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DEUTSCHES ALLGEMEINES SONNTAGSBLATT

lilabo.gif (821 Byte) Religiöse Gemeinschaft lilabo.gif (821 Byte)
Strenge Engel

Nach außen sozial, im Innern nach Kasten getrennt:
die Gemeinschaft von Sant'Egidio


VON HENNING KLÜVER

Sie gelten als unorthodoxe Friedensstifter. Auf der EXPO organisieren sie den Tag der Religionen. Doch wer sind die Leute von Sant'Egidio wirklich?

klbb.gif (820 Byte) Seit Jahren gilt die Gemeinschaft von Sant'Egidio als Kandidat für den Friedensnobelpreis. Und wenn Mitte September in Mailand der Träger des internationalen Balzan-Preises für "Humanität, Frieden und Brüderlichkeit", der mit zwei Millionen Schweizer Franken dotiert ist, gekürt wird, dann gehört die 1968 gegründete katholische Freiwilligenorganisation, die sich an den Idealen des Urchristentums orientiert, auch hier zu den Favoriten.
Seit Sant'Egidio im Jahr 1992 einen Friedensschluss im mörderischen Bürgerkrieg von Mosambik vermitteln konnte, wird dieses "unlikely team of peace-brokers" ("Washington Post"), dieses "unmögliche Team von Friedensvermittlern", überall dort gesucht, wo Frieden unmöglich scheint. Mario Marazziti, der Pressesprecher der Gemeinschaft, nennt ihre Stärken: "Wir sind an keine Macht gebunden, weder an das große Geld noch an Lobbys oder Interessengruppen." Aber sie haben eine moralische Weltmacht im Rücken: die katholische Kirche - aber ohne in ihre Hierarchien eingebunden zu sein.
Sant'Egidio-Gruppen bestehen heute in 30 Staaten auf vier Kontinenten. In ihnen treffen sich meist junge Katholiken, die Gebet und Sozialarbeit, Verkündigung des Evangeliums und Engagement für den Frieden miteinander verbinden. Im alten römischen Stadtteil Trastevere, der heute mit unzähligen Bars, Pizzerien und Trattorien den touristischen Bauch der Stadt bildet, hat die Gemeinschaft in einem ehemaligen Karmeliterinnenkloster ihren Hauptsitz. In den Medien nennt man sie manchmal auch die "UNO aus Trastevere". Abseits der diplomatischen Hauptstraßen gelang hier nach dem Mosambik-Erfolg ein weiterer, spektakulärer Friedensschluss, der den 35-jährigen Bürgerkrieg in Guatemala beendete.
Sant'Egidio wurde plötzlich international ernst genommen. Als die US-Außenministerin Madeleine Albright danach Rom besuchte, sprach sie länger mit dem Führer und Gründer der Gemeinschaft, Andrea Riccardi, als mit dem italienischen Außenminister. Nicht ohne Grund: 1995 beschlossen Vertreter (fast) aller im Algerienkonflikt beteiligten Parteien auf Initiative von Sant'Egidio eine "römische Friedensplattform".
Dass daran nicht die damalige algerische Regierungsseite beteiligt war, hat Sant'Egidio Kritik eingetragen. In Trastevere, so hieß es, seien Terroristen hoffähig gemacht worden. Die Römer antworteten, mit der Plattform hätten Gruppen wie die fundamentalistische FIS wieder die Grundregeln des Dialogs anerkannt. Die Entwicklung in Algerien zeigt, dass die Vermittler von Trastevere wohl auf dem richtigen Weg sind.
Seit Jahren versucht die Gemeinschaft im Kosovo-Konflikt zu vermitteln. Der Krieg zwischen der NATO und Jugoslawien brach trotzdem aus, die ersten Kontakte danach liefen über Trastevere. In diesem Sommer haben Freiwillige aus Rom wie schon im Jahr zuvor so genannte "Friedensschulen" im Krisengebiet abgehalten: Sommerkurse für Kinder mittelloser Familien in den Armensiedlungen von Tirana und Lezha. Denn Sant'Egidio ist keine "diplomatische Vereinigung", wie ihr charismatischer Führer Andrea Riccardi immer wieder unterstreicht.
Ausgangspunkt für die katholische Freiwilligenorganisation ist die Sozialarbeit, der Kampf gegen die Armut und für menschenwürdige Lebensbedingungen. Bei Hilfsaktionen in Mosambik habe man aber, so berichtet Riccardi, einsehen müssen, "dass der Krieg die Mutter aller Armut sei". Und Frieden also die Voraussetzung für Hilfe und Fortschritt.
Im Jahr 1968 hatte Andrea Riccardi mit einer Hand voll Gleichgesinnter während seiner Gymnasialzeit in Rom begonnen, sich von der fundamentalistischen katholischen Jugendorganisation an den Schulen zu lösen. Dem Leben einen Sinn geben, das war Riccardi und seinen Freunden nur möglich im Gebet und in der konkreten Aktion. Jesus nachzueifern, so wie es ihnen ihr großes Vorbild Franziskus von Assisi gezeigt hatte, das schien den Jugendlichen, die bald auf die Universität wechselten, der einzige Weg in die Zukunft.
Jeden Abend versammelte man sich in dem damals noch verlassenen Karmeliterinnenkloster, um gemeinsam das Evangelium zu lesen. In den Vorstädten richteten die jungen Studenten die ersten "Volksschulen" für Kinder ein, die vom Schulsystem nicht erfasst wurden. Man baute Armenspeisungen auf, die bis heute ihren Höhepunkt in dem Weihnachtsessen in der Basilika Santa Maria in Trastevere findet. Hilfe für Drogensüchtige, Stadtstreicher und Obdachlose machten die Freiwilligen von Sant'Egidio bald zu "Engeln der Heiligen Stadt".

