beendete.
Sant'Egidio wurde plötzlich international ernst genommen. Als die
US-Außenministerin Madeleine Albright danach Rom besuchte, sprach sie
länger mit dem Führer und Gründer der Gemeinschaft, Andrea Riccardi,
als mit dem italienischen Außenminister. Nicht ohne Grund: 1995
beschlossen Vertreter (fast) aller im Algerienkonflikt beteiligten
Parteien auf Initiative von Sant'Egidio eine "römische
Friedensplattform".
Dass daran nicht die damalige algerische Regierungsseite beteiligt war,
hat Sant'Egidio Kritik eingetragen. In Trastevere, so hieß es, seien
Terroristen hoffähig gemacht worden. Die Römer antworteten, mit der
Plattform hätten Gruppen wie die fundamentalistische FIS wieder die
Grundregeln des Dialogs anerkannt. Die Entwicklung in Algerien zeigt, dass
die Vermittler von Trastevere wohl auf dem richtigen Weg sind.
Seit Jahren versucht die Gemeinschaft im Kosovo-Konflikt zu vermitteln.
Der Krieg zwischen der NATO und Jugoslawien brach trotzdem aus, die ersten
Kontakte danach liefen über Trastevere. In diesem Sommer haben
Freiwillige aus Rom wie schon im Jahr zuvor so genannte
"Friedensschulen" im Krisengebiet abgehalten: Sommerkurse für
Kinder mittelloser Familien in den Armensiedlungen von Tirana und Lezha.
Denn Sant'Egidio ist keine "diplomatische Vereinigung", wie ihr
charismatischer Führer Andrea Riccardi immer wieder unterstreicht.
Ausgangspunkt für die katholische Freiwilligenorganisation ist die
Sozialarbeit, der Kampf gegen die Armut und für menschenwürdige
Lebensbedingungen. Bei Hilfsaktionen in Mosambik habe man aber, so
berichtet Riccardi, einsehen müssen, "dass der Krieg die Mutter
aller Armut sei". Und Frieden also die Voraussetzung für Hilfe und
Fortschritt.
Im Jahr 1968 hatte Andrea Riccardi mit einer Hand voll Gleichgesinnter
während seiner Gymnasialzeit in Rom begonnen, sich von der
fundamentalistischen katholischen Jugendorganisation an den Schulen zu
lösen. Dem Leben einen Sinn geben, das war Riccardi und seinen Freunden
nur möglich im Gebet und in der konkreten Aktion. Jesus nachzueifern, so
wie es ihnen ihr großes Vorbild Franziskus von Assisi gezeigt hatte, das
schien den Jugendlichen, die bald auf die Universität wechselten, der
einzige Weg in die Zukunft.
Jeden Abend versammelte man sich in dem damals noch verlassenen
Karmeliterinnenkloster, um gemeinsam das Evangelium zu lesen. In den
Vorstädten richteten die jungen Studenten die ersten
"Volksschulen" für Kinder ein, die vom Schulsystem nicht
erfasst wurden. Man baute Armenspeisungen auf, die bis heute ihren
Höhepunkt in dem Weihnachtsessen in der Basilika Santa Maria in
Trastevere findet. Hilfe für Drogensüchtige, Stadtstreicher und
Obdachlose machten die Freiwilligen von Sant'Egidio bald zu "Engeln
der Heiligen Stadt".
Enge Gemeinschaft ohne Ordensschwur
Das Prinzip ihrer Gemeinschaft ist bis heute gleich geblieben: ohne
sich durch einen Ordensschwur förmlich zu binden, sind die Mitglieder von
Sant'Egidio bereit, neben Arbeit oder Studium ihre Freizeit ausnahmslos
der gemeinsamen Sache zu widmen. Diese freiwillige Verpflichtung hat im
Vatikan viele Fürsprecher gefunden.
Auch zum Papst konnte Andrea Riccardi, der inzwischen als angesehener
Kirchenhistoriker an der dritten staatlichen Universität Roms lehrt,
früh ein enges Verhältnis aufbauen. Bereits 1985 wurde die "Comunit
di Sant'Egidio" kanonisiert. Johannes Paul II. gilt als Förderer der
Gemeinschaft, spätestens seit Riccardi ihm mit dem ersten Friedenstreffen
der Weltreligionen von Assisi 1987 eine Plattform bot, auf der er
äußerlich nur als Primus inter Pares auftrat, zugleich aber auf diesen
und folgenden Treffen die führende Rolle der römischen Kirche als
moralische Weltmacht demonstrieren konnte. "Der ökumenische
Prozess", schrieb kürzlich der Gründer von Sant'Egidio, "ist
nicht begründet auf einem föderalen Prozess zwischen Kirchen." Es
sollte schon klar sein, wer das Sagen hat.
