ÖAZ Aktuell (Ausgabe 10/2003)

Hauptartikel 10/2003

HAUPTARTIKEL

Vitaminantagonisten in Nahrungsmitteln

Aufbrauchfristen oraler Liquida nach Anbruch

Justus von Liebig

Dr. phil. Berta Brandstetter

Zum 200. Geburtstag eines leidenschaftlichen Chemikers

Justus von Liebig

Praxisnähe. Justus Liebig erblickte vor 200 Jahren, am 12. Mai 1803, in Darmstadt in einem Hinterhaus das Licht der Welt, die er im Laufe seiner Lebenszeit als Chemiker nutzbringend verändern sollte.

Justus von Liebig war hochintelligent, sehr temperamentvoll, ungemein kritisch, aber selbst sehr empfindlich, genoss eine gute Erziehung und Ausbildung, verließ aber vorzeitig das Gymnasium – hauptsächlich wegen Griechisch und Latein, Fächer die ihn langweilten.
Der Vater war ein tüchtiger Geschäftsmann und Produzent, der eine Art Drogerie – Materialienhandlung – sein eigen nannte und selbst Verschiedenes in einem kleinen Labor mischte, erzeugte und experimentierte. Dort fühlte sich Liebig wohl, die glitzernden Steine, die verschiedenen Geräte, neuartigen Werkzeuge und deren Handhabung interessierten ihn sehr, denn er war recht geschickt und aufmerksam. Dazu galt sein besonderes Augenmerk den farbigen, unterschiedlich riechenden und schmeckenden Stoffen sowie deren Reaktionen in Wasser und Feuer. Sie beeindruckten ihn, weil immer etwas, manchmal auch Unerwartetes geschah.
Bald erzeugte er selbst Knallerbsen, deren Herstellung er einem Wanderhändler auf dem Jahrmarkt abgeschaut hatte. Dank seiner früh erworbenen Kenntnisse im Labor seines Vaters und seiner ausgezeichneten Beobachtungsgabe gelang es ihm schnell, die Bestandteile zu identifizieren und nachzumachen: das so genannte Knallsilber war erfunden – eine Entdeckung, die wahrscheinlich sein weiteres Leben geprägt und seinen Wunsch, Chemiker zu werden, beeinflusst hat.
Mit fünfzehn Jahren begann er die Apothekerlehre in Heppenheim an der Bergstraße, kehrte aber schon nach zehn Monaten, bereichert mit neuen Erfahrungen, nach Hause zurück, wo er zwei Jahre blieb, weitere experimentelle Versuche anstellte, bis er merkte, dass er nur durch ein Studium an der Universität weiterkommen würde.
Einer der führenden deutschen Naturwissenschafter, Univ.-Prof. Dr. Kastner – ein Bekannter seines Vaters – war beeindruckt von der sichtlichen Begabung Liebigs und ermöglichte diesem, ohne abgelegte Reifeprüfung, das Studium an der Universität Bonn mit den Hauptfächern experimentelle Chemie, Physik und Pharmazie zu beginnen.
Zielstrebig, ungemein fleißig und aufgrund seiner starken naturwissenschaftlichen Veranlagung saugte er förmlich das notwendige neue Wissen in sich auf und schaffte die Basis sowie die Voraussetzung für seine künftige Laufbahn.
Alsbald wurde es ihm durch Prof. Kastner ermöglicht, eine chemische Vorlesung für Mediziner – zu deren besserem Verständnis für diesen wissenschaftlichen Zweig – zu gestalten, wodurch er in der Folge den Titel »Privatdozent« erwarb.

Mäzen
In den gemeinsamen Experimenten mit Prof. Kastner stellten sie miteinander Blausäure, blausaures Quecksilber, Cadmium aus schlesischem Zink und Jod her.
Da Prof. Kastner einen Ruf an die Universität Erlangen als Ordinarius erhielt, folgte ihm Justus Liebig bald nach und bekam eine Stelle als Assistent, die seine ständigen finanziellen Nöte erleichterte. Aufgrund der damaligen politischen Lage und der Studentenunruhen ist auch Liebig in erhebliche Schwierigkeiten geraten, er wurde kurzerhand verhaftet, aber es gelang ihm umgehend nach Darmstadt zu fliehen.
Auf Empfehlung von Prof. Kastner, der das außerordentliche Experimentiergeschick von Liebig würdigte und ihm weiterhelfen wollte, sandten beide ihre gemeinsamen, bereits anerkannten Veröffentlichungen an den damaligen Großherzog Ludwig I. mit dem Ersuchen, Liebig für seine Weiterbildung als künftigen Lehrer in Darmstadt, um sein Wissen zu vervollständigen, ein Stipendium in Paris zu gewähren, wo sich damals die größten Chemiker in Europa befanden.