Enge Gemeinschaft ohne Ordensschwur

Das Prinzip ihrer Gemeinschaft ist bis heute gleich geblieben: ohne sich durch einen Ordensschwur förmlich zu binden, sind die Mitglieder von Sant'Egidio bereit, neben Arbeit oder Studium ihre Freizeit ausnahmslos der gemeinsamen Sache zu widmen. Diese freiwillige Verpflichtung hat im Vatikan viele Fürsprecher gefunden.
Auch zum Papst konnte Andrea Riccardi, der inzwischen als angesehener Kirchenhistoriker an der dritten staatlichen Universität Roms lehrt, früh ein enges Verhältnis aufbauen. Bereits 1985 wurde die "Comunit di Sant'Egidio" kanonisiert. Johannes Paul II. gilt als Förderer der Gemeinschaft, spätestens seit Riccardi ihm mit dem ersten Friedenstreffen der Weltreligionen von Assisi 1987 eine Plattform bot, auf der er äußerlich nur als Primus inter Pares auftrat, zugleich aber auf diesen und folgenden Treffen die führende Rolle der römischen Kirche als moralische Weltmacht demonstrieren konnte. "Der ökumenische Prozess", schrieb kürzlich der Gründer von Sant'Egidio, "ist nicht begründet auf einem föderalen Prozess zwischen Kirchen." Es sollte schon klar sein, wer das Sagen hat.
Inzwischen hat die Gemeinschaft, zu der auch mehrere Priester und Theologen gehören, mit Monsignore Vincenzo Paglia, der vor allem im Kosovo-Konflikt vermittelt hat, einen eigenen Bischof. Paglia wurde gerade zur Leitung der Diözese Terni berufen.
Wie groß, wie einflussreich ist Sant'Egidio wirklich? In der Eigenwerbung nennt man auf der Webseite (www.santegidio.org./it) die Zahl von weltweit 30000 Mitgliedern. Kritiker setzen die Zahl der aktiven Mitglieder viel geringer an: Nach Medienberichten sollen sich nicht mehr als 1200 Personen eng an die Gemeinschaft gebunden haben. Die Sozialwerke würden vor allem von Freiwilligen von außen unterstützt.
Nach eigenen Angaben gibt Sant'Egidio jedes Jahr umgerechnet rund drei Millionen Mark für die Sozialarbeit aus. Eine weitere Million für interreligiöse Veranstaltungen und eine nicht genannte Zahl für diplomatische Tätigkeiten kommen dazu. Man finanziert sich durch Zuwendungen von internationalen Organisationen und nationalen Regierungsstellen und erhält Geld von privaten Sponsoren.

Heirat nur mit Erlaubnis des Patriarchen

Wie es aber genau innerhalb der Gemeinschaft, die keine Mitgliederlisten oder Ausweise kennt, zugeht, kommt kaum an das Licht der Öffentlichkeit. Nach einem Bericht des römischen Magazins "L'Espresso" soll Andrea Riccardi mit recht patriarchalischen Methoden die Gemeinschaft leiten, in der streng zwischen Angehörigen von bürgerlichen und unteren Schichten getrennt wird. Leitungsfunktionen werden nur in der ersten vergeben. Es ist den Mitgliedern zwar möglich zu heiraten. Erwünscht werden aber Eheschließungen innerhalb der Gemeinschaft und dort nur innerhalb der gesellschaftlichen Schichtungen.
Meistens soll Riccardi selbst die "Genehmigung" für Heiraten aussprechen, wie er auch bestimmt, ob jemand die Priesterlaufbahn einschlagen soll oder nicht. Auch gibt es eine traditionelle Trennung nach Geschlechtern. So werden Frauen vor allem in der Kranken- und Altenpflege eingesetzt. Für die Einhaltung der Kastenregeln sorgt eine eigene Unterführerin für Sant'Egidio-Frauen (Cristina Marazzi). Innerhalb der Gruppen müssen sich die einzelnen Mitglieder für ihr Tun auf gemeinsamen Sit zungen verantworten. Es ist möglich, die Gemeinschaft wieder zu verlassen, was aber dem totalen Bruch mit dem früheren Lebenskreis gleichkommt. Das strahlende äußere Bild der unorthodoxen Friedensvermittler und aufopferungsvollen Sozialarbeiter steht dem inneren einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft gegenüber, in der das Kastendenken herrscht.
Die Rolle Riccardis war dabei nicht unumstritten. Vor einigen Jahren kam es in der Organisation zu einem Machtkampf. Anders als sein Konkurrent, Andrea Bartoli, der auch Anhänger in den deutschen Sankt'Egidius-Gruppen in Würzburg und Mönchengladbach hatte, betonte Riccardi die zentrale Rolle Roms nach dem Modell einer Kirche, die sich auf den römischen Bischof stützt.
Auch aus kirchenpolitischen Gründen: Nur so könne man, wie er in einem Interviewbuch schreibt, dem Machtanspruch der reichen Kirchen des Nordens einen Riegel vorschieben. Denn was die katholische Kirche heute spalte, sei die Spannung zwischen dem "Martyrium des Südens und dem Konsumismus des Nordens". Der Papst wird es gern vernommen haben.

©DS - DEUTSCHES ALLGEMEINES SONNTAGSBLATT,
8. September 2000 Nr. 36/2000

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