Inzwischen hat die Gemeinschaft, zu der auch mehrere Priester und
Theologen gehören, mit Monsignore Vincenzo Paglia, der vor allem im
Kosovo-Konflikt vermittelt hat, einen eigenen Bischof. Paglia wurde gerade
zur Leitung der Diözese Terni berufen.
Wie groß, wie einflussreich ist Sant'Egidio wirklich? In der Eigenwerbung
nennt man auf der Webseite (www.santegidio.org./it) die Zahl von weltweit
30000 Mitgliedern. Kritiker setzen die Zahl der aktiven Mitglieder viel
geringer an: Nach Medienberichten sollen sich nicht mehr als 1200 Personen
eng an die Gemeinschaft gebunden haben. Die Sozialwerke würden vor allem
von Freiwilligen von außen unterstützt.
Nach eigenen Angaben gibt Sant'Egidio jedes Jahr umgerechnet rund drei
Millionen Mark für die Sozialarbeit aus. Eine weitere Million für
interreligiöse Veranstaltungen und eine nicht genannte Zahl für
diplomatische Tätigkeiten kommen dazu. Man finanziert sich durch
Zuwendungen von internationalen Organisationen und nationalen
Regierungsstellen und erhält Geld von privaten Sponsoren.
Heirat nur mit Erlaubnis des Patriarchen
Wie es aber genau innerhalb der Gemeinschaft, die keine
Mitgliederlisten oder Ausweise kennt, zugeht, kommt kaum an das Licht der
Öffentlichkeit. Nach einem Bericht des römischen Magazins "L'Espresso"
soll Andrea Riccardi mit recht patriarchalischen Methoden die Gemeinschaft
leiten, in der streng zwischen Angehörigen von bürgerlichen und unteren
Schichten getrennt wird. Leitungsfunktionen werden nur in der ersten
vergeben. Es ist den Mitgliedern zwar möglich zu heiraten. Erwünscht
werden aber Eheschließungen innerhalb der Gemeinschaft und dort nur
innerhalb der gesellschaftlichen Schichtungen.
Meistens soll Riccardi selbst die "Genehmigung" für Heiraten
aussprechen, wie er auch bestimmt, ob jemand die Priesterlaufbahn
einschlagen soll oder nicht. Auch gibt es eine traditionelle Trennung nach
Geschlechtern. So werden Frauen vor allem in der Kranken- und Altenpflege
eingesetzt. Für die Einhaltung der Kastenregeln sorgt eine eigene
Unterführerin für Sant'Egidio-Frauen (Cristina Marazzi). Innerhalb der
Gruppen müssen sich die einzelnen Mitglieder für ihr Tun auf gemeinsamen
Sit zungen verantworten. Es ist möglich, die Gemeinschaft wieder zu
verlassen, was aber dem totalen Bruch mit dem früheren Lebenskreis
gleichkommt. Das strahlende äußere Bild der unorthodoxen
Friedensvermittler und aufopferungsvollen Sozialarbeiter steht dem inneren
einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft gegenüber, in der das
Kastendenken herrscht.
Die Rolle Riccardis war dabei nicht unumstritten. Vor einigen Jahren kam
es in der Organisation zu einem Machtkampf. Anders als sein Konkurrent,
Andrea Bartoli, der auch Anhänger in den deutschen Sankt'Egidius-Gruppen
in Würzburg und Mönchengladbach hatte, betonte Riccardi die zentrale
Rolle Roms nach dem Modell einer Kirche, die sich auf den römischen
Bischof stützt.
Auch aus kirchenpolitischen Gründen: Nur so könne man, wie er in einem
Interviewbuch schreibt, dem Machtanspruch der reichen Kirchen des Nordens
einen Riegel vorschieben. Denn was die katholische Kirche heute spalte,
sei die Spannung zwischen dem "Martyrium des Südens und dem
Konsumismus des Nordens". Der Papst wird es gern vernommen haben.