Archiv

Politik

Wirtschaft

Gesellschaft

Geschichte

Kultur

Frankophonie

Erlebtes

Lebensart

Tipps

Kontakt

Aus unserer vierzehnten Ausgabe – Togo-Reihe

22. Oktober 2007 – Theater des Widerstands

Die Herrschaft des Spiels


Sénouvo Agbota Zinsous politisches Theater

Christina Felschen

Gespannte Erwartung erfüllt den Theaterraum an der Bayreuther Universität, wo in wenigen Minuten die erste Probe zu Sénouvo Agbota Zinsous Drama Die Große Harmonie beginnen soll, bei dem der Autor selbst Regie führt. Zinsous Auftritt in dieses ehrfürchtige Schweigen hinein ist wahrhaftig bühnenreif: Hinter einer lebensgroßen Palme aus Pappmachee, die er auf dem Arm trägt, lässt sich der renommierte Dramatiker nur erahnen. Als er die jungen Schauspieler durch die Palmblätter hindurch begrüßt – hier in fließendem Französisch, dort in zögerlichem Deutsch – lächeln sie ihre Nervosität davon. Hervor tritt ein großer schlanker Afrikaner mit jugendlichem Lächeln. In Lederschuhe, Stoffhose und hellblaues Hemd gekleidet, dabei die Palme noch in der Hand, strahlt Zinsou Humor und Würde gleichermaßen aus.

In Zinsous modernem Bühnenmärchen Die Große Harmonie, das im November in Bayreuth Premiere hat, liegen Traum und Wirklichkeit, Komödie und Tragödie, Tradition und Moderne nah beieinander. Genau wie im Leben des afrikanischen Dramatikers, der nie aufgehört hat, an das Gute im Menschen zu glauben – und an die Kraft der Fantasie, dieses heraufzubeschwören. Dabei hätte Sénouvo Zinsou in seinen 61 Lebensjahren allen Grund gehabt, am Guten in der Welt zu zweifeln. Denn er hat die historischen Untiefen seines Landes aus nächster Nähe erlebt: Nachdem Zinsous Kindheit noch in die französisch-britische Kolonialzeit fiel, erlebte er als Teenager die Unabhängigkeit seines Landes. Doch schon sieben Jahre später war alle Euphorie vorbei, als Eyadéma Gnassingbé durch einen Militärputsch an die Macht kam. Drei Jahrzehnte lang regierte dieser mit äußerster Härte und Grausamkeit, drei Jahrzehnte, in denen Zinsou als erklärter Regimegegner jede Möglichkeit des Widerstands nutzte: 15 Jahre lang mit seinen mutigen Inszenierungen als Leiter des Togoischen Nationaltheaters und zwei weitere Jahre als Abgeordneter eines demokratischen Übergangsparlaments. Ein Resümee dieser Zeit findet sich in Zinsous Stück Die Singende Schildkröte (La tortue qui chante). Dort ist es der Narr und nicht der Dorfchef, der Künstler und nicht der Politiker, der gehört wird und die Wahrheit über Betrug und Unrecht ans Licht bringt. Gegen die Gewalt des Militärregimes konnte Sénouvo Agbota Zinsou mit künstlerischer Raffinesse mehr ausrichten als mit diplomatischem Geschick: Kurz bevor 1993 die ersten freien Wahlen stattgefunden hätten, setzte Eyadéma die 77 als »extremistisch« gebrandmarkten Parlamentarier ab und vertrieb sie des Landes – ihnen folgten Hunderttausende Togoer Hals über Kopf aus Angst vor dem wiedererstarkten Regime.

Seinen Posten als Leiter des Staatstheaters von Lomé hatte Zinsou dagegen gezielt nutzen können, um sich »zwischen den Zeilen« politisch zu äußern. Die Macht des Wortes wusste er gegen die Mächtigen zu nutzen, indem er auf eine gewisse künstlerische »Narrenfreiheit« vertraute, wie er im Interview durchblicken lässt: »Manchmal verstecke ich mich hinter einer gespielten Naivität, um in meinen Werken Wahrheiten auszudrücken, die schockieren würden, wenn ich sie direkt aussprechen würde.« Und so wird das Bayreuther Publikum bei der Premiere der Großen Harmonie wahrscheinlich nur ein farbenprächtiges afrikanisches Märchen sehen, doch als sich im Jahr 1984 der Vorhang zur Weltpremiere im Staatstheater von Lomé hob, blickte das Publikum in den Spiegel des eigenen tyrannischen Staatsapparats.

Zur Dramenhandlung


Die Parallelen zwischen der mythisch-entrückten Scheinharmonie des Dramas und der realen Scheindemokratie in dem westafrikanischen Land sind unübersehbar: Staatsterror, ein unerbittlicher Diktator, der seinen Vorgänger entthront und ermordet hat, und das Klima der Angst, in dem politische Gegner »verschwinden« und nur die Unterwerfung das Leben sichert. »Wer das damals verstehen wollte, hat es natürlich auch verstanden«, resümiert Sénouvo Agbota Zinsou mit Triumph und Trotz in der Stimme. Rund um die Premiere im Nationaltheater von Lomé hatten er, seine Familie und seine Schauspieler Angst vor der eigenen Courage. Gespielt haben sie das Stück trotzdem. Denn der promovierte Theaterwissenschaftler weiß nur zu gut, welch großen Einfluss das Theater in seinem Heimatland hat: »In der togoischen Gesellschaft, die zur Hälfte aus Analphabeten besteht, spielt das Theater als Vermittler von Information und Bildung eine viel größere Rolle als in Europa. Natürlich ist Theater auch dort Kunst, aber eben nicht l’art pour l’art, keine Kunst nur um der Kunst selbst willen, wie man sie häufig in Europa sieht. Mit meinen Stücken verfolge ich immer ein Ziel: Ich möchte erreichen, dass der Zuschauer beim Verlassen des Theaters nachdenkt und beginnt, sich selbst und seine Lebenssituation zu hinterfragen. «

Dies ist seit jeher das Anliegen des politischen Theaters: Schon die antiken Griechen stellten politische Kontroversen und Handlungsoptionen der Polis auf der Folie des Mythos in Tragödien zur Diskussion, etwa die Probleme von Rache und Rechtsprechung in Aischylos’ Orestie oder das Aufbegehren gegen die staatliche Ordnung in Sophokles’ Antigone (jeweils 5. Jahrhundert v. Chr.) – Dramen, die bis heute aktuell geblieben sind und dutzendfach aufgegriffen wurden. Gut zwei Jahrtausende später kritisieren Shakespeare (1564-1616) und Molière (1623-1673) die Anmaßung und Machtgier von sich gottgleich gebärdenden Herrschern: So stellt Shakespeares Macbeth auch den großbritischen König James I. dar und Molière lässt den Sonnenkönig in der Gestalt des lüstern-weltfremden Jupiter im Amphitryon (1668) erscheinen. In der moralischen und wirtschaftlichen Krise der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelte Brecht die Ästhetik des epischen Theaters, die den Zuschauer zu einer kritischen Auseinandersetzung mit seiner eigenen Unfreiheit bringen sollte und vor allem Theatermacher in Entwicklungs- und Schwellenländern beeinflusste, etwa das lateinamerikanische Theater der Unterdrückten von Augusto Boal und das afrikanische Theater, dessen traditionelle Form bereits große Ähnlichkeit mit Brechts epischem musikorientierten Theater hatte.

Dass es nach der Uraufführung der Großen Harmonie nicht zum Eklat kam, hatte Zinsou der stillen Solidarität eines Mannes zu verdanken, von dem er sie am wenigsten erwartet hätte: »Am Tag nach der Premiere bestellte mich der damalige Kultusminister, Messan Agbeyomé Kodjo, in sein Büro«, erinnert sich der Dramatiker. »Er wollte von mir wissen, wer dieser ‚Verrückte’ sei, aus dem ich die Hauptperson dieses Stücks gemacht habe. Er meinte den Geschichtenerzähler, der von einer freieren Welt träumt. « Ein heikler Moment für Zinsou, da Kodjo als einer der treuesten Anhänger des Präsidenten galt. Mit gebotener Zurückhaltung antwortete der Dramatiker: »Es gibt verschiedene Arten von Verrücktheit, Herr Minister«, worauf Kodjo mit einem warnenden Seitenblick entgegnete: »– Darunter die intellektuelle Verrücktheit, nicht war?« Kodjo hatte die Regimekritik sehr wohl verstanden, doch er nutzte seine Position als scheinbar ergebener Minister, um Zinsou zu schützen. »Kodjos private Haltung hat mir Hoffnung gemacht«, versichert der Dramatiker, der wenige Jahre später zum Parlamentarier wurde. Als Kodjo bis zum Premierminister aufgestiegen war, kehrte auch dieser seinen Widerstand nach außen, überwarf sich mit dem Diktator und floh bis zu dessen Tod nach Frankreich.


Während die Gnassingbé-Diktatur kein »Happy End« nehmen wollte, gab Zinsou seinem Bühnenmärchen dennoch eine glückliche Wendung: Als der Neubeginn an der Machtgier des Nachfolgers zu scheitern droht, lässt der Dramatiker Musen als Deus ex Machina auftauchen und den Prinzen von seiner geistigen Gefangenschaft befreien. Der König muss dem Diktat des Erzählers gehorchen und den Abgesang seiner Diktatur selbst anstimmen. Mit diesem finalen Kunstgriff setzt Sénouvo Agbota Zinsou dem Prinzip der Politik das Primat des Spiels entgegen und entlarvt damit auch das eigentliche Wesen der Politik. Allein die Herrschaft des Spiels ist friedlich: Auf dem Scheiterhaufen der letzten Szene flackern nur die Theaterlampen; an ihm entzündet sich nichts als ein befreiendes Lachen.


Vita Sénouvo Agbota Zinsou

• geboren 1946 in Lomé
• Studium der Literatur- und Theaterwissenschaften in Lomé, Paris und Bordeaux
• 1. Preis des afrikanischen Theaterwettbewerbs (Concours théâtral africain) von Radio France Internationale für sein Stück On joue la comédie 
• 1978 bis 1993 Leiter des Togolesischen Nationaltheaters
• 1989 Promotion an der Universität Bordeaux
• 1987 bis 1990 Präsident der Association Togolaise des Gens de Lettres (togoischer Schriftstellerverband)
• seit 1993: Asyl als politischer Flüchtling in Bayreuth
• 2001-2003: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für frankophone Literaturwissenschaft und Komparatistik
• seit 1997: Leiter des von ihm gegründeten Internationalen Ateliertheaters der Universität Bayreuth (IATB)

Werkauswahl:
Le Médicament. Paris: Hatier International, 2003.
La tortue qui chante (Die Singende Schildkröte). Paris: Hatier, 1987.
Le Chien Royal (Der Königliche Hund), 1984/ La Grande Harmonie - ou : Jusqu’au bout du conte (Die Große Harmonie – oder: Wo hört das Märchen auf?), 2002 (unveröffentlicht)
On joue la comédie. Paris: Radio France International, 1972.
Les Bureaucrates, 1969 (erstes Stück, unveröffentlicht)
• außerdem regelmäßige wissenschaftliche Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften der Literaturwissenschaft, der Frankophonie und der afrikanischen Diaspora, wie etwa der Exil-Zeitschrift Diastode (http://www.diastode.org)

Zum Weiterlesen:
- Gbanou, Sélom Komlan: Dramatic Esthetics in the Work of Sénouvo Agbota Zinsou. In: Research in African Literatures, 29:3 (1998 Herbst), S. 34-57.
- Gbanou, Sélom Komlan: Un theatre au confluent des genres. Frankfurt/M.: IKO: 2002.
- Magnier, Bernard. Senouvo Agbota Zinsou: De Lomé à Limoges. In: Notre Librairie. Revue du Livre. Afrique, Caraibes, Ocean Indien, 102 (1990 Juli-Aug.), S. 61-63.
- Midiohuan, Guy Ossilo / Amouro, Camille A. : Entre la Résignation et le Refus. Les Ecrivains Togolais d’Expression Française sous le Régime Eyadéma. Genève-Afrique, vol. XXK ; N 1, 1991, S. 55-69.
- Omoifo-Okoh, Juliana: Les representations du chef d’état dans le théâtre de Zinsou. In: Ethiopiques (revue semestrielle de culture négro-africaine), No. 56, 2/1992. URL: www.refer.sn/ethiopiques/article.php3
- Riesz, János/ Gbanou, Sélom Komlan/ Zinsou, Sénouvo Agbota: Pratiques de langue et d'écriture des écrivains africains d'expression française vivant en Allemagne. L'exemple de Sénouvo Agbota Zinsou. In: Articles en langue française et anglaise sur les littératures africaines francophones, Vol. 26. Hrsg. von János Riesz. Montréal: Éd. Nota Bene soux[u.a.], 2002. S. 526 – 560.
- Riesz, János: Strategien sprachlicher Anpassung und Selbstaffirmation am Beispiel des Romans Le médicament von Sénouvo A. Zinsou. In: Aufsätze in deutscher Sprache zur afrikanischen Literatur, zu den frankophonen Literaturen und zu allgemeinen Fragen der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Vol. 31. Hrsg. von János Riesz. Duisburg: Red. OBST, 2003. S. 155 –171.
- Zinsou, Sénouvo Agbota : Aux sources de la création. In: Notre Librairie. Revue du Livre. Afrique, Caraibes, Ocean Indien, 98 (1989 Juli-Sept.), S. 22-25.


