27. September 2007

Kultur & Medien


Hilberg-Buch
"Die Vernichtung der europäischen Juden"
VON ARNO WIDMANN

Hilberg
Raul Hilbergs "Die Vernichtung der europäischen Juden" ist das große Buch über den nationalsozialistischen Versuch, ein Europa ohne Juden herzustellen. Es ist ein akribisches, ein detailversessenes Buch. Ein Buch, an dessen erster Fassung der Autor jahrelang gearbeitet hatte, für das einen Verleger zu finden er noch einmal Jahre brauchte. 1961 erschien es endlich in den USA. Es fand sich kein deutscher Verleger, bis 1982 Ulf Wolter es in seinem kleinen trotzkistischen Verlag Olle & Wolter herausbrachte. Eine französische Ausgabe erschien erst, nachdem Claude Lanzmanns Film "Shoa" in Frankreich dem Thema Aufmerksamkeit verschafft hatte.

Die Publikationsgeschichte von Raul Hilbergs Hauptwerk (in der dreibändigen Taschenbuchausgabe des Fischer-Verlages hat es 1351 Seiten) ist noch nicht geschrieben. Es wäre eine Geschichte der Auseinandersetzung um die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Sie beginnt mit dem Vorbehalt, so genau - bis in die Logistik hinein - müsse man die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie nicht untersuchen, um sie verurteilen zu können.

Hilberg ging es nicht ums Verurteilen - das verstand sich von selbst. Hilberg wollte begreifen. Er wollte die Untaten verstehen. Er wollte wissen, wie sie funktionierten. Seines Lehrers Franz Neumann "Behemoth", dessen - wenn man es so paradox formulieren darf - analytischer Blick aufs Ganze hatte Hilberg stark geprägt. Aber Hilberg interessierte sich nicht nur für die Tat, sondern auch für die Täter. Zu jeder Unterschrift eines jeden die Judenvernichtung befördernden Verwaltungsaktes suchte er den vollen Namen, ja das Gesicht des Unterzeichners.

Raul Hilberg wurde am 2. Juni 1926 in Wien geboren. 1939 emigrierte die Familie über Kuba in die USA. Er studierte an der New Yorker Columbia Universität und wurde 1955 Professor in Burlington, Vermont, wo er bis zur Emeritierung lehrte und forschte.

Hilbergs Hauptwerk, "Die Vernichtung der europäischen Juden" eine Erweiterung seiner Doktorarbeit, erschien 1961. 1992 veröffentlichte er "Täter, Opfer, Zuschauer".

Die Memoiren Raul Hilbergs tragen den Titel "Unerbetene Erinnerung"; für "Quellen des Holocaust" wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis geehrt.
Dieses Interesse an den Tätern hat Hilberg viele Feinde verschafft. Er berücksichtige nicht die Opfer, kümmere sich nicht um deren Erzählungen. Seine Bemerkungen über die Aktivitäten der Judenräte in den von den Nazis eingerichteten Ghettos, seine Hinweise darauf, wie wenig jüdischen Widerstand gegen die Vernichtung es gegeben habe, hat ihn und seine Bücher immer wieder massiven Vorwürfen ausgesetzt. Keiner der Kritiker hat Hilbergs Darstellung widerlegen können. Dafür wurde immer wieder versucht, die Verbreitung seiner Bücher zu verhindern. Bis heute gibt es keine israelische Ausgabe seines Buches. Der Staat Israel basiert offenbar auf einer anderen Lesart der Geschichte der Judenvernichtung.

Man hat Hilberg immer wieder "Kälte" vorgeworfen. Das können nur Menschen tun, die von den Erregungen des Verstandes noch niemals ergriffen wurden. Hilbergs knapper, trockener Stil ist das Gegenteil von Empfindungslosigkeit. Es ist der Stil eines Menschen, der es verabscheut, die Schilderung der Ermordung von Millionen Menschen durch geschickten Einsatz von Adjektiven aufzuheizen. Wer Hilbergs "Unerbetene Erinnerung" liest, dem wird klar, dass Hilberg ein von Hitler in die Geschichtsschreibung vertriebener Künstler war.

Es ist nicht nur seine niemals nachlassende Anstrengung durch alle Details hindurch das Ganze und seine Zerbrechlichkeit sichtbar zu machen. Es ist auch die Begabung, das, was ihm das Liebste ist, als Material zu verwenden für die Arbeit. Der begeisterte Eisenbahner Raul Hilberg hat ihr keinen Herrgottswinkel in seinem Gemütshaushalt eingerichtet, sondern hat als erster die Rolle der Reichsbahn bei der Judenvernichtung untersucht und umfassend beschrieben. Sein Buch darüber - "Sonderzüge nach Auschwitz" - war sein erstes Buch in Deutschland und es hat Claude Lanzmanns Film "Shoa" geprägt. Das Liebste ist am Schlimmsten beteiligt. Man braucht viel Mut, um das nicht nur zu erfahren, sondern auch analysieren und darstellen zu können. Hilberg hatte diesen Mut. Er hatte ihn gegenüber Feind und Freund und auch gegenüber sich selbst. Das erfährt man, wenn man ihn liest. Lernen kann man es - leider - nicht von ihm.

Gelernt haben wir von ihm, dass es keinen umfassenden Plan der Judenvernichtung gab, keinen Führerbefehl, sondern dass sich in der Konkurrenz der verschiedenen Institutionen die unterschiedlichen Vorhaben hochschaukelten zum umfassendsten Pogrom der Weltgeschichte. Hilbergs Erklärung bedarf keines übermächtigen Führers. Die von ihm geschriebene Apokalypse kommt ohne Gott und Teufel aus. Er braucht nur Menschen wie du und ich. Sein Ausgangspunkt ist nicht Hitlers Wille, sondern der Prozess, in dem Bürokraten zu Tätern wurden. Raul Hilberg hat uns gelehrt, dass die Judenvernichtung nicht die Tat einiger durchgedrehter Antisemiten, sondern ein "nationaler Akt" war, an dem die ganze Verwaltung, ja die "gesamte organisierte Gesellschaft Deutschlands" beteiligt war.





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Dokument erstellt am 06.08.2007 um 17:24:01 Uhr
Letzte Änderung am 07.08.2007 um 17:17:53 Uhr
Erscheinungsdatum 07.08.2007


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