Home | Artikel-Links | Galerie | Sitemap | Kontakt
Syrian Youth



Anzeige

Islam und »schwule« Liebespoesie im maurischen Spanien

Textauschnitt aus: John Boswell, Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality (übers.)

John Boswell, 1994 im Alter von 47 Jahren an den Folgen von Aids verstorben, ist der bekannteste Vertreter einer essentialistischen [1] Strömung in der Historiographie der Sexualitäten. Das selbsterklärte Ziel der Arbeiten des bekennenden Katholiken war es, »die verbreitete Vorstellung zurückzuweisen, dass religiöser Glaube – der christliche oder ein anderer – die Ursache von Intoleranz in Bezug auf schwule Männer gewesen ist«. 1980 veröffentlichte er mit »Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality« eine Studie, die seine These an einem umfassenden Quellenkorpus belegen sollte. In diesem für die spätere Entwicklung der »gay & lesbian studies« einflussreichen Werk findet sich auch ein Umriss über die Bedeutung gleichgeschlechtlicher Liebe in der islamischen Dichtung des mittelalterlichen Spaniens, dem sich Boswell im Rahmen seiner Forschungstätigkeit als Geschichtsprofessor an der Yale-Universität ausgiebig zugewandt hatte. Im Folgenden möchten wir diese kurze Skizze auszugsweise wiedergeben:

Die arabische Sprache beinhaltet ein umfangreiches Vokabular schwuler erotischer Terminologie mit Dutzenden von Worten, allein um Typen männlicher Prostituierter zu beschreiben. Die erotische Adressierung eines Mannes durch einen anderen ist die Standardkonvention arabischer Liebespoesie; sogar Gedichte, die wirklich an oder für eine Frau geschrieben wurden, benutzen oft männliche Pronomen oder Metaphern männlicher Schönheit: es ist nicht ungewöhnlich, an eine Frau gerichtete Poesie zu finden, in der das Objekt der Zuneigung des Dichters für »einen dunklen Schnurrbart über den perlenweißen Zähnen« oder den »ersten Flaumbart auf einer Haut aus Damast« gepriesen wird. Gedichte über die physische Anziehungskraft, die der erste Bart eines jungen Mannes ausübt, konstituieren ein ganzes Genre in der arabischen Dichtung. Dass solche literarischen und sozialen Phänomene nicht einfach nur soziale Beschränkungen der öffentlichen Zurschaustellung und Bewunderung von Frauen widerspiegeln, zeigt die Praxis in vielen Gegenden der muslimischen Welt (besonders Spanien), hübschen Mädchen die Haare kurz zu schneiden und ihnen männliche Kleidung anzuziehen, so dass sie wie hübsche Jungen aussehen: die Frauen, die an dieser ungewöhnlichen Form von Transvestismus teilhatten, standen offensichtlich bereit, in ihrer Weiblichkeit gewürdigt zu werden.

Wenn sich irgend etwas über das frühmittelalterliche Spanien sagen lässt, dann dass diese Tendenz dort übersteigert war. Jede Variante homosexueller Beziehung war verbreitet, von der Prostitution bis zur idealisierten Liebe. Erotische Verse über scheinbar homosexuelle Beziehungen bilden das Gros der publizierten spanisch-arabischen Poesie. Solche Verse wurden von jeder Art Person jeden Ranges geschrieben. Könige schrieben Liebesgedichte an oder über ihre männlichen Untertanen und erhielten im Gegenzug erotische Dichtung zurück. Dichter schrieben sich gegenseitig Liebesverse oder richteten sie an Personen aus niedrigerem Stand. Als al-Mutamid, im 11. Jahrhundert König von Sevilla, von seinem Pagen schrieb, dass »ich ihn zu meinem Sklaven machte, aber die Schüchternheit seines Blickes machte mich zu seinem Gefangenen, so dass wir beide zugleich Sklave und Herr füreinander waren«, drückte er damit ein Gefühl aus, mit welchem seine Untertanen nicht nur sympathisieren konnten, sondern über das sie selbst vermutlich ähnliche Verse komponierten oder rezitierten.

Al-Mutamid verliebte sich auch in den Poeten Ibn 'Ammar, vom dem getrennt zu sein er nicht ertragen konnte, »selbst für eine Stunde, einen Tag oder eine Nacht«, und den er zu einem der mächtigsten Männer in Spanien machte. In den früheren Tagen des Jahrhunderts wurde das Königreich Valencia von einem Paar ehemaliger Sklaven regiert, die sich ineinander verliebt hatten und gemeinsam die Stufen des Staatsdienstes emporgeklettert waren, bis sie sich in einer Position befanden, um selbst zu herrschen. Ihre gemeinsame Regentschaft wurde von bewundernden muslimischen Historikern als eine Beziehung vollständigen Vertrauens und gegenseitiger Hingabe ohne jede Spur von Konkurrenz und Eifersucht charakterisiert, und ihre Liebe füreinander wurde in Versen von Dichtern besungen, die es aus ganz Spanien an ihren Hof zog.