Alles nur Theater?


Dramatischer Entwurf für die Wahltragödie von 2005

von Sénouvo Agbota Zinsou

Im Jahre 2005 stand Togo schon einmal an der Schwelle zu einem historischen Wendepunkt: Nach dem Tod des Diktators Gnassingbé Eyadéma, der das Land 38 Jahre lang mit eiserner Hand regiert hatte, stand der Weg in die Demokratie offen. Doch einen Staatsstreich und einen Wahlbetrug später war die Familiendynastie wieder an der Macht. In Form einer klassischen Tragödie skizziert der Dramatiker Sénouvo Agbota Zinsou für rencontres die Ereignisse, die sich 2005 auf der kleinen Bühne Westafrikas abspielten und das europäische »Publikum« kaum interessierten – obwohl die internationale Gemeinschaft selbst so manche Fäden zog.

Personen
In Abwesenheit: Ein toter Präsident
Der Sohn des Präsidenten (Faure Gnassingbé)
Generäle
Der Präsident der Nationalversammlung (Fambaré Ouattara Natchaba)
Die Afrikanische Union
Die Internationale Gemeinschaft
Die Armee
Das Volk von Togo

Die Szene ist eine kleine Republik in Westafrika.

Erster Akt

Exposition:
Der Diktator G. E. ist tot. Er muss durch einen demokratisch gewählten Präsidenten ersetzt werden.

Prolog mit plötzlicher Wendung:
Mit Hilfe der Armeegeneräle des verstorbenen Diktators übernimmt sein Sohn F. G. die Macht. Die Afrikanische Union verurteilt den Staatsstreich und droht Togo mit Ausschluss. Der Diktatorensohn zieht sich daraufhin vorerst von der Macht zurück. F.G. fürchtet die Konkurrenz des Präsidenten der Nationalversammlung, der gerade außer Landes ist, denn dieser ist der verfassungsgemäße Nachfolger von G. E. Bei seiner Rückkehr wird sein Flugzeug auf mysteriöse Weise wieder umgedreht. In Abwesenheit des Parlamentspräsidenten ändert der Sohn des Diktators die Verfassung.


Zweiter Akt

Eigentliche Handlung, komplex und voller Verstrickungen
Wer wird der neue Präsident sein? Wird sich die Opposition einigen und einen Kandidaten präsentieren? Werden die alten Machthaber und die internationale Gemeinschaft transparente Wahlen zulassen?

Wendepunkte:
- Die zunächst geteilte Opposition schafft es (oder tut zumindest so als ob), einen gemeinsamen Kandidaten zu präsentieren.
- Die internationale Gemeinschaft, vor allem Frankreich und die CEDEAO [Westafrikanische Wirtschaftsgemeinde, Anm. d. Red.] erklären den Staatsstreich zu einer »Wahl«. Politische Interessen und die Hoffnung auf neue »Stabilität« mischen sich mit Privatinteressen, die mit den Hoffnungen des togoischen Volkes nichts zu tun haben.
- Das Volk widersetzt sich der falschen Wahl des Präsidentensohns.

Dritter Akt

Ausgang:
Die Armee des neuen Diktators massakriert die Zivilbevölkerung. Mithilfe der Internationalen Gemeinschaft wird F.G. zum Sieger ernannt.

Epilog:
Im Bewusstsein, noch Jahre oder Jahrzehnte der Diktatur vor sich zu haben, zögert das Volk zwischen Resignation und permanenter Revolte.

- Vorhang -




15. Oktober 2007 – Schwerpunkt Politik

Der mühsame Weg in die Freiheit


Togo zwischen Resignation und Zuversicht

von Christina Felschen

»Ablodé! Ablodé! Ablodé!«, riefen die Oppositionspolitiker im westafrikanischen Togo von ihren Wahlkampfbühnen, so schallte es in Sprechchören zurück, so ist es auf Hauswänden in der Hauptstadt Lomé und auf den Lippen von Exilanten in Deutschland zu lesen: »Freiheit! Freiheit! Freiheit!« Und dieses Mal wurden ihre Hoffnungen nicht enttäuscht: Erstmals seit 40 Jahren fanden am Sonntag, den 14. Oktober 2007, im westafrikanischen Togo freie Wahlen statt. 

Die Szenen, die sich in diesen Tagen in Togo und der togoischen Diaspora auf der ganzen Welt abspielen, erinnern an das Jahr 1960, als das kleine westafrikanische Land nach Jahrzehnten der deutschen (1884-1922) und französisch-britischen (1922-1960) Kolonialherrschaft seine Unabhängigkeit erlangte. 

Denn die Freiheit – in der einheimischen ewe-Sprache Ablodé genannt – hatte nicht lang gewährt: Von 1967 bis 2005 regierte Gnassingbé Eyadéma das Land in einem Stil, den sein ehemaliger Ministerpräsident Agbéyomè Messan Kodjo inzwischen als »monarchisch-despotisch« beschreibt: Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung standen an der Tagesordnung und trieben Hunderttausende ins Exil. Schon einen Tag nach Eyadémas Tod am 5. Februar 2005 ergriff dessen Sohn Faure Gnassingbé die Macht und suchte seinen Staatsstreich im Nachhinein durch Wahlen zu legitimieren, die nach Einschätzung internationaler Beobachter jedoch große Unregelmäßigkeiten aufwiesen. Dasselbe Militär, das schon 1993 eine halbe Million Menschen in die Flucht getrieben hatte, schlug die darauffolgenden Volksaufstände blutig nieder und ließ nach Angaben des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR abermals 30.000 Menschen ins Exil gehen. (Mehr über die Diaspora der politischen Flüchtlinge erfahren Sie im dritten Teil unserer Serie ab dem 29. Oktober 2007.)

Dass dennoch Parlamentsneuwahlen beschlossen wurden, kommt auf den ersten Blick einem Wunder gleich. Wie schon in Mosambik, dem Kongo und an anderen Konfliktherden hat die katholische Laienorganisation Sant’Egidio im Juli 2007 zwei Erzfeinde an den Verhandlungstisch gebracht: Präsident Faure Gnassingbé und Oppositionsführer Gilchrist Olympio trafen sich zum Erstaunen des ganzen Landes nach zwölfjähriger Funkstille ihrer Parteien zu Gesprächen in Rom. Die Symbolik von Versöhnung und Neubeginn ist umso größer, zumal schon ihre Väter Konkurrenten um das Präsidentenamt waren: Gnassingbés Vater Eyadéma hatte Olympios Vater Sylvano als ersten demokratisch gewählten Präsident Togos im Jahr 1963 stürzen und ermorden lassen. Auch Gilchrist Olympio selbst war durch Eyadémas Verfassungsänderung im Jahre 2003 gezielt an einer Kandidatur gehindert worden, indem dieser eine »Residenzpflicht« für Präsidentschaftskandidaten einführte, die der im französischen Exil lebende Olympio nicht erfüllte. Die Sant’Egidio-Gespräche legten den Grundstein für ein Kooperationsabkommen aller politischen Kräfte, das im August 2006 getroffen wurde.


Diese Kehrtwende mag erstaunen, doch ist sie weniger einem Gesinnungswandel als der schieren wirtschaftlichen Notwendigkeit geschuldet: Die Lebensbedingungen in Togo sind erbärmlicher denn je: Mehr als die Hälfte der Menschen hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, auf 20.000 Einwohner kommt gerade einmal ein Arzt (in Frankreich und Deutschland beträgt dieses Verhältnis 1:300) und die Hälfte der Erwachsenen kann weder lesen noch schreiben. Unterdessen erreicht die Staatsverschuldung des kleinen Landes bald 90 Prozent seines Bruttosozialprodukts. (Mehr über Entwicklungsprobleme des Landes lesen Sie im vierten Teil unserer Serie ab dem 5. November 2007.)

Bis in die Achtzigerjahre hinein war Eyadémas Regierung – vor allem wegen der reichen Phosphorvorkommen im Land – noch ein wichtiger Handelspartner für die Europäer, obwohl sich der Präsident zunehmend mit Gewalt an der Macht hielt. Doch als ein französischer und ein deutscher Minister bei einem Besuch in Lomé 1993 mit ansahen, wie Militärs das Feuer auf friedliche Demonstranten eröffneten, stellte die EU die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Togo weitgehend ein – nur Paris hält Lomé die Treue.

Frankreichs Beziehungen zu Togo sind ein Kapitel für sich: Von Charles de Gaulles bis Jacques Chirac unterstützten sämtliche französische Präsidenten Gnassingbé Eyadéma finanziell wie auch militärisch. Dafür verteidigte der Diktator, ehemals Unteroffizier bei der französischen Kolonialarmee, weiterhin die Interessen Frankreichs in der Region. Das strategisch günstig gelegene Land am Golf von Guinea ist für Frankreich ein wichtiger Stützpunkt für seine umstrittenen militärischen Operationen in den frankophonen Nachbarländern, darunter Krisenstaaten wie die Elfenbeinküste oder der Kongo. Auch ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit hat Frankreich noch zwischen 800 und 1000 Soldaten in der ehemaligen Kolonie stationiert. Damit gibt es in Togo mehr Männer in Khaki als ausgebildete Lehrer, die Militärausgaben sind so hoch wie das Budget im Gesundheits- und Bildungswesen zusammen. Schon seit langem geht die französische Regierung mit afrikanischen Diktatoren ein win-win-Verhältnis ein, bei der das afrikanische Volk nur verlieren kann: Als Dank für Rohstoffausfuhren und militärischer Einfluss sur le terrain sieht Frankreich über Menschenrechtsverletzungen großzügig hinweg, etwa beim ruandischen Genozid im Jahre 1994.

Offiziell begründet das französische »Mutterland« seine »Kooperation« mit dem hehren Ziel, die jungen Nationen in ihrer Entwicklung begleiten zu wollen. Zum Tod des togoischen Diktators Eyadéma erklärte der französische Staatspräsident Jacques Chirac öffentlich: »Mit ihm stirbt ein Freund Frankreichs, der für mich ein persönlicher Freund war. [...] Mit Sicherheit spürt Afrika den fürchterlichen Schmerz angesichts des Verlusts dieses Mannes, der sich seit so vielen Jahren für regionale Zusammenarbeit, für Vermittlung und für den Friedensprozess eingesetzt hat.« Mit Eyadémas Sohn Faure Gnassingbé verfuhr die französische Regierung ebenso großzügig: Ungeachtet der manipulierten Wahlen und der Gewaltausschreitungen erkannte Frankreich seine Präsidentschaft als einziges EU-Land an und empfing ihn schon wenige Monate später als Staatsgast in Paris – eine Haltung, die landesweit nicht nur in der togoischen Exilgemeinde auf Proteste stieß. 