Etabliert
1822 wurde dieses Stipendium bewilligt und großzügig finanziert. Nach vielen Mühen in Paris gelang es Liebig tatsächlich, sich im Kreise der naturwissenschaftlichen Forscher zu behaupten und durchzusetzen.
Unter anderem demonstrierte er mit 21 Jahren völlig unbefangen in der französischen »Academie des Sciences« – vor dem Forum erlesener, würdiger Wissenschafter mit wallenden Bärten, gekleidet im modischen Gehrock – erfolgreich das so explosive Knallsilber, wobei nichts passierte außer dem tosenden Beifall der begeisterten Hörerschaft über das gelungene Experiment.
Er gewann Anerkennung, viele Freunde und konnte internationale Beziehungen zu bedeutenden Forschern knüpfen. Während seiner Studien in der Weltstadt Paris wurde sein Horizont enorm erweitert und seine Kenntnisse wesentlich bereichert.
Die Vorlesungen namhafter Wissenschafter, wie Gay Lussac, Thénard, Guy Lavosier ließen ihn den Zusammenhang zwischen Experiment und Theorie besser begreifen, die grundlegend für neue Aspekte, Gedanken und Vorstellungen in der Forschung waren.
Nachdem Liebig seine Untersuchungen über das »Knallsilber und Knallmerkur« und »Über die Bereitung der Schwefelsäure« veröffentlicht hatte, erhielt er 1823 das Doktordiplom. Sein weiterer Werdegang wurde durch die Berufung nach Gießen in Hessen als außerordentlicher Professor bestimmt, wo er das pharmazeutisch-chemische Institut gründete und in der Folge ein umfangreiches chemisches Lehrprogramm aufstellte. Der Wurf war gelungen, die Chemie als wichtiges Fach im deutschsprachigem Raum errichtet und allseits anerkannt. Mit leidenschaftlicher Hingabe lehrte Liebig nun ständig Studenten, die aus allen Gegenden herbeiströmten, die wesentlichen Grundlagen der Chemie und ermöglichte ihnen die maßgebenden experimentellen Übungen dazu.
1825 wurde Liebig ordentlicher Professor, worauf er nach einiger Zeit Henriette Moldenhauer heiratete und eine Familie gründete.

Fruchtbare Jahre
Mit anderen chemischen Wissenschaftern unterhielt Liebig immer enge Verbindungen und einen ständigen Gedankenaustausch, der gegenseitig befruchtend wirkte und öfter zu gemeinsamen Veröffentlichungen führte. Zu vielen Fragen hatte er mit Wöhler einen ständigen Briefwechsel und mit Berzelius heftige Diskussionen zu manchen Themen.
Liebigs Veröffentlichungen betrafen »Brom und Chlorjod«, die »Analyse organischer Stoffe«, wobei er zur Vereinfachung den Fünfkugel-Apparat erfand und damit Chloral, Chloroform und Chloralhydrat entdeckte. Beim Einatmen des Chloroforms wurde er ohnmächtig und von seinen Mitarbeitern gerettet. Bei den damaligen experimentellen Arbeitsmethoden wurde mit Holzkohlenfeuer gearbeitet: das Erwärmen, Erhitzen, Sieden, Abdampfen, Destillieren wurde durchgeführt, indem die Behälter darüber angebracht waren. Natürlich geschah das Springen von Glas, Überschäumen von Retorten sehr häufig. Der Inhalt ergoss sich dann direkt in die Glut, weshalb so genannte kleine Arbeitsunfälle an der Tagesordnung waren. Man stand ungeschützt im Gehrock vor dem Labortisch, hatte gegen das Spritzen und die Kohlenasche nur Filzzylinder oder eine andere Kopfbedeckung auf, ganz abgesehen von den schädlichen, flüchtigen Abgasen, die man ständig einatmete.

"Der jeweils in geringster Menge vorhandene Nährstoff bestimmt die Menge des Ertrages."
Justus von Liebig

Des weiteren publizierte Liebig mit Wöhler die experimentellen Befunde »Über das Radikal Benzoesäure«, neue Ergebnisse »Über die Bildung des Bittermandelöles« und »Über die Natur der Harnsäure«. Wissenschaftlich starteten beide fast gleichzeitig die wichtige Sammlung »Handwörterbuch für Chemie«, die bis zur Vollendung Jahre in Anspruch nahm.
Nachfolgend veröffentlichte Liebig »Über die Zusammensetzung der Chinasäure« sowie »Über den Stickstoffgehalt der organischen Basen«, »Über die Oxydation des Alkohols«, »Über einige Stickstoffverbindungen«, »Über die Äthertheorie«, »Anleitung der Synthese organischer Körper«, »Über die Konstitution der organischen Säure«, worin er eine neue Säuretheorie entwickelte.