Die spanisch-muslimische Gesellschaft kombinierte die freizügige Sexualität Roms mit der griechischen Neigung zur leidenschaftlichen Idealisierung emotionaler Beziehungen. Ihre intensivste erotische Literatur mochte Beziehungen zelebrieren, die entweder sublimiert oder sexuell waren, aber in jedem Fall war sie dazu angetan, gleichgeschlechtliche Verbindungen ebenso zu feiern wie heterosexuelle, wenn nicht sogar mehr als diese.

Es wäre ein Fehler, sich die kulturelle Vorliebe für homosexuelle Erotik als das Resultat einer Säkularisierung oder eines religiösen Niedergangs vorzustellen. Der spanische Islam war bekannt für seine Rigidität in gesetzlichen und moralischen Angelegenheiten, brachte herausragende Juristen und Theologen hervor und wurde im Allgemeinen von Muslimen regiert, die im Rest der islamischen Welt für Fanatiker gehalten wurden. Homosexuelle Liebesmetaphorik war eine Standardwährung der mystischen Literatur des Islam sowohl in als auch außerhalb Spaniens. Viele der Autoren schwuler erotischer Poesie auf der iberischen Halbinsel waren Lehrer des Koran, religiöse Führer oder Richter; fast alle schrieben konventionelle religiöse Verse ebenso wie Liebesgedichte. Ibn al-Farra', ein Lehrer des Koran in Almería, richtete amouröse Verse an die Schüler seiner Klasse und schrieb ein Gedicht darüber, gegen einen widerspenstigen Liebhaber vor Gericht zu ziehen, wo der Kadi urteilte, dass der Jugendliche den Annährungsversuchen des Lehrers nachgeben müsse:

Dann deutete [der Richter] auf die Blumen, dass sie anzunehmen seien,
Und auf den Mund, dass er gekostet werden sollte.
Und als mein Geliebter ihn auf meiner Seite sah,
Und es nicht länger irgendeine Kontroverse zwischen uns gab,
Beendete er seinen Widerstand, und ich umfasste ihn,
Als wäre ich ein Lam and mein Liebhaber ein Alif. [*]
Ich fuhr fort, ihn für seine Lieblosigkeit zu tadeln,
Und er sagte: »Möge Gott einen vergangenen Fehler vergeben!«


[*] Eine Metapher grafischer sexueller Herkunft: die arabischen Buchstaben Lam und Alif werden in einer Weise zusammengeschrieben, die hier verwendet wird, um das Eindringen des einen in den anderen anzudeuten. Das Lam (Ibn al-Farra') wird ل geschrieben, das Alif (der Jugendliche) ا ; wenn sie zusammen auftreten, erscheinen sie als لا.


Aus: John Boswell: Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality. Chicago; London 1980. S. 195-197. ISBN 0-22606-711-4

Übersetzung: G. K.



Anmerkung

[1] Der Essentialismus geht davon aus, dass die Begriffe »lesbisch«, »schwul« und »heterosexuell« überzeitliche Wesensmerkmale bezeichnen, die auch anderen Gesellschaften als der modernen westlichen problemlos von außen imputiert werden könnten. Das ist umso verwirrender, als Boswell das Dilemma selbst erkennt: »Tatsächlich wirft die Bekanntschaft mit der Literatur der Antike ein äußerst verblüffendes Problem für den Geisteswissenschaftler auf, das den meisten Personen, die unvertraut mit den Klassikern sind, nicht in den Sinn käme: ob die Dichotomie, die durch die Termini ›homosexuell‹ und ›heterosexuell‹ unterstellt wird, überhaupt mit irgendeiner Realität korrespondiert. [...] Das Bewusstsein über Gründe der Unterscheidung folgt auf das Verlangen zu unterscheiden. Die Frage, wer ›schwarz‹, ›farbig‹ oder ›Mulatte‹ ist, beunruhigt nur Gesellschaften, die von rassistischen Vorurteilen beeinträchtigt sind [...]. In der antiken Welt kümmerten sich so wenige Menschen darum, ihre Zeitgenossen auf der Basis des Geschlechts zu kategorisieren, zu dem sie sich erotisch hingezogen fühlten, dass keine Dichotomie gebräuchlich war, um diese Unterscheidung auszudrücken.« (Boswell, a. a. O., S. 58 f.)

 



Zuerst veröffentlicht in:
Out of Dahlem Nr. 3, Mai 2004


Artikel zum selben Thema:
Globalizing Homophobia
it's not religion, stupid!
Islam und »schwule« Liebespoesie im maurischen Spanien


Themenliste:
[ Homosexualität & Islam ] [ Intersexualität ] [ Vergewaltigung ] [ Rassismus & Antisemitismus ] [ Stonewall was a riot! ]

Copyright 2004
Print Druckversion
Zum Seitenanfang