Die Organisation freier und transparenter Parlamentswahlen gehört zu den Schritten, die Lomé auf Brüssel zugehen muss, ehe die EU das Embargo aufheben wird. Dafür hat die Europäische Union gemeinsam mit der Afrikanischen Union (AU), der Internationalen Organisation der Frankophonie (OIF) und der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) insgesamt 3500 Wahlbeobachter in das kleine Land am Golf von Guinea entsandt. Sie sollen verhindern, dass die Wahlen ähnlich wie im Jahr 2005 einer Manipulation durch doppelte Stimmabgaben, verschwundene Urnen, Zerstörung der Computersysteme zur unabhängigen Stimmauszählung, Ausfall des öffentlichen Telefonnetzes und Internetzugangs sowie durch eine Medienzensur anheim fallen könnte. 

Die Organisation freier Parlamentswahlen gehört genau wie die Regierungsneubildung unter Premierminister Yawovi Agboyibo von der moderaten Oppositionspartei CAR (Comité d'action pour le renouveau/ »Aktionskommitee für die Erneuerung«) im September 2006 zur internationalen Charmeoffensive von Präsident Gnassingbé Eyadéma und seiner Partei RPT (Rassemblement du Peuple Togolais/ »Zusammenschluss des togoischen Volkes«).


Dessen ungeachtet kontrolliert die RPT jedoch noch immer einen großen Teil der Regierung, die Armee, die Wahlorganisation CENI sowie das Verfassungsgericht. Der Reformkurs, den die Regierungspartei RPT seit 2005 zur Schau stellt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich bis heute nicht vom Parteigründer und Vater des Präsidenten, Gnassingbé Eyadéma, distanziert hat: Bis heute gedenkt die Partei dem Diktator als »Vater der Nation« und bezeichnet einen Putschversuch gegen diesen ganz im Zeitgeist des 21. Jahrhunderts als »Terrorakt«, dessen blutige Niederschlagung durch die französische und togoische Armee sie erst vor kurzem wieder als Feiertag beging. Aktuelle Berichte von amnesty international lassen die Vereinbarungen von Sant’Egidio wie leere Worte klingen: Noch immer leben Tausende Togoer im Exil – aus der begründeten Angst, bei ihrer Rückkehr verhaftet zu werden oder einfach zu »verschwinden«. Nach Beobachtungen der Menschenrechtsorganisation werden Sympathisanten der Opposition bis heute ohne Verfahren und unter schlechten Haftbedingungen bis hin zur Folter im Hauptgefängnis von Lomé festgehalten. Die Verantwortlichen für die politische Gewalt bei den Präsidentschaftswahlen 2005 genießen dagegen noch immer völlige Straffreiheit.


Die Parlamentswahl 2007 in Zahlen
• Wahlberechtigte: etwa 2,9 Millionen der 6,2 Millionen Togoer (rund 50 Prozent der Bewohner ist minderjährig)
• etwa 2.200 Kandidaten aus 32 Parteien und unabhängigen Listen
• größte Parteien:
RPT: Rassemblement du peuple togolais (Versammlung des togoischen Volkes), Vorsitzender: Staatspräsident Faure Eyadéma
CAR: Comité d'action pour le renouveau (Aktionskommitee für die Erneuerung), Vorsitzender: Premierminister Yawovi Agboyibo
UFC: Union des forces de changement (Union der Kräfte für den Wandel), Vorsitzender: Gilchrist Olympio
• 3.500 Wahlbeobachter der Afrikanischen Union (AU), der Internationalen Organisation der Frankophonie (OIF) und – für eine längerfristige Beobachtung von Anfang September bis November 2007 – der Europäischen Union (EU), sowie militärische Wahlbeobachter der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS)
• jüngste Parlamentswahlen: 2002 unter Boykott der Oppositionspartei, 72 der 81 Sitze gingen an die RPT
• jüngste Präsidentschaftswahlen: 2005 unter massiven Unregelmäßigkeiten, von der EU (mit Ausnahme von Frankreich) nicht anerkannt

Zum Weiterlesen
• Wahlprogramm der RPT: www.fmliberte.com/index.php
• Wahlprogramm der UFC: www.ufctogo.com/-Le-programme-.html
• Archiv-Bericht der US-amerikanischen TIME über Togos Erlangung der Unabhängigkeit (12.5.1958): Masters in Our Own House: aolsvc.timeforkids.kol.aol.com/time/magazine/article/0,9171,863406-1,00.html
• Das britische Entwicklungsnetzwerk SciDev.Net über die Unregelmäßigkeiten der Wahlen von 2005: www.scidev.net/gateways/index.cfm
• Presseberichte über die Unruhen nach den Wahlen von 2005: www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Togo/buergerkrieg.html
• Das französische Außenministerium über die französisch-togoischen Beziehungen:  www.diplomatie.gouv.fr/fr/pays-zones-geo_833/togo_358/index.html
• Länderinformationen aus der Sicht des Auswärtigen Amts: www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Togo/Geschichte.html
• Menschenrechtsbericht 2007 von amnesty international über Togo (auf Französisch und Englisch): thereport.amnesty.org/fra/Regions/Africa/Togo
• Afrika-Dossier der Deutschen Welle: www.dw-world.de/dw/article/0,2144,1617842,00.html


»Schluss mit der Maskerade«


Interview von Christina Felschen

Sénouvo Agbota Zinsou gehört seit Jahrzehnten zu den schärfsten Kritikern der Regimes von Gnassingbé Eyadéma (1967-2005) und dessen Sohn Faure Gnassingbé (seit 2005). Bei seinen mutigen Inszenierungen am Togoischen Nationaltheater schützte ihn noch die Narrenmaske des Künstlers, doch als oppositioneller Parlamentarier musste er sein Land im Jahre 1993 auf der Flucht vor den Militärs verlassen. Seither lebt der afrikanische Autor mit seiner Familie im Bayreuther Exil und schöpft die Möglichkeiten der Redefreiheit in seinen Dramen, Romanen und gesellschaftspolitischen Analysen voll aus. Im Gespräch mit rencontres erklärt Zinsou, warum er die Parlamentswahlen vom 14. Oktober 2007 mit Skepsis verfolgt. 

Herr Zinsou, wie haben Sie die Machtübernahme von Faure Gnassingbé und deren Konsequenzen vor zwei Jahren erlebt?

Der Tod von Eyadéma gab uns zunächst Anlass zur Hoffnung. Wir sagten uns, dass die Dinge sich unbedingt ändern müssten. Wir begannen, uns zu organisieren, um diese Veränderung zu unterstützen. Selbst hier in Deutschland habe ich an mehreren Treffen teilgenommen. Doch dann hat die Geschichte den Verlauf einer klassischen Tragödie genommen. Ich könnte eine Fortsetzung meines Dramas über die Eyadéma-Diktatur (Le Chien Royal, »Der Königliche Hund«, 1984, Anm. d. Red.) schreiben, so sehr ist Faure in die Fußstapfen seines Vaters getreten. (Ein Skizze dieses »Realdramas« von S. A. Zinsou wird in der Ausgabe vom 22. Oktober 2007 veröffentlicht, Anm. d. Red.)

Nach den gewalttätigen Ausschreitungen von 2005 scheint sich die Situation in Togo jedoch gebessert zu haben: Gnassingbé gibt vor, mit der Opposition zu kooperieren, die politischen Gefangenen befreien zu wollen, und es gab am 14. Oktober 2007 gerade neue Parlamentswahlen. Haben Sie den Eindruck, das sich die Situation stabilisiert?

Wir haben es mittlerweile mit einer gespielten Stabilität zu tun. Diese »Stabilität« basiert auf Repression, Folter, politischen Morden und Unterdrückung von jeder Form von Meinungsfreiheit. Hunderttausende Togoer wissen weder, was sie am nächsten Tag essen sollen, noch, ob sie am Abend heil und gesund nach Hause kommen. Wir Togoer im Ausland leben in der Ungewissheit darüber, ob wir eines Tages zurückkehren können und auf welche Weise. Man kann nicht gerade sagen, dass diese Situation beneidenswert ist. Noch wirklich lebenswert. Die Mentalität muss sich ändern und das wird Zeit brauchen. Aber erst einmal müssen sich die Regierenden ändern.

Die Afrikanische Union hat vorgeschlagen, eine Wahrheits- und Versöhnungskommission nach dem Model Südafrikas einzusetzen, um in Togo dauerhaft Frieden zu schaffen. Was halten Sie von dieser Idee?

Mit den Regierenden von heute wird man die berühmten Anhörungen einer solchen Kommission nicht erreichen können: Wie sollten denn dieselben Männer, die massakriert, getötet, vergewaltigt, gefoltert und gestohlen haben, Anhörungen organisieren, in denen sie ihre Verbrechen zugeben, damit ihnen vergeben wird. Nein, dafür braucht es andere Menschen oder eine neue Generation. Ich bin für Versöhnung, aber sie muss wahr und tief sein, keine Maskerade einer Versöhnung wie wir die Maskerade einer Wahl hatten.

Sie sind nach Ihrer Flucht nie nach Togo zurückgekehrt. Wann werden Sie Ihre Freunde und Verwandten dort besuchen können?

Ich bin zu allem bereit, aber nicht dazu, ein unnötiges und dummes Risiko einzugehen. Selbst meine Verwandten in Togo würden mir davon abraten, wenn ich es vorhätte. Ich habe in Deutschland ja nicht aufgehört, die togoische Diktatur öffentlich zu kritisieren. Natürlich befällt mich von Zeit zu Zeit ein Gefühl von Nostalgie. Aber ich weiß es zu schätzen, dass ich noch etwas mit meinem Leben anfangen kann, bevor ich sterbe.

(Die Fortsetzung des Interviews mit Sénouvo Agbota Zinsou, lesen Sie im dritten und vierten Teil der Frankophonie-Serie, die am 29. Oktober und 5. November erscheinen. Darin spricht der Dramatiker über seine Erfahrungen im Exil sowie über seine kulturellen Wurzeln.)


»Die Ausschreitungen von 2005 werden sich nicht wiederholen«


Interview von Christina Felschen

Nachdem Faure Gnassingbé im Februar 2005 über einen Staatsstreich und manipulierte Wahlen an die Macht gelangt war, ist es in Togo zu Unruhen und militärischen Ausschreitungen gegen das Volk gekommen. Diese griffen auch auf die in Togo lebenden Deutschen über, da Regimekreise der deutschen Regierung Parteinahme für die chancenlose Opposition vorwarfen. Die Hetze kulminierte in einer Brandschatzung des Goethe-Instituts von Lomé in der Nacht vom 27. auf den 28. April 2005. Zu diesem Zeitpunkt hatte Herwig Kempf gerade erst die Leitung des Kulturinstituts übernommen, das nun in Schutt und Asche lag. Doch er und seine Mitarbeiter gaben nicht auf: Mit handwerklichem und diplomatischen Geschick bauten sie das Institut wieder vollständig auf und hielten auch den Dialog mit der togoischen Regierung aufrecht. Anlässlich der Parlamentswahlen sprach Christina Felschen mit Herwig Kempf über die deutsch-französisch-togoischen Beziehungen, die Freiheit der Kunst und den langen Weg zu Frieden und Stabilität.

Herr Kempf, wie geht es dem Goethe-Institut heute? Was hat sich nach dem Anschlag baulich und strukturell getan?

Zweieinhalb Jahre nach dem Anschlag ist das Goethe-Institut wieder eine Oase im sich ständig erweiternden Marktviertel. Es wurde vollständig renoviert und mit neuer Technik ausgestattet, so dass das Institut seine Arbeit vor genau einem Jahr in allen Bereichen wieder aufnehmen konnte. Wie eh und je verzeichnen wir zu allen Veranstaltungen einen hohen Besucherandrang.