Außenansicht des Gießener Laboratoriums

Praxisnähe
Seinem Tatendrang entsprechend unternahm Liebig einige Reisen mit der Postkutsche, besuchte bekannte Wissenschafter, um einen generellen Überblick, insbesondere über den zeitgemäßen Stand der Forschung zu gewinnen.
Ferner bereiste er England, Schottland, usw., unternahm viele Besichtigungen von verschiedenartigen Betrieben, sah erstmals Dampfmaschinen, bestaunte Dampfloks und war begeistert von der bereits stattgefundenen umfangreichen Industrialisierung.
Liebig studierte intensiv die vielfältigen Möglichkeiten der Chemie für den künftigen Einsatz und deren allfälligen Anwendungen in Firmen bzw. der Industrie.
Auf Wunsch von Interessenten besuchte er in Frankreich Zuckerfabriken, um Voraussetzungen für die mögliche Produktion von Zucker in Betrieben im deutschen Raum zu erkunden. Jedoch erst als es gelang, eine Runkelrübe mit hohem Zuckergehalt zu züchten und den Ertrag durch entsprechende Düngung wesentlich zu verbessern, konnte man Erfolge verzeichnen.

Dünger
Die Chemie in der Landwirtschaft war also ein vorgegebenes Projekt für die Zukunft, das genaue Kenntnisse der Bedingungen für das günstigste Wachstum der Pflanzen mit vielen neuen Ideen erforderte.
1840 – nach der Veröffentlichung Liebigs »Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikulturchemie und Physiologie« – spezialisierte er sich auf die Zusammensetzung des mineralischen Düngers. Der naheliegende und maßgebende Gedanke dabei war: Will man die Fruchtbarkeit der Felder erhalten, muss man ihnen jährlich das Entnommene an Nährstoffen wieder zuführen. Höhere Erträge gewinnt man durch größere Gaben. Die fürchterlichen Hungersnöte von 1740 und 1771 hatte man noch nicht vergessen und diejenige im Jahre 1816 hatte Liebig selbst miterlebt.

"Jede Energieart, chemische, mechanische, elektrische Energie ist nach ganz bestimmten festen Verhältnissen in eine andere umwandelbar, die Gesamtmenge bleibt konstant, nichts geht verloren."
Julius Robert Mayer

Nach vielen Bodenanalysen erkannte Liebig, dass die Pflanzen mit dem Sonnenlicht aus den anorganischen Bestandteilen der Erde und der Luft die organischen Stoffe aufbauten und den freiwerdenden Sauerstoff an die Luft abgaben, den Mensch und Tier zum Leben benötigen. Wichtige Voraussetzung waren also für die Pflanzen die mineralischen Nährstoffe, die, wenn die Böden verarmten, zugeführt werden mussten. Somit war der richtige durchdachte Ackerbau die Basis für alle Entwicklungen, den erwünschten Wohlstand usw., einschließlich die Grundlage der Industrie. Energisch forderte Liebig nun eine nach wissenschaftlichen Aspekten betriebene Landwirtschaft.
Jede Pflanze hat einen spezifischen Bedarf an Nährstoffen; fehlt ein einziger, ist der Überschuss anderer wirkungslos. In diesem Sinne schuf er das Gesetz des Minimums, das besagte: "Der jeweils in geringster Menge vorhandene Nährstoff bestimmt die Menge des Ertrages."

