BERN, 19.06.06 (rsn) - Als Jan Ullrich
im Frühjahr wieder mal Probleme mit den Knien hatte und
seinen Saisonstart verschieben musste, dachte auch sein engstes Umfeld:
"Nicht schon wieder!" Ullrichs diskreter Mentor Rudy Pevenage würde so etwas nie
laut sagen, aber nach dem Tour de Suisse-Sieg seines
Schützlings räumte er ein, dass er mit so einer glatten Tour de France- Vorbereitung
damals "nicht unbedingt" gerechnet hatte.
Nach seinem souveränen zweiten Triumph bei der Schweizer Rundfahrt sieht
sich Ullrich bestens gerüstet für den absoluten Saisonhöhepunkt im Juli.
Dass er nach seinem ersten Tour de Suisse-Sieg 2004 damals anschließend in Paris
erstmals das Podium verpasste, ficht ihn nicht an.
"Ich bin nicht abergläubisch!", lachte Ullrich.
Ullrich, der einzige aktive Rennfahrer, der
weiß wie es ist, die Tour de France zu gewinnen,
ist bereit für die
"Große Schleife", die am 1.Juli
in Straßburg beginnt.
Aufgeräumt und optimistisch
wirkte der T-Mobile-Star, nachdem
er am Sonntag mit dem Sieg im abschließenden
Zeitfahren seinen zweiten Tour de
Suisse-Sieg perfekt machte.
Damit hat Ullrich,
der das Giro-Zeitfahren gewann, nun schon
drei große Saisonsiege zu Buche
stehen. Von den nackten Ergebnissen
her hatte er noch nie in
seiner Karriere eine solch
gute Tour-Vorbereitung.
"Ich denke, ich bin jetzt bei 90 Prozent
meiner Fom", meinte Ullrich nach seinem
Tour de Suisse-Sieg.
Perfektes Timing also.
Vor zwei Monaten sah das alles noch ganz anders aus.
Es brodelte wieder die Gerüchteküche,
was Ullrichs Lebenswandel angeht.
Dann musste er wegen Kniebeschwerden
seinen Saisonstart verschieben.
Bjarne Riis und Lance Armstrong
äußerten öffentlich Zweifel
daran, ob es Ullrich schafft,
rechtzeitig seine Form zu finden.
Der entscheidende Punkt
war dann die Tour de Romandie,
bei der Ullrich sein verspätetes Debüt gab.
Die zur ProTour zählende Rundfahrt
mit vielen Bergen war natürlich
eigentlich viel zu schwer für
einen Einstieg, doch
Ullrich musste sich unbedingt
da durchquälen, sonst wäre
sein Start beim Giro eine gute
Woche später unmöglich gewesen.
Ullrich schaffte es.
Bei der Italien-Rundfahrt fand
er nach und nach seinen Rhythmus,
in den Bergen fuhr er hinterher,
doch mit seinem
Sieg im Zeitfahren vor Basso
setzte er ein kräftiges Ausrufezeichen.
Und er beendete die Rundfahrt - fast.
Bei der Tour de Suisse konnte
nun der vorletzte Teil
der Tourvorbereitung beginnen.
Zunächst hatte Ullrich gar nicht
unbedingt geplant, in der Schweiz
zu fahren. Die Asturien-Rundfahrt
war angedacht, bei dem schwach besetzten
Rennen im abgelegenen Nordspanien hätte
er sich ruhige einrollen können,
aber Ullrich wollte sich nicht verstecken
und entschied sich doch noch
für die Tour de Suisse, wo
er schon vor seinem Toursieg 1997
auf dem Podium stand.
Die Entscheidung war goldrichtig.
Sogar das Wetter war
auf seiner Seite.
Bei hochsommerlichen Temperaturen,
bei denen sich Ullrich erst richtig
wohlfühlt, konnte
er unter optimalen Bedingungen arbeiten
und sich in den Bergetappen testen.
Der krönende Abschluss am Sonntag
war dazu Balsam für die Seele,
wie man im Gesicht des strahlenden Siegers
lesen konnte.
"Wir sind 22000 Höhenmeter
geklettert, ich bin ein gutes Zeitfahren gefahren.
Ich denke, ich habe allen Grund zufrieden
zu sein", fasste Ullrich
seine Tour de Suisse zusammen.
"Die 10 Prozent, die
mir noch fehlen,
hole ich mir noch in den Tagen bis zum Tourstart.
Ich werde zwei, drei Tage ruhig
zuhause verbringen,
auch um vom Kopf frei zu bekommen.
Dann steht eine
Woche Training hinter
dem Motorrad an,
um am Rhythmus weiter zuarbeiten",
so der deutsche Tourstar,
der auf die Deutschen Meisterschaften
im sächsischen Klingenthal voraussichtlich verzichten ("Das
wäre eine sehr lange Anreise") wird.
34 Renntage wird er in den Beinen
haben, wenn er am 1.Juli in Straßburg
von der Startrampe des Prologs rollt.
Der Favorit bei der Tour de France heißt zwar immer
noch Ivan Basso, der zwischen
Girosieg und Tour nur
Kriterien und die italienischen Meisterschaften
am 25.Juni bestreiten wird.
Der Italiener ist in den Bergen
stärker und hat sich im Zeitfahren
enorm verbessert. Aber mit
einem Ullrich in Form wird die Tour
de France spannend. Der 32-Jährige
hat eine beeindruckende
Konstanz bei der "Großen Schleife".
Acht Mal war er am Start,
seine schlechteste Platzierung
war ein vierter Platz 2004.
Damals gewann er vorher
auch die Tour de Suisse.
Ein schlechtes Vorzeichen?
"Nein", lachte Ullrich am Sonntag",
so abergläubisch bin ich nicht.
Vor zwei Jahren
bin ich ja nicht Tourvierter
geworden, weil ich die Tour
de Suisse gewonnen habe. Ich
war in der ersten Tourhälfte krank,
das war der Grund."
In aufgeräumter Stimmung
nahm Ullrich nach seinem Tour de Suisse-Sieg
auch noch mal die sehr scharf
formulierte Kritik seines
früheren Teamkollegen Bjarne Riis auf,
für dessen Toursieg er 1996
gearbeitet hatte. Riis, Bassos Teamchef
bei CSC, hatte Ullrich fehlende
Einstellung vorgeworfen.
"Ich brauche keine
Fotos von meinen Gegnern
an die Wand zu hängen, um
mich zu motivieren
Das Ziel, zum zweiten Mal
die Tour zu gewinnen,
ist Motivation genug",
so Ullrich dazu und
fügte an: "Zu zeigen,
dass die Kritik nicht gerechtfertigt
ist, ist natürlich befriedigend.
Aber das kann man nicht
nach einem Giro-Etappensieg oder
der Tour de Suisse beantworten.
Der 23.Juli (der letzte Tag der
Tour de France) zählt."
Kersten Volk
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