Sie waren ja gleich entschlossen, das Institut aufrecht zu erhalten. Wie hat sich die Stimmung in der Stadt seit April 2005 entwickelt? Haben Sie Angst, dass sich so etwas wiederholen könnte?

Ähnliche Ereignisse wie im Frühjahr 2005 werden sich nicht wiederholen. Wir alle hoffen, dass die Parlamentswahlen ordnungsgemäß und transparent ablaufen und danach eine neue Ära für Togo beginnt. Den Menschen geht es seit Jahren permanent schlechter, 60 Prozent der Togoer leben unter der Armutsgrenze, die Infrastruktur ist am Zusammenbrechen. All dies muss sich ändern.

Bei der Eröffnung des Goethe-Instituts im Jahr 1961 hielt der damalige Präsident Sylviano Olympio eine Eröffnungsrede. Wäre es heute noch vorstellbar, dass sich Präsident Faure Gnassingbé im Goethe-Institut einfindet? Wie ist Ihr Kontakt zur Regierung und zu den einzelnen Parteien?

Zu unseren Veranstaltungen kommen hochrangige Politiker verschiedener Parteien: Regierende, ehemalige Minister, Ministerpräsidenten und auch enge Vertraute des Präsidenten.

Hat sich die togoische Regierung zu dem Anschlag aufs Goethe-Institut geäußert?

Sie hat den Anschlag bedauert und ist für den entstandenen Schaden aufgekommen (300.000 Euro, Anm. d. Red.).

Besteht eine Zusammenarbeit zwischen dem Goethe-Institut und dem Centre Culturel Français in Lomé? Spielen die politischen Differenzen der deutschen und der französischen Regierung rund um die Wahl von Gnassingbé in der Beziehung eine Rolle?

Unsere beiden Kulturinstitute arbeiten sehr gut zusammen. Es gibt jährlich ein Projekt, das wir gemeinsam planen und veranstalten – wobei es uns wichtig ist, uns nicht nur zu präsentieren, sondern immer auch mit togoischen Partnern zu kooperieren. Wir treffen uns regelmäßig zu Gesprächen und nehmen gegenseitig an unseren Veranstaltungen teil. Beide Institute sind die wichtigsten Kulturträger in Togo.

Das Goethe-Institut arbeitet ja auch mit Künstlern in Togo zusammen. In wie fern ist es togoischen Künstlern angesichts der heutigen politischen Situation überhaupt noch möglich, engagierte und kritische Kunst zu zeigen?

Engagierte und kritische Kunst zu zeigen ist kein Problem, da sind die Kunstschaffenden weitgehend frei. Ebenso besitzen die Intellektuellen Redefreiheit. Das Problem ist, dass die Künstler und unbestechlichen Intellektuellen nicht gehört werden. Damit verpufft ihr Engagement für die Gesellschaft bei denen, die Änderungen herbeiführen könnten. Die Künstler, von denen die meisten selbst bitterarm sind, tun ihr Möglichstes zur Sensibilisierung der Bewohner. Sie engagieren sich im Kampf gegen Aids, gegen Kinderhandel, setzen sich für die Einschulung von Landkindern ein und wirken an der gegenwärtigen Kampagne zur Teilnahme an den Parlamentswahlen mit.

Wie kommt es denn, dass Künstler und Intellektuelle in Togo nicht gehört werden?

Oft sprechen sie unbequeme Wahrheiten aus, die nicht gerne gehört werden, aber die natürlich auch den Regierenden bekannt sind.

Wenn es in Togo weitgehende Rede- und künstlerische Freiheit gibt, wie Sie sagen, warum leben dann bis heute Tausende von Regimekritikern, darunter viele Künstler, im Exil?

Es gibt sicher Ausnahmen, die Exil in irgendeiner Form rechtfertigen. Es geht in Afrika in weiten Bereichen ja nicht nur um Kritik an den Regierenden. Es sind immer viele Schattierungen wie Clandenken, das Ausbrechen aus Familienverbänden, ja vermeintlicher Voodoozauber und Hexerei im Spiel.

Was müsste Ihrer Ansicht nach passieren, damit Togo dauerhaft zu Frieden und Stabilität findet?

Alle, die sich mit Entwicklungspolitik beschäftigen, wissen, dass es einfache und schnelle Lösungen nicht gibt. Zuallererst müssten natürlich die Grundlebensbedingungen verbessert werden. Togo braucht dringend ein funktionierendes Gesundheitswesen und eine entsprechende Infrastruktur und muss seine Bürger mit Gütern und Arbeit versorgen können. Außerdem müssten Tribalismus und Clanwesen abgeschafft und die Korruption auf allen Ebenen bekämpft werden. Doch all dies steht und fällt mit der Erziehung. Wir haben es wohl mit einem 50-Jahre-Projekt zu tun.


Wie will das Goethe-Institut dazu beitragen?

Durch Erziehung und Sensibilisierung im weitesten Sinne. Wir bieten Informationsmöglichkeiten und stellen Kontakte zu Europa her. Indem wir Multiplikatoren ansprechen, wollen wir weitere Kreise erreichen. Wir streben eine echte Kooperation an, bei der afrikanische Werte unseren gleichgestellt sind. Als Goethe-Institut von Lomé verstehen wir uns auch als Forum für diese afrikanischen Werte.

Als Gesandter der Bundesrepublik haben Sie in den vergangenen 30 Jahren für Goethe-Institute in Deutschland, Äthiopien, Italien, Japan, China und Serbien gearbeitet und sind erst 2005 ans Goethe-Institut von Lomé berufen worden. Wie bereiten Sie sich bei so vielen verschiedenen Kulturen und Systemen auf das einzelne Land vor?

Auch wenn das womöglich ziemlich banal klingt: Ich habe mich eingelesen, eingehört und eingesehen. Gerade Musik und Filme sind für mich besonders wichtige Medien, um mich auf eine fremde Kultur vorzubereiten. Aber am wichtigsten ist Empathie. Ich versuche, mich fallen zu lassen und den Menschen einen Vorschuss an Empathie, nicht nur an Sympathie, zukommen zu lassen. Wenn mir schließlich jemand sagt, »Du bist einer von uns«, dann ist mir das gelungen. Außerdem ist es mir wichtig, selbst schwierige Sprachen wenigstens anzulernen. Meine Arbeit ist permanente Eigenfortbildung.

Was ist es, das Sie mit 64 Jahren trotz des Anschlags und trotz schwieriger Lebensbedingungen in Togo hält?

Die Menschen. Ich war 1992 für eine knappe Woche in Lomé und fand die Menschen unglaublich zugewandt und freundlich − und immer lächelnd. Die Stadt (manchmal denke ich, es wäre besser zu sagen »das Dorf«) war sauber und sicher, die Infrastruktur funktionierte. Als ich auf eigenen Wunsch Anfang 2005 nach Lomé kam – ich wollte auf meinem letzten Posten noch mal in einem Entwicklungsland tätig sein –, traute ich meinen Augen nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Stadt binnen weniger Jahre so herunterkommt. Nur die Menschen, obwohl ärmer, leidender und hoffnungsloser, waren gleich geblieben: Der Kontakt mit ihnen ist eine Bereicherung.

Herr Kempf, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.


Vita Herwig Kempf
• geboren 1943 in Karlsbad/ Karlovy Vary (damals Südostdeutschland, heute Westtschechien)
• 1972: Promotion in Germanistik, nach einem Studium der Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft an der Universität München und der Sorbonne in Paris
• 1973-77: DAAD-Lektor an der Universität von Hokkaido/ Japan
• seit 1978: Arbeit für das Goethe-Institut in sechs verschiedenen Ländern Asiens, Afrikas und Europas
• seit Anfang 2005: Leiter des Goethe-Instituts von Lomé

Das Goethe-Institut Lomé in Zahlen
• gegründet 1961
• 14 Angestellte, davon zwei Entsandte
• 728 Deutschschüler/Jahr (2006) (2005: 439) in 36 Kursen
• 93 Kulturveranstaltungen mit fast 8400 Besuchern (2006) (2005: 4 Veranstaltungen) in den Bereichen Medien und visuelle Kommunikation (41), Wissenschaft und Literatur (25), Film (16), sowie Ausstellungen, Theaterprojekte und Musikveranstaltungen
• Finanzierung aus dem Etat des Auswärtigen Amts (knapp 160 Millionen Euro für alle GI weltweit (2005)) und geringe Eigeneinnahmen durch Sponsoren und Partner, Sprachkurse weitgehend beitragsfinanziert

• für weitere Informationen: http://www.goethe.de/lome




Aus unserer dreizehnten Ausgabe – 15. August 2007

Dossier Deutschland und Québec

Wahlheimat Berlin


Ein Dossier von Manuela Wolter

»Berlin, das war Liebe auf den ersten Blick. Ich kam gerade mit dem Interrail aus Barcelona und hatte nur 24 Stunden, um die Stadt zu erkunden. Schon damals fand ich Berlin faszinierend und fühlte mich wie zu Hause ohne auch nur ein Wort Deutsch zu sprechen – mal ganz abgesehen von dem miserablen Service.« Rita blickt zu dem verzweifelten Kellner hinüber und muss lachen. »In Kanada ist alles so anders. Die Mentalität der Menschen ist ganz anders.« Sie wendet sich ab, streicht ihr rötlich-braunes Haar aus dem Gesicht und blickt verträumt dem Sonnenuntergang entgegen.

Rita Devlin Marier, gebürtige Québecoise, hat kurz vor Ihrer Abreise nach Berlin ihren 23. Geburtstag gefeiert. Nun ist sie eine von 36.000 Kanadiern in Deutschland. Nach einem Bachelorstudium in Politik und Wirtschaft an der Universität von Ottawa ist sie im Februar 2007 für ein Praktikum in die deutsche Hauptstadt gekommen. Ursprünglich wollte sie ein Praktikum in der Kanadischen Vertretung in Brüssel machen. Als eine höchst unpersönliche Absage ins Haus geflattert kam, wurde ihre anfängliche Euphorie jedoch gedämpft. »Anstatt den Kopf in den Sand zu stecken, beschloss ich, einfach so lange weiterzusuchen, bis ich ein nettes Plätzchen in der Welt gefunden haben würde. Es muss ja nicht immer Brüssel sein«, erinnert sich Rita. Schweden wäre auch nicht schlecht gewesen. In der südschwedischen Studentenstadt Lund hatte sie ohnehin schon ein Auslandsjahr verbracht und hätte in bekannte Strukturen zurückkehren können.

Doch es sollte alles ganz anders kommen. Die Bewerbungen gingen in alle Himmelsrichtungen hinaus, von wo sie kurze Zeit später mit einem Negativbescheid zurückkehrten. Gerade als Ritas Hoffnung sich dem Nullpunkt näherte, erreichte sie ein Brief aus Deutschland. Ein kleines Consulting-Unternehmen suchte eine Wirtschaftsstudentin, die perfekt Englisch und Französisch spricht. Ein Zufall der Globalisierung? Nicht ganz. Rita hatte sich vor einiger Zeit bei der internationalen Studentenorganisation AISEC eingeschrieben, und dieser Schritt wurde nun belohnt. Die Sprachkenntnisse öffneten ihr Tür und Tor nach Berlin.