Im Körper
Diese fundamentale Entdeckung wurde veröffentlicht, in andere Sprachen übersetzt, erregte großes Aufsehen in Europa und erhielt weltweite Anerkennung.
Stets war Liebig auch als wissenschaftlicher Redakteur bemüht sowie mit Beiträgen als Mitarbeiter in Buchreihen tätig. So erschienen 1844 seine »Chemischen Briefe« als Gesamtwerk in mehreren Auflagen und Übersetzungen. In Würdigung seiner großen Verdienste und einmaligen Leistungen wurde Liebig 1845 zum Freiherrn geadelt.
Angeregt durch die bisherigen Befunde der Lebensvorgänge in Pflanzen, vermutete Justus von Liebig auch chemische Reaktionen in tierischen Organismen, die es zu erforschen galt. Er untersuchte viele tierische Stoffe – Blut, Galle, Harn, Eiweiß, Fett usw. –, um ihre Funktionen im Körper zu erkennen, bis er die Vorgänge bei der Atmung und beim Stoffwechsel beschreiben konnte. Der Sauerstoff wirkt wesentlich mit bei der Umwandlung der Nahrung, indem seine Reaktionen Wärme und Energie für den Organismus liefern. Beim Ausatmen wird Kohlendioxid und Wasserdampf freigesetzt, im Stoffwechsel gebildete Stickstoffverbindungen durch Harn und Schweiß bzw. andere im Körper verwertete, ausgenützte und abgebaute Stoffe mit den Exkrementen ausgeschieden.
Seiner Ansicht nach waren die hauptsächlichen Bestandteile des Blutes bereits in der pflanzlichen und tierischen Nahrung vorgebildet, woraus sich die Wichtigkeit der richtigen Ernährung folgern ließe. Diese Überlegung führt zu dem Schluss, dass durch die entsprechende Auswahl der Nahrungsmittel Gesundheit und Arbeitskraft des Menschen beeinflussbar sein müssten. Er dachte, vielleicht könnte man sogar derart die Ursachen von Krankheiten und die Wirkung von Arzneien verstehen lernen.
Liebig beendete sein Buch »Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie«. Inzwischen hatte aus Heilbronn der Arzt Julius Robert Mayer an Liebig für seine Fachzeitschrift das »Gesetz von der Erhaltung und Umwandlung der Energie« (siehe Zitat) zugesandt. Trotz ungeahnter Schwierigkeiten – vielleicht war die Zeit und Denkungsart noch nicht reif dafür – veröffentlichte Liebig diese Publikation unverzüglich in seinen »Annalen für Chemie und Pharmazie«. Es war eine faszinierende Arbeit mit fundamentaler Aussagekraft über die verschiedenen Formen, Umwandlungen und Erhaltung der Energie, durch die Liebig intuitiv erfasste, dass die Kraftquelle für Mensch und Tier, die Erzeugung von Körperwärme und Bewegungsenergie, aus dem mit der Nahrung aufgenommenen Kohlenstoff beruhte, der mit dem eingeatmeten Sauerstoff oxidiert, chemische Energie liefert und in diesem speziellen Fall umgeformt als Wärme- und Bewegungs-Energie dient.
In der Zwischenzeit erfand Liebig die Herstellung von Fleisch-Extrakt sowie etwas später die Kraftbrühe für Kranke. Im weiteren folgten von Liebig »Untersuchungen über einige Säftebewegungen im tierischen Organismus«, »Zur Beurteilung der Selbstverbrennung im menschlichen Körper«, »Die Beziehungen der verbrennlichen Nahrungsbestandteile zu dem Lebensprozess« und »Chemische Untersuchungen der Schwefelquellen Aachens«.

… im Dienste des Menschen
1852 folgt Liebig seiner Berufung nach München, nun finanziell gut gesichert, wo er auch – man stelle sich vor – über eine eigene Wasserleitung, eine Gasbeleuchtung und einen riesigen Experimentiertisch verfügte.
Auf dieser Grundlage eröffnete sich eine neue schöpferische Schaffensperiode. Der Damenwelt nützte Liebig mit der »Versilberung und Vergoldung von Glas« auf einfachem Weg. Es folgte die »Bereitung der Pyrogallussäure«. Dann schrieb Liebig seine fortschrittlichen Gedanken über das »Studium der Naturwissenschaften« und »Neue Methoden Harnstoff quantitativ zu bestimmen«.
1855 publizierte Liebig – neu überdacht – »Die Grundsätze der Agrikulturchemie«, dann »Über Theorie und Praxis der Landwirtschaft«, »Über das Verhältnis der Ackerkrume zu den in Wasser löslichen Nahrungsstoffen der Pflanzen«, schließlich die »Verwendung von Cloakenmaterialien als Düngemittel«.
1860 wurde Liebig Präsident der Königlichen Akademie der Wissenschaften in München und publizierte »Die Ökonomie der menschlichen Kraft«. Dann schrieb er über den »Malzextrakt«, den »Wert des Fleischextraktes für Haushaltungen«, eine neue Methode der »Brotbereitung«. Wichtig erscheinen unter anderem die Veröffentlichungen »Über den Ernährungswert der Speisen«, »Über Gärung, Quelle der Muskelkraft und Ernährung« sowie »Der Fleisch-Extrakt ein Genussmittel«.
1873 starb Liebig in München, einer der genialsten Chemiker der Geschichte; sein Leben und Wirken stand im Dienste der Menschheit.

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