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titel thesen temperamente
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Testfall für die Meinungsfreiheit - Der Schriftsteller Orhan Pamuk in der Türkei vor Gericht

Sendung vom 02.10.2005 22:45 Uhr (NDR)

Orhan Pamuk ist der bekannteste Schriftsteller der Türkei. Ein Star auch In Deutschland: Morgen erhält er in Darmstadt den Ricarda-Huch-Preis und am 23. Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Seine Werke wurden in 35 Sprachen übersetzt und weltweit mehr als eine Million mal verkauft.

Wie europäisch ist die Türkei?

In seiner Heimat aber soll Pamuk jetzt der Prozess gemacht werden - weil er die Wahrheit sagt: über das Kurdenproblem und über den Völkermord an den Armeniern vor 90 Jahren. Im Fall Pamuk spiegelt sich das ganze aktuelle Dilemma: Wie europäisch ist die Türkei?

"Ich befasse mich in meinen Büchern immer mit der Frage, was es heißt, ein Türke zu sein. Die türkische Kultur ist ja eine Kombination von westlicher und traditionell islamischer Kultur. Das ist sehr fragil, und für säkulare Türken der Mittelschicht wie mich ist es nicht leicht, eine Identität zu finden", so der Autor.

Pamuk, 1952 in Istanbul geboren, wuchs in einer politisch turbulenten Zeit auf. Linke Extremisten und rechte Nationalisten bekämpften sich jahrelang blutig; dreimal putschte das Militär, schränkte Grund- und Menschenrechte ein. Auch durch diese Erfahrung wurde Pamuk zu einem politisch denkenden Bürger. "Mitte der 90er Jahre, als der türkische Staat mit aller Härte gegen die separatistischen Kämpfer der PKK vorging", sagt Orhan Pamuk, "sah ich die Rede- und Meinungsfreiheit in unserem Land in Gefahr. Deshalb habe ich mich damals zu Wort gemeldet - auch zu anderen Themen. Ich glaubte und hoffe noch immer, dass auch ich dazu beitragen kann, in diesem Land die volle Demokratie durchzusetzen und die Menschenrechte - ich fühle mich ethisch dazu verpflichtet."

Kritik wird mit Gewalt bekämpft

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist auch in der Türkei durch die Verfassung garantiert. Wer es jedoch in Anspruch nimmt, um sich etwa kritisch mit der Geschichte des Landes auseinander zu setzen, geht das Risiko ein, mit nackter Gewalt daran gehindert zu werden.
Kürzlich erinnerte eine Kulturstiftung mit Fotos an ein Pogrom gegen Griechen und andere Nicht-Muslime vor 50 Jahren in Istanbul. Tausende von Häusern, Geschäften und sogar Kirchen waren von einem türkischen Mob geplündert und gebrandschatzt worden - doch solche Bilder sind immer noch tabu. Plötzlich entert ein Kommando-Trupp der "Union des türkischen nationalen Kampfes" die Ausstellung. Erst fliegen Eier. Dann verkündet ein Sprecher: "Mit Feuer, Tränen und Waffen muss das Vaterland gegen die Propaganda der Separatisten verteidigt werden".

Türkei 2005. Wenn es um den Nationalstolz geht, brennt bei vielen Gruppierungen noch immer die Sicherung durch. Der Wahrheit keine Chance. Und die anwesende Polizei geht erst dazwischen, als Personen angegriffen werden.

Wer historische Tabus wie den Genozid an den Armeniern von 1915 öffentlich anspricht, gegen den gehen noch immer national gesinnte Staatsanwälte mit der Härte des Gesetzes vor. Nur weil Orhan Pamuk in einem Interview mit einer Schweizer Zeitung erklärte: "Man hat hier 30 000 Kurden umgebracht und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen", soll er jetzt wegen "Beleidigung des Türkentums" vor Gericht. Ihm drohen bis zu drei Jahre Haft.

Der Fall Orhan Pamuks Fall - ein Test für die Meinungsfreiheit in der Türkei

"Es gibt hier eine Überempfindlichkeit", meint Pamuk, "was die dunklen Momente unserer Geschichte angeht. Aber es wäre fatal, wenn diese wütenden Reaktionen unsere Verhandlungen mit der EU blockieren. Ich möchte nicht erleben, dass ultra-rechte Nationalisten den Beitritt der Türkei zur EU verhindern. Wir wollen Redefreiheit in diesem Land, weil wir wollen, dass solche Dinge hier nicht mehr passieren können." Pamuks Interview löste einen Aufschrei aus. Nationalisten demonstrierten; "Vaterlandsverräter", geiferte die Presse, "stopft ihm das Maul". Per Telefon erhielt Pamuk anonyme Morddrohungen.

Ollie Rehn, EU-Erweiterungskommisar, dazu: "Aus meiner Sicht verletzt die Anklage gegen Pamuk ganz klar die Europäische Menschenrechts-Konvention. Die EU-Kommision wird diesen Fall sehr bald in einem offiziellen Bericht ansprechen. Ich erwarte, dass die türkische Regierung darüber nachdenkt, wie sie Gesetze ändert, die eine solche Anklage überhaupt erst möglich machen."

Orhan Pamuks Fall ist zu einem Lackmus-Test für die Meinungsfreiheit in einem Land geworden, das nichts lieber will als morgen mit den Beitrittsverhandlungen zur EU zu beginnen. Solange es in der Türkei noch sogenannte "Meinungs-Delikte" gibt, ist Europa weit entfernt.

 

Internet-Links

 

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