Als ihr Mobiltelefon vibriert und ein Anrufer die Unterhaltung unterbricht, stellt Rita ihr akzentfreies Englisch unter Beweis – ein Geschenk ihrer Mutter, die aus dem anglophonen Norden Ontarios stammt. Ihre Vorfahren sind vor mehreren Generationen aus Irland eingewandert. Jene des Vaters waren aus dem französischen Mutterland nach Québec übergesiedelt. Patchworkfamilien sind in diesem Teil Kanadas keine Seltenheit. In Montréal haben etwa 53 Prozent der Bewohner das Privileg, zweisprachig mit Englisch und Französisch aufzuwachsen. Auf die Frage, warum sie als frankophone Kanadierin nicht nach Paris gegangen sei, fallen Rita als Erstes die immensen Mietkosten der Metropole ein. Doch es gebe auch zwischenmenschliche Barrieren. Vier Tage habe sie in Paris verbracht und sich trotz gemeinsamer Sprache fremd gefühlt. Telefonate mit öffentlichen Stellen in Frankreich oder Belgien gehören für Rita zu den eher unangenehmen Begegnungen mit dem alten Kontinent. Womöglich macht der Akzent den feinen Unterschied: »Die Pariser sehen in mir einzig die Kanadierin und beginnen sofort auf Englisch zu sprechen. Ich selbst sehe mich als Québecoise, nicht als Kanadierin. Würde ich mir eine Flagge ans Fenster hängen, dann wäre es mit Sicherheit die von Québec.«

Das Einleben in Berlin ist Rita erstaunlich leicht gefallen. Binnen kürzester Zeit hat sie sich einen multikulturellen Freundeskreis aufgebaut, und selbst die deutsche Sprache ist für sie kein Buch mit sieben Siegeln mehr. Dabei war ihr Deutsch ursprünglich nur aus Kriegsfilmen bekannt. Kein Wunder also, dass sich auch Ritas erste Schritte in der neuen Sprache am Klischee einer abrupten, mechanischen und vor allem unmelodischen Sprache orientierten. Umso überraschter war sie, als sie zum ersten Mal deutsche Musik im Radio hörte. Inzwischen hat sie es sich zum Hobby gemacht, das Geschlecht neu erlernter Wörter zu erraten und die Subtilitäten der deutschen Sprache zu erforschen. Und noch etwas hat der Aufenthalt in Berlin bewirkt: Rita verspürt zum ersten Mal das Bedürfnis, sesshaft zu werden. Seit sie ihr Studium aufgenommen hat, ist die 23-Jährige nie länger als sechs Monate in einer Wohnung geblieben. Wie eine moderne Nomadin trieb es sie immer weiter, von einer Wohngemeinschaft zur nächsten. Dieser Mobilitätsgedanke scheint in der Mentalität der Frankokanadier verankert zu sein. Montréal ist das beste Beispiel: Dort gilt der 1. Juni als offizieller »Umzugstag«. An diesem einen Tag im Jahr sind die Straßen der Metropole mit Möbeln und Kisten übersät und der Verkehr kommt unter der Last der Umzugswagen zum Erliegen. »In Berlin habe ich erstmals das Gefühl, angekommen zu sein.«

Rita hat kürzlich ihre Zulassung zum Studiengang »Internationaler Journalismus« an der Universität Laval in Québec erhalten. Wäre sie nicht angenommen worden, hätte sie ihr Studium aufgeschoben um ihrem Herzen zu folgen und ein Appartement an der Spree zu beziehen.


Wie man in Deutschland eine Dusche nimmt


und andere erste Beobachtungen einer Kanadierin in Berlin

Rita Devlin Marier, Übersetzung Christina Felschen

Durch Mundpropaganda und ein oranges Plakat, dessen Leuchtkraft so gar nicht in den Trübsinn der Cafeteria der Universität von Ottawa zu passen schien, habe ich einen Praktikumsplatz in Deutschland gefunden. Einige Monate später fand ich mich dank der Unterstützung der internationalen Studentenorganisation AIESEC in Berlin wieder. Etwas Besseres hätte ich mir gar nicht wünschen können. Morgen beginne ich meine Arbeit in einem Beratungsunternehmen. Die Vermittlungsorganisation hat eine Wohnung für mich gefunden und ein Typ hat mich gleich dorthin geführt und mir die Arme mit Würstchen, Bier und typischen deutschen Bonbons gefüllt. Seitdem sind kaum 24 Stunden vergangen. Gerade steige ich aus der Dusche. Damit beginnt die Chronik meiner ersten Eindrücke...

In Europa ist alles besser, habe ich kürzlich einem Freund erklärt: die Mode, das Essen, die Künste, das Leben – kurz: alles, bis auf die Duschen und Waschmaschinen. Diese geräuschvollen Maschinchen, die deine Klamotten länger als eine Stunde lang waschen, indem sie diese vorsichtig durchrütteln. Und diese verdammten Duschen, bei denen man die Duschköpfe auch noch selbst halten muss. Ich habe wirklich keine Ahnung von Klempnerarbeiten, aber wisst ihr was ich meine? Dieses Rohr da, das Teil, aus dem das Wasser rauskommt, ist auf dem alten Kontinent nur selten an der Wand angebracht… Man muss es selbst über dem Kopf halten, während man versucht, sich die Zehen einzuseifen, und dabei noch Acht geben, das Badezimmer nicht unter Wasser zu setzen. Badezimmer (im Französischen spricht man wörtlich gar von einem »Badesaal«) ist ein großes Wort dafür. Im Fall meines Berliner Appartements wäre der Ausdruck »Badeschrank« wohl angebrachter. Dort schaffe ich es nicht einmal, die Arme horizontal auszustrecken. Die spinnen, diese Europäer. Welch Frustration für mich als hartgesottene Nordamerikanerin, die für gewöhnlich eine halbe Stunde lang megaheiß duscht, sich anschließend die Haare föhnt und dabei wohl so viel Strom verbraucht wie für die Beleuchtung meiner Straße in einem Monat nötig wäre.

Na gut, ich übertreibe ein bisschen. Dennoch habe ich gleich gemerkt, dass es hier eine völlig andere Haltung gegenüber dem Umweltschutz gibt. Noch ein Beispiel: In meinem Gebäude, wie auch in allen anderen, ist die Flurbeleuchtung keineswegs durchgängig eingeschaltet. Man macht das Licht erst an, wenn man kurz davor ist, die Treppe im Dunkeln hinaufzusteigen. Ein paar Minuten später schaltet es sich automatisch wieder aus. Gar nicht so dumm. Über das Thema der U-Bahn gehe ich mal hinweg, um die Leser aus Québec nicht neidisch darüber zu machen, dass meine Zeit in einer stinkenden, verspäteten 95er-Métro entschieden vorbei sind. Stattdessen habe ich Anschluss an ein Nonplusultra-Netz von Zügen, S- und U-Bahnen. Genau wie mein Appartement und alle möglichen anderen Orte sind die Haltestellen systematisch mit vier Mülltonnen ausgestattet, denn hier wird jederzeit einfach alles recycelt. In der Stadt bemüht man sich offensichtlich permanent Strom zu sparen: eine Straßenbeleuchtung ist praktisch nicht vorhanden und falls doch einmal, wirkt sie eher verschämt, verglichen mit den Tausenden Laternen auf nordamerikanischen Straßen. Hier bin ich nicht nur auf einem anderen Kontinent, sondern auch in Sachen Umweltschutz in einer anderen Dimension.

Obwohl man in Amerika überall vom Umweltschutz spricht, ist die Herangehensweise hier tatsächlich eine ganz andere. Man jammert nicht über das Kyoto-Protokoll (dessen Regeln sind hier längst ratifiziert und sie werden wie selbstverständlich befolgt), man schreckt nicht plötzlich auf, nachdem man den Film von Al Gore gesehen hat* und man denkt nicht über das Verschwinden der Eisbären nach. Nein, hier ist der Umweltschutz mehr als nur eine Mode, eine Balkenüberschrift oder ein heißes politisches Eisen: Er ist ein ganzer Lebensstil. Der zeigt sich zum Beispiel schon beim Sortieren der Abfälle, wenn alles recycelt und der Rest noch kompostiert wird. Gelebter Umweltschutz drückt sich auch darin aus, dass die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt werden ohne groß darüber nachzudenken. Oder wenn man ein dermaßen hohes Flaschen- und Dosenpfand bezahlen muss, dass man gar keine andere Wahl hat als sie anschließend ins Geschäft zurückzubringen. Und in dieses ökologische Bewusstsein passt eben auch meine Toilette mit ihrer Wasserspartaste und meine Dusche mit ihrem geringen Wasserdruck, die nach zehn Minuten kalt wird.

Na und? Nun, vielleicht müsste die Diskussion jenseits des Atlantiks über Kyoto hinausgehen. Vielleicht sollten wir zugunsten des Planeten wirklich ein bisschen mehr von unserem nordamerikanischen Komfort aufgeben. Ich brauche sicher nicht zu erwähnen, dass ich hier noch kein einziges sportliches Nutzfahrzeug** gesehen habe. Benzin ist zu teuer. Die meisten Leute fahren Miniautos – Modelle, die es bei uns nicht einmal gibt. Auch auf die Gefahr hin, die Fans von Elvis Gratton*** zu verärgern: Vielleicht führt uns der amerikanische Weg des »Think Big« nicht in den süßen Fortschritt des Liberalismus, sondern direkt ans Ende. Möglicherweise sollten wir lieber den Weg des »think small« einschlagen: Überall vier Mülltonnen aufstellen, große Wagen von den Straßen verbannen und uns daran gewöhnen, uns ein wenig schneller einzuseifen... Ich habe sofort verstanden, dass ich meine Lebensgewohnheiten ändern muss. Ich habe gar keine Wahl, schließlich bin ich ja gerade nach Europa gezogen - dorthin, wo der Umweltschutz völlig verinnerlicht ist und sich in den kleinsten Gesten zeigt. Es lebe das »think small«.

* Im Dokumentarfilm An Inconvenient Truth (Eine unbequeme Wahrheit, 2006) berichtet der ehemalige US-Präsidentschaftskandidat über den Treibhauseffekt.

** Gemeint sind ursprüngliche Nutzfahrzeuge wie Geländewagen und Pickups, die mancherorts als Privatwagen gefahren werden und im Verbrauch häufig über 20 Liter liegen.

*** Als einer der ersten Kultfilme Québecs ist Elvis Gratton zum absoluten Symbol des glücklichen Idioten geworden, der unter dem amerikanischen Imperialismus zusammenbricht.




Die Beziehungen zwischen Deutschland und Québec


– enger als man glaubt

Manuela Wolter

Auf den ersten Blick haben Québec und Deutschland nichts gemeinsam. Nicht nur, dass Québec auf der anderen Seite des Globus liegt, die größte Provinz Kanadas ist auch fast viermal so groß wie Deutschland. Die Bevölkerungsdichte ist ebenfalls sehr ungleich: Auf einer wesentlich kleineren Fläche hat Deutschland etwa zehnmal so viele Einwohner wie die Provinz – 82 Millionen Deutsche stehen 7,5 Millionen Québecern gegenüber. Auch auf sprachlicher Ebene sind keinerlei Verbindungen auszumachen – anders als zwischen Kanada und seinen ehemaligen »Mutterländern« Großbritannien und Frankreich. Wer nach Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Québec zu suchen beginnt, hat das Gefühl gegen einen Strom zu schwimmen.

Doch der erste Eindruck täuscht. Neben blühenden Wirtschaftsbeziehungen (Deutschland ist hinter den USA und Großbritannien Québecs wichtigster Handelspartner) ist vor allem auf kultureller Ebene eine enge Zusammenarbeit zu beobachten. Bereits im Jahr 1975 haben die Regierungen beider Länder ein Abkommen unterzeichnet, das neben der bilateralen Förderung von Musik, Literatur und den bildenden Künsten auch eine intensive Kooperation auf dem Gebiet des Hochschulwesens vorsieht. Aus diesem Abkommen resultieren die gut finanzierten Austausch- und Stipendienprogramme sowie die Einrichtung der Kanada-Zentren in Berlin, Marburg, Trier und vielen anderen Städten Deutschlands.

Doch die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Kanada gehen über die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit der vergangenen Jahrzehnte weit hinaus. Bereits vor 200 Jahren wanderten die ersten Deutschen nach Kanada aus. Während des Zweiten Weltkriegs kamen unzählige Exilanten hinzu. Allerdings zog es die meisten Deutschen an die Westküste des Landes, da die Mehrheit Englisch als Verkehrssprache besser beherrschte als Französisch. Die Teilung Europas durch den Eisernen Vorhang und die Stationierung alliierter Truppen im geteilten Berlin ließen Westdeutschland und Kanada zusammenrücken. Dies führte zu einer engen Verbundenheit und zahlreichen Mischehen. Noch heute wandern rund 3000 Deutsche pro Jahr nach Kanada aus und mehr als 2000 junge Deutsche absolvieren zumindest einen Teil ihrer Ausbildung an einer kanadischen Schule oder Universität. Die in Québec sesshaft gewordenen Deutschen scheinen sich stark anzupassen. Dies erklärt zumindest ihren Spitznamen »Communauté muette« (stumme Gemeinschaft). Bei einer Volkszählung im Jahr 2001 wurde ermittelt, dass rund 2,75 Millionen Kanadier deutsche Wurzeln haben. Damit sind die Kanadier mit einem deutschen Zweig im Stammbaum die fünftgrößte Volksgruppe des Landes.

Auch umgekehrt zeugen die Statistiken von intensiven deutsch-kanadischen Beziehungen: Anfang 2006 wurden etwa 36.000 Kanadier in Deutschland gezählt. Ebenso wie die deutschen Wahlkanadier sind auch die Québecer in Deutschland stark integriert und daher kaum sichtbar. Im Gegensatz zu anderen Einwanderergruppen finden sie sich nicht zu einer Gemeinschaft zusammen, sondern treten vielmehr als Individualisten auf. In Paris existiert hingegen eine Québecer Gemeinschaft mit Stammlokalen, Cafés und allem was das (kanadische) Herz begehrt. Aber keine Angst: Um »echte Québecer« anzutreffen, muss kein Deutscher an die Seine fahren. Dresden liegt doch soviel näher. Dort befindet sich der Freundeskreis Québec-Deutschland e.V., der Stammtische und Veranstaltungen organisiert.

Eine besondere Affinität besteht zwischen der Provinz Québec und dem Freistaat Bayern: Es ist kein Zufall, dass die »Québecische Botschaft« ausgerechnet in München sitzt, wo sie seit 1989 bilaterale Kooperationen pflegt. Es scheint, als hätten sich der Freistaat und die Provinz gesucht und gefunden. Die religiösen, wirtschaftspolitischen und politischen Ähnlichkeiten sind verblüffend: Beide Regionen haben sich in den letzten Jahrzehnten zu Hochburgen der Wissenschaft und der Informations- und Biotechnologie entwickelt. Als Bindeglied wirkt auch die starke Bedeutung der katholischen Religion für das bayuvarische und québecische Selbstverständnis. Wenngleich diese in Québec seit der »Révolution tranquille« (»Stillen Revolution«) in den 1960er Jahren kaum noch spürbar ist, so ist es dennoch der katholischen Kirche zu verdanken, dass die französische Sprache in Kanada überhaupt überlebt hat: Inmitten der angloamerikanischen Repressionen konnten sich vor allem die katholischen Gottesdienste weiterhin als frankophoner Raum behaupten. Der Provinz Québec ist zudem genau wie dem Freistaat Bayern daran gelegen, ihre Eigenständigkeit zu verteidigen: Bayern beruft sich gern auf seine 1500-jährige Geschichte, um seinen Anspruch auf Eigenstaatlichkeit zu untermauern. Die Provinz Québec stellt in kultureller und linguistischer Hinsicht eine Insel dar und musste seit jeher ihren Status gegenüber dem übermächtigen anglokanadischen Einfluss verteidigen. Während der »Révolution tranquille« keimte in Québec ein neuer Nationalismus auf, der dem Staat eine zentrale Rolle in der Verteidigung von Sprache und Kultur zusprach und 1986 zur Gründung der »Parti Québecois« führte. Diese ließ mehrmals Referenden über die Unabhängigkeit Québecs durchführen, zuletzt im Jahr 1995.

Bisher konnte noch kein Konsens über den politischen Status der Provinz gefunden werden. Dennoch gibt es einen Grund zur Freude, denn am 3. Juli 2008 begeht Québec Stadt, die Hauptstadt der Provinz und zugleich »die französischste aller Städte Kanadas«, ihr 400-jähriges Jubiläum. Das gibt allen Grund zu feiern – auf beiden Seiten des Atlantiks und ganz besonders in Bayern.

Quellen:

Feifel, Manuel: Regionen als »Global Players« – Das Beispiel der interregionalen Kooperation Bayern-Québec. Heidelberg: Synchron, 2003.

Kolboom, Ingo: Québec-Deutschland: Parallelen, Analogien, Vergleiche – ein Versuch. In: Zeitschrift für Kanada-Studien, No 1 (Augsburg) 2001, S. 109-124.

Kanadische Botschaft in Berlin: www.dfait-maeci.gc.ca/canada-europa/germany/menu-de.asp

Freundeskreis Québec-Deutschland e.V.: www.aqa-online.de Kanadisches Statistikzentrum: www.statistiquecanada.com


Québec in der Literatur


Lesetipps

Manuela Wolter

Wer sich der Provinz Québec und ihrer Bevölkerung lieber vom heimischen Sessel aus nähern möchte, dem seien folgende Klassiker empfohlen:

Hugh MacLennon: Two solitudes (Zwei Einsamkeiten), 1945

Gabrielle Roy: Bonheur d’occasion (Gelegenheitsglück), 1945

Während sich die frankokanadische Literatur bis in die 1950er-Jahre stark an der Importware aus dem französischen »Mutterland« orientierte, entwickelte sich in Québec nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine unabhängige Literatur, die zunehmend kanadaspezifische Themen aufgriff und gesellschaftliche Probleme in Worte fasste. So beschreibt etwa MacLennon in seinem Werk Two solitudes die Geschichte der Provinz Québec und bearbeitet das konfliktreiche Nebeneinander von Franko- und Anglokanadiern. Gabrielle Roy hingegen tritt in Emile Zolas Fußstapfen und stellt das Proletariat sowie das individuelle Streben nach Glück in den Fokus ihrer Erzählungen. Dabei thematisiert sie die Loyalitätsfrage als das große Streitthema, an dem die kanadische Gesellschaft während des Zweiten Weltkriegs zu zerbrechen drohte: Während die Anglokanadier dem Ruf der englischen Krone gefolgt sind und das »Mutterland« verteidigten, zeigten sich die Bewohner des damaligen »Neufrankreich« wenig gewillt, ihr Leben für einen Krieg auf dem alten Kontinent aufs Spiel zu setzen.

Yves Beauchemin: Le Matou (Der Kater), 1981

Michel Tremblay: La grosse femme d’à côté est enceinte (Die dicke Frau von nebenan ist schwanger), 1987 (erster Teil des Romanzyklus’ Chroniques du Plateau Mont-Royal)

Seit den 1970er-Jahren entwickelte sich eine »Kiezliteratur«, deren Ambition es war, einen Ausschnitt des Stadtbildes von Montréal detailgetreu wiederzugeben. Sowohl Yves Beauchemins Katzenroman Le Matou als auch Tremblays Familienroman bilden die Plätze, Straßen und aktuellen Ereignisse der Zeit realitätsgetreu ab. Das Besondere dieser Romane ist, dass die Personen sich auf »Joual« unterhalten, dem authentischen Dialekt der Frankokanadier.

Francine Noël: Maryse,1983

Dieser »Kampfroman« zeichnet den politischen Umbruch der 1980er-Jahre nach. Die Provinz von Québec, allen voran Montréal, wurde zu dieser Zeit von Bombenattentaten und radikalen Demonstrationen heimgesucht. Die Bewegung richtete sich in erster Linie gegen die anglophone Vormachtstellung und sollte in der Unabhängigkeit Québecs münden. Auch innerhalb der frankokanadischen Bevölkerung wurden die Spannungen stärker und die Rufe radikaler: Die Frauen versuchten, die Ketten des frankokanadischen Patriarchats zu durchbrechen und eine egalitäre Gesellschaft aufzubauen.

Chen, Ying: Les Lettres chinoises (Chinesische Briefe), 1995

Kokis, Sergio: Le Pavillon des miroirs (Der Spiegelpavillon), 1999

Hans-Jürgen Greif: Orfeo, 1999

Parallel zu dieser »Kampfliteratur« entwickelte sich eine überaus bunte Immigrantenliteratur, die Québec mit den Augen eines Fremden unter die Lupe nimmt. Die Spannungen zwischen den separatistisch-nationalistischen Bewegungen der »Révolution tranquille« (»Stille Revolution«) und der heterogenen Wirklichkeit des Einwanderungslandes Québec wirkten sich massiv auf das Selbstbild von (ethnischen) Gruppen und Individuen aus Die Frage nach der eigenen Identität wurde so zu einem wichtigen Topos der »littérature migrante«. Viele immigrierte Schriftsteller sind von ihrer Muttersprache ins Französische gewechselt und mit zahlreichen québecer Literaturpreisen bedacht worden, darunter der in Brasilien geborene Psychologe Sergio Kokis, die Romanistin Ying Chen aus China und der deutschstämmige Literaturprofessor Hans-Jürgen Greif.


Monique Proulx: Aurores Montréales (Morgenstunden in Montréal), 1997

In Aurores Montréales reiht Monique Proulx Kurzgeschichten über ungewöhnliche Bewohner Montréals aneinander und bildet auf diese Weise das soziale Patchwork der frankokanadischen Metropole ab. Durch die Brille von Transsexuellen, Prostituierten und anderen Grenzgängern lernt der Leser die Stadt von ihrer eher untouristischen Seite kennen.

 

Einen Einblick in die Besonderheiten der frankophonen Gegenwartsliteratur Kanadas geben die folgenden Publikationen :

Daus, Ronald: Großstadtliteratur in Montréal : „Das offene Ende“. In: Neue Romania, Nr.30, 2004.

Ertler, Klaus-Dieter : Kleine Geschichte des frankokanadischen Romans. Tübingen: Narr, 2000.

Klaus, Peter (Hrsg.) : Conteurs franco-canadiens. Stuttgart: Reclam 2000.

Moisan, Clément/ Hildebrand, Renate: Ces étrangers du dedans. Une histoire de l'écriture migrante au Québec (1937-1997). Québec: Nota Bene, 2001.

Müller, Klaus Peter (Hrsg.): Contemporary Candian Short Storys, Stuttgart: Reclam 1990

Baier, Lothar/ Filion, Pierre (Hrsg.) : Anders schreibendes Amerika. Eine Anthologie der Literatur aus Québec 1945-2000. Heidelberg: Wunderhorn, 2000.




Welche Erfahrungen ein Europäer in Québec macht, was es mit der kanadischen Frankophonie auf sich hat und weitere interessante Details erfahren Sie in unserem Dossier Québec: Europaliebe auf Eis.


Aus unserer zwölften Ausgabe – 01. Mai 2007

Dossier tirailleurs sénégalais

Die Erinnerung an die Senegalschützen im Elsass


Ein Dossier von Bineta Diagne

Sie kamen von weit her, die tirailleurs sénégalais, um das »Mutterland« vom Joch des Naziregimes zu befreien, das einen Teil Frankreichs besetzt hatte, und kämpften während des Zweiten Weltkrieges auf Seiten der Alliierten und der freien Franzosen. Als »Senegalschützen« bezeichnete man Soldaten, die aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs stammen. Neben Senegalesen handelt es sich um Soldaten aus Kamerun, dem Tschad, der Elfenbeinküste … Diese tirailleurs zwangen etwa 600.000 deutsche und italienische Soldaten zum Rückzug. Sie waren bei der Befreiung der Provence und des Elsass dabei. Einige von ihnen nahmen sogar am Feldzug in Deutschland im April und Mai 1945 teil. 1944 stellten sie, ob Zeitsoldaten oder Einberufene, mehr als die Hälfte der regulären Armee, die auf 550.000 Mann geschätzt wird.

Und dennoch zählen diese Soldaten heutzutage zu den großen Vergessenen des Zweiten Weltkrieges: Das kollektive Gedächtnis erinnert sich nur bruchstückhaft an sie. Besonders im Elsass, wo sie von den Nazis annektierte Dörfer befreit haben. Oder auch in Straßburg, wo nur sehr wenige Bewohner von sich sagen, der Einsatz der tirailleurs aus dem Senegal und dem Maghreb habe sie geprägt. Wir haben jene Orte besucht, um dieser Amnesie nachzugehen. Was haben die Elsässer von der Rolle der tirailleurs während der Befreiung 1944/45 in ihrer Gegend behalten? Einige Elsässer, Historiker und Zeitzeugen waren bereit, uns zu antworten.


»Die französische Geschichtsschreibung ist vergesslich«


Ein Gespräch mit Belkacem Recham über die Rolle der afrikanischen tirailleurs in der französischen Armee im 19. und 20. Jahrhundert

Bineta Diagne, Übersetzung Barbara Kremer

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnen die großen europäischen Mächte wie Großbritannien und Frankreich einen Eroberungsfeldzug in Afrika und bauen dort ihr Kolonialreich auf. Zu jener Zeit ist Frankreich fest davon überzeugt, diesen Ländern Fortschritt und Zivilisation zu bringen. Außerdem leidet Frankreich an einem überdimensionalen Bevölkerungswachstum, das es durch die Eroberung neuer Gebiete auszugleichen versucht. Zudem verfügten die Kolonien über beträchtliche »Humanressourcen«, also potenzielle Sklaven. 1830 ist die Besetzung Algeriens abgeschlossen. Das Französische Reich erstreckt sich nun von Indochina bis Madagaskar und von Westafrika bis Äquatorialafrika. Die Dritte Republik zählt auf diese Gebiete, um sich 1870 an Deutschland zu rächen. 1857 wird nach einem kaiserlichen Dekret auf Veranlassung des Oberst Faidherbe das erste Bataillon aus tirailleurs sénégalais (Senegalschützen) aufgestellt. Mit diesem Personal ergänzt Frankreich seine Truppen in den beiden Weltkriegen.

Einige Historiker haben den Einsatz dieser indigenen Truppen in den beiden Weltkriegen untersucht. Einer davon ist Belkacem Recham, Dozent für zeitgenössische Geschichte an der Marc-Bloch-Universität in Straßburg, der hier auf die Rolle der muslimischen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs zu sprechen kommt.


Herr Belkacem Recham, Sie haben einen Artikel über die Rolle der muslimischen tirailleurs im Zweiten Weltkrieg geschrieben. Der Artikel ist in dem Buch L’Histoire de l’islam et des musulmans de France du Moyen Age à nos jours erschienen. Wer waren die muslimischen tirailleurs? Woher kamen sie?

Die muslimischen tirailleurs wurden nach der Besetzung Algeriens in den französischen Kolonien rekrutiert, das heißt ab 1830. Offiziell wurden die Schützenbataillone gemäß den königlichen Anweisungen von 1841 aufgestellt und in die reguläre französische Armee integriert. 1854 nahm General Faidherbe sie zum Vorbild und schuf die ersten Bataillone der Senegalschützen. Schrittweise wurde die Rekrutierung auf andere Gegenden ausgedehnt. Die Soldaten des Kolonialreichs wurden erstmals während des Ersten Weltkriegs von den Franzosen wahrgenommen, auch wenn algerische Soldaten bereits 1870 im Deutsch-Französischen Krieg eingesetzt worden waren.

Im Zweiten Weltkrieg wurden die tirailleurs zweimal mobilisiert: erst 1940 und dann 1942. Was war ihre Aufgabe?

Sie wurden zweimal mobilisiert, weil dieser Krieg für Frankreich in gewisser Weise in drei Phasen verlief: zuerst der Feldzug von 1939/40, dann der Waffenstillstand von Juni 1940 bis November 1941 und schließlich die Zeit von November 1942 bis zur Befreiung.

Ein Teil dieser Mobilisierten erlebte erst den deutschen Angriff Mai/Juni 1940 und dann die Niederlage der französischen Armee (Débâcle de l’armée française; siehe hierzu den Infokasten unten). Zahlreiche Soldaten wurden in deutschen Gefangenenlagern festgehalten, von denen viele sich im besetzten Frankreich befanden.


Dann kam der so genannte Waffenstillstand, bei dem Deutschland in Nordafrika nur eine 100.000 Mann starke Truppe erlaubte. So wurde ein großer Teil der 1939/40 mobilisierten Truppe demobilisiert. Ein Teil ist nach Hause zurückgekehrt. Die anderen blieben wie der Rest der französischen Armee in Kriegsgefangenschaft. Der Waffenstillstand dauerte bis zum 8. November 1942. An jenem Tag landeten die alliierten Truppen in Nordafrika. Damit begann eine dritte Phase.

Die Kolonien waren wieder sehr gefragt, da ein Großteil der französischen Soldaten in deutschen Kriegsgefängnissen saß. So blieb Frankreich nichts anderes übrig, als erneut auf seine Kolonien zurückzugreifen.

1945 feierten die Franzosen den Waffenstillstand. Die Amerikaner und die französische Widerstandsbewegung wurden wie Befreiungskämpfer gefeiert. Aber was wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs aus den tirailleurs?

Bei Kriegsende wurden die meisten entlassen, zumindest die Einberufenen. Es gab in den Kolonien nämlich zwei Rekrutierungsarten: Die Freiwilligen konnten ihren Vertrag kündigen und nach Hause gehen. Andere Soldaten hatten einen Vertrag über die gesamte Dauer des Krieges unterschrieben: Auch diese Soldaten konnten nach Hause gehen. Aber in einigen französischen Kolonien war die Rückkehr in die Heimat sehr schmerzhaft, vor allem für die algerischen Soldaten aus den Regionen Sétif oder Guelma, wo 1945 die Massaker stattgefunden haben. Namentlich sei hier der Fall der Senegalschützen und das Massaker von Thiaroye (siehe Infokasten unten) genannt. Die Rückkehr in die Heimat war also nicht immer einfach.


Die tirailleurs sollten bei ihrer Rückkehr eine Pension erhalten. Das war aber nicht der Fall: Ab 1958/59 haben die französischen Behörden ein Gesetz erlassen, die so genannte »loi de cristallisation« (siehe Infokasten unten), welches diese Pensionsansprüche einfror. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem Gesetz und der Entkolonialisierung?

Ja, der Zusammenhang ist offensichtlich. Mit diesem Gesetz wollten die französischen Behörden den Ablösungsprozess bestrafen. Ab 1956/57 strebten die französischen Kolonien nach Unabhängigkeit. Mit diesem Gesetz wurde die Abwendung, die »Untreue« der Kolonien gegenüber dem französischen »Mutterland« bestraft. Das waren die Rahmenbedingungen, unter denen das Gesetz entstand.

Heutzutage kennen nur wenige Franzosen die Rolle der afrikanischen tirailleurs im Zweiten Weltkrieg. In Straßburg habe ich eine kleine Umfrage gemacht, aber nur sehr wenige Leute konnten mir darüber Auskunft geben, wo genau die Soldaten herkamen und in welchem Krieg sie gekämpft hatten. Was ist Ihrer Meinung nach die Ursache für diese Verkennung?

Es gibt mehrere Gründe für dieses Vergessen. Hier ist vor allem die Rolle der Schule im französischen Geschichtsunterricht im Allgemeinen und in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs im Besonderen zu nennen. Wenn Sie sich ein Schulbuch anschauen, werden Sie feststellen, dass nur wenige Seiten, manchmal nur wenige Zeilen den Kolonialsoldaten gewidmet sind, die für die Befreiung Frankreichs gekämpft haben. Meiner Meinung nach ist ein Hauptgrund für das Vergessen die Vernachlässigung im Geschichtsunterricht. Man müsste also hier ansetzen. Es gibt übrigens viele Historiker und Kommissionen, die sich über dieses Thema austauschen. Und in Frankreich wird viel darüber diskutiert.


Der zweite Grund ist die »offizielle Geschichte« Frankreichs, vor allem des Elsass. Für die meisten Elsässer wurde ihre Region von der 2. Panzerdivision und den Amerikanern befreit. Dabei hat die 2. Division nur Straßburg befreit. Und um Straßburg zu halten, mussten die französischen Behörden Einheiten aus den französischen Kolonien zu Hilfe rufen. Ab Januar 1945 starteten die Deutschen eine große Offensive, um Straßburg zurückzuerobern. Die Stadt konnte dank der Opferbereitschaft und dem Widerstand der Einheiten, wie der 3. algerischen Infanteriedivision und der 2. marokkanischen Infanteriedivision, gehalten werden. Aber die offizielle Geschichtsschreibung würdigt dieses Opfer, diese Teilnahme kaum. Der Mythos der Befreiung Frankreichs durch die 2. Panzerdivision wurde nach dem Zweiten Weltkrieg aufrechterhalten, und zwar so gut, dass die Rolle der Kolonien darüber fast vollkommen in Vergessenheit geriet.

Glauben Sie, dass man Frankreich und das Elsass zur Erinnerung verpflichten könnte? Und, wenn ja, wie?

Ja, das ist möglich. So könnten in einigen französischen Dörfern und Städten Plätze, Straßen oder Räumlichkeiten nach tirailleurs benannt werden, die am Krieg teilgenommen haben. Im Augenblick gibt es das noch nicht. Es gibt zwar einige Straßen und Plätze, die place de la 2e R.T.A. nach einem algerischen Schützenregiment oder rue de la 9e D.I.C. nach einer Infanteriedivision aus den Kolonien benannt wurden, aber den meisten Franzosen sagen diese Namen nicht viel.

Dann müssten die Schulbücher in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die Kolonialpolitik überarbeitet werden. Dies kann auch auf die Geschichte des Ersten Weltkriegs ausgeweitet werden: Auch dort ist über die wichtige Rolle der Soldaten aus den französischen Kolonien kaum etwas zu lesen. Hier muss man ansetzen. Die Schule muss den Kindern die wahre Geschichte näher bringen und nicht eine von Mythen verzerrte.


Weiterführende Informationen

Les musulmans dans l’armée française, 1900–1945, ein Artikel aus dem Buch Histoire de l’Islam et des musulmans de France du Moyen Âge à nos jours, ein Gemeinschaftswerk unter der Leitung von Mohammed Arkoun, Paris, Albin Michel, 2006.

Belkacem Recham, Les musulmans algériens dans l'armée française 1919–1945, Paris, L'Harmattan, 1996, Collection Histoire et Perspectives méditerranéennes, ISBN : 2-7384-4618-3

S/W-Fotos © Philippe Guionie aus Anciens combattants africains : Des visages et des mots pour mémoire, Éditions les Imaginayres, 2006, 108 S. incl. CD, ISBN: 2-914416-26-1, 28€, Mai–Juni Ausstellung im Culturesfrance, Paris, Portfolio, www.philippe-guionie.com


Zusatzinformationen


Das Lager von Thiaroye
Das Lager von Thiaroye war ein Durchgangslager, 15 Kilometer von Dakar entfernt. 1944 wurden die senegalesischen Soldaten erst dorthin gebracht, bevor sie in ihre Heimat zurückkehren konnten. Nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 waren die meisten von ihnen als Kriegsgefangene in Konzentrationslagern gewesen. 1944 wurden sie befreit. Im November und Dezember 1944 erteilte General de Gaulle den Befehl zum so genannten »Blanchissement« (siehe Infokasten unten) seiner Truppen, das heißt afrikanische Soldaten wurden durch junge Franzosen ersetzt. Die Afrikaner wurden entlassen und in ihre Heimatländer zurückgeschickt.Unter diesen Heimkehrern waren fast 1280 ehemalige Kriegsgefangene. Sie kamen am 21. November 1944 an Bord der Circassia an. Man hatte ihnen versprochen, dass sie ihren ausstehenden Sold und eine Entlassungsprämie über 500 CFA-Franc erhalten würden. Aber die französischen Behörden vor Ort verweigerten die Auszahlung. In der Nacht des 1. Dezembers 1944 schlugen die französischen Offiziere die beginnenden Unruhen nieder. 35 tirailleurs starben in dem Massaker, 35 wurden schwer verletzt und zahlreiche weitere leicht. Der senegalische Filmemacher Sembène Ousmane hat über diese Ereignisse einen Film gedreht, der die Undankbarkeit des Mutterlandes deutlich macht: Le Camp de Thiaroye (1988).

Loi de 'cristallisation'
Dies ist ein 1959 verabschiedetes Gesetz, das die Pensionen von Ausländern in der französischen Armee während des Zweiten Weltkriegs einfriert. Es wandelt die Pensionen und Renten in Abfindungen um, die nicht den Lebenshaltungskosten angepasst werden, und schafft so ein Ungleichgewicht zwischen ehemaligen französischen und Kolonialsoldaten. Die Invalidenrente eines ehemaligen französischen Soldaten beträgt beispielsweise ungefähr 690 Euro, während ein Senegalese 230 Euro, ein Kameruner 104 Euro und ein Marokkaner oder Tunesier nur 61 Euro erhält. Hieraus folgte ein Kampf für gleiche Rechte für ehemalige Soldaten, der mit dem Urteil Diop am 30. November 2001 ein Ende fand. Dieses Urteil des Staatsrates befand, dass das Einfrieren der Pensionsansprüche gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße und eine Diskriminierung darstelle. Nachdem der Film Indigènes von Rachid Bouchareb im September 2006 anlief, verkündete der französische Präsident Jacques Chirac, die so genannte loi de 'cristallisation' sei zu dynamisieren.




Was bleibt vom Gedenken an die tirailleurs sénégalais im Elsass?


Bineta Diagne, Übersetzung Saskia Schuster

Ist in Straßburg jegliche Erinnerung ausgelöscht?
Mitten im Elsass gelegen war Straßburg von jeher für Frankreich und Deutschland ein umkämpftes Objekt der Begierde. Mehrmals wurde die Stadt durch die Deutschen annektiert, und erst am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das besetzte Straßburg von französischen und amerikanischen Soldaten befreit. Aber auch von den tirailleurs sénégalais (Senegalschützen), afrikanischen Soldaten, die in den französischen Kolonien mobilisiert wurden. Zwischen 1933 und 1945 waren etwa 600.000 Soldaten aus Französisch-West- und -Äquatorialafrika gekommen, um mit Leib und Seele für das französische »Mutterland« zu kämpfen und es vom Joch der Nazis zu befreien. Aber diese Tatsache scheint für die Straßburger ohne Bedeutung zu sein. Nach dem Thema befragt, müssen die meisten Einwohner passen. Vereinzelt wird zurückhaltend hervorgebracht, dass es sich um Soldaten handle, die an der Seite der Franzosen gekämpft hätten, ohne dass dies jedoch auf einen genauen Zeitpunkt in der französischen Geschichte bezogen werden könnte. Nur ein Buchhändler teilt uns mit, dass »sie zwischen 1940 und 1944 in der französischen Armee gekämpft haben. Sie haben sogar an der Befreiung Südfrankreichs teilgenommen«. Diese tirailleurs sénégalais trugen zur Befreiung der Provence bei und rückten danach ins Elsass vor, wo sie die französische Position halten mussten. Heutzutage existieren trotz alledem nur sehr wenige Spuren dieser rettungsbringenden Mission. Wie Emmanuel Subiali, Geschichtslehrer in Guebwiller (Stadt im Département Haut-Rhin), bemerkt, »gibt es im Elsass einige Gedenktafeln zur Würdigung der Tirailleurs. In Straßburg wurde eine Mauer zu Ehren der algerischen Soldaten errichtet.« Hierbei handelt es sich um die Place du troisième régiment des tirailleurs algériens, die sich im Viertel Esplanade befindet. Aber im Allgemeinen, so bedauert Subiali, halte sich das Gedenken sehr in Grenzen.

Elsässer und ihre bruchstückhaften Erinnerungen
Auch wenn es nur wenige sind – einige Elsässer können sich noch daran erinnern, welche Rolle die tirailleurs sénégalais gespielt haben. Eine von ihnen ist Elise Reitzer. In Altkirch, einem Dorf im Herzen des Sundgaus (Oberelsass), erklärt Reitzer, dass es sich bei den Tirailleurs um Franzosen handle, die aus Übersee gekommen wären, um ihren Landsmännern zu helfen. »Sie sind für uns gestorben, genauso wie die Marokkaner. Sie gehörten zu den Streitkräften, die das Elsass befreit haben.« Schon als Kind lauschte sie aufmerksam den Geschichten ihres Großvaters, der Kämpfer in der Résistance gegen die deutsche Besatzung war. Dieser erzog seine Enkelin im Geiste des französischen Widerstands. Eine Erziehung, die Kriegsgeschichten mit Anekdoten über die Tapferkeit der einheimischen Soldaten verband. Elise Reitzer erinnert sich noch an ein Lied der Tirailleurs, das sie sich zugleich beeilt anzustimmen: »C’est nous les Africains qui revenons de loin.« (»Wir, die Afrikaner, kommen von weit her.“«) Einige Elsässer haben also tatsächlich das Gedenken an die tirailleurs bewahrt. »Aber«, klagt Elise Reitzer, »so ist das nicht in allen Familien. Es muss Erinnerungsarbeit geleistet werden. Leider ist das eine Sache, die man vernachlässigt und die in Vergessenheit gerät.«


Einführungskurs: Erinnerung ist ein Muss
In Guebwiller, genauer gesagt im berufsbildenden Storck-Gymnasium, versucht Emmanuel Subiali das Interesse der Jugendlichen für die Geschichte des Elsass wiederzubeleben. Vor allem will er ihnen die Art und Weise, wie die Elsässer die Befreiung ihrer Region erfahren haben, ins Bewusstsein bringen. Gemeinsam mit seinen Schülern hat Subiali mehrere Zeugenberichte von Elsässern gesammelt. Das Projekt wurde mit 30 Schülern durchgeführt, »die sich schnell auf die Thematik eingelassen haben«. Dabei agierte Subiali im Sinne des Laisser-faire: »Das heißt, meine Schüler, die von der historischen Frage überhaupt nicht betroffen waren, sollten selbst entdecken, was die Befreiung des Elsass genau bedeutet hatte. Und mit Hilfe der Zeugenberichte erkannten sie, dass das Elsass zum Großteil durch nordafrikanische und senegalesische tirailleurs befreit worden war.« Besonders einprägsam war für Subiali in diesen Berichten das Erstaunen der Elsässer über ihr Zusammentreffen mit den Tirailleurs. »Dies war das erste Mal, dass diese Elsässer Menschen mit farbiger Haut in unserer Region sahen. Sie waren völlig überrascht. Zugleich war es ein emotionsgeladenes Zusammentreffen: Zwischen unseren afrikanischen Soldaten und unseren befreiten Bürgern bestand Brüderlichkeit. Es war ein Aufeinandertreffen zweier Kulturen.«

 

Zur weiterführenden Lektüre

1940–45 La Libération de Guebwiller et des environs – Souvenirs de la période d’occupation et de la libération de Guebwiller et des communes environnantes 1940- 45. Interviews et récits. Emmanuel Subiali et ses élèves du lycée de Storck. Do Betzinger Editeur, 2005.

Nancy Lawler. Soldats d’infortune: Les Tirailleurs Ivoiriens de la Seconde Guerre mondiale. L’Harmattan, 2000.

Joseph Issoufou Conombo. Souvenir de guerre d’un Tirailleur sénégalais. L’Harmattan, 1989.

Les musulmans dans l’armée française, 1900–45, von Belkacem Recham, in: L’Histoire de l’Islam et des musulmans en France du Moyen Age à nos jours, ouvrage collectif sous la direction de Mohammed Arkoun. Albin Michel, 2006.

Les tirailleurs sénégalais dans la campagne de mai–juin 1940, von Julien Fargettas, in: CHED. Les troupes de marine dans l’armée de terre: Un siècle d’histoire 1900–2000. Paris: Lavauzelle, 2001.

Les troupes noires dans le contexte de l’Armée B en 1944 entre gestion politique et gestion des effectifs, von Gilles Aubagnac. In: CHED. Les troupes de marine dans l’armée de terre: Un siècle d’histoire 1900-2000. Paris: Lavauzelle, 2001.

Statistiken: Bilan engagement des colonies durant la Première Guerre mondiale (1914-1918). Ministère de la Défense (Verteidigungsministerium).

Charles Honana. La France et ses tirailleurs, in: ders., Français oubliés de la Libération. Duboiris Eds 2006.


Außerdem

Der »Tata«, Militärfriedhof der tirailleurs sénégalais, in Chasseley (Rhône)

Camp de Thiaroye, Film von Sembène Ousmane, 1988.

C’est nous les Africains, Film von Jean-Marie Fawer, 1994.

Philippe Guionie Anciens combattants africains : Des visages et des mots pour mémoire, Éditions les Imaginayres, 2006, 108 S. incl. CD, ISBN: 2-914416-26-1, 28€, Mai–Juni Ausstellung im Culturesfrance, Paris, Portfolio, www.philippe-guionie.com




Schicksale am Kreuzweg


Der Sohn eines tirailleurs und ein waschechter Elsässer: Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit, die unterschiedlicher nicht sein könnte

Bineta Diagne, Übersetzung Magali Breul

»Die Deutschen kamen 1940. Wir mussten Deutsch lernen, wir durften kein Französisch mehr sprechen«, erinnert sich Albert Schilling, der neun Jahre alt war, als das gesamte Elsass annektiert wurde. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Juni 1940, der mit einer schmählichen Niederlage für Frankreich endete, wird der Norden des Landes besetzt. Der Süden Frankreichs ist frei. Das Elsass fällt in die Hände des deutschen Reiches. Eine schmerzhafte Zeit für die Elsässer, die sich nun den Ordern des Naziregimes fügen müssen, das ihnen unter anderem einen neuen Status aufzwingt: Alle Elsässer sind Deutsche, ob es ihnen gefällt oder nicht. »Wenn wir auf der Straße beim Französischsprechen erwischt wurden, konnten wir nach Deutschland in ein Konzentrationslager deportiert werden«, erinnert sich Schilling bitter. Fast fünf Jahre lang mussten die Einwohner von elsässischen Gemeinden wie Issenheim, Soultz oder Guebwiller diese Zwänge ertragen.


An die Front, um das französische »Mutterland« zu befreien
Nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 wird die französische Armee reduziert. Die Truppen in Nordafrika werden auf 120.000 Mann begrenzt. Unter der Führung des General de Gaulle beginnt Frankreich, Soldaten in seinen Kolonien im Maghreb und in Afrika südlich der Sahara zu mobilisieren. »Um das deutsch besetzte Frankreich zurückzuerobern, versuchte General de Gaulle, Marschbataillone aufzustellen. Es handelte sich um »Fußtruppen«, die beispielsweise im Tschad dank der Unterstützung des Generalgouverneurs Félix Eboué rekrutiert wurden«, erzählt Aliou Badiane, ein Straßburger senegalesischer Abstammung. Sein Vater zählte zu den 40.000 senegalesischen tirailleurs (Schützen, Infanteristen), den Soldaten, die 1940 in den Kolonien mobilisiert wurden, um die Truppen der französischen Armee zu verstärken. Sein Vater, in der Wolof-Gesellschaft (siehe Infokasten zu Ceddos) ein Söldner, gehörte zur französischen Armee. Und voller Stolz rühmt Aliou Badiane dessen Tapferkeit: »Mein Vater war ein Ceddo (siehe Infokasten unten), also ein wahrer Krieger. Er stammte aus einem Dorf namens Ourossogui. Er war erst 17, als er in das Lager bei Perpignan entsandt wurde, um für Frankreich zu kämpfen. Die französische Armee brauchte tapfere, widerstandsfähige Männer. Die tirailleurs wurden zum Teil aus den entlegensten Dörfern des Senegal rekrutiert.« Diese frühzeitige Verpflichtung in der Armee war schmerzhaft. Für den jungen Ceddo, der weit entfernt war von seiner Familie, wie für Aliou Badiane, der von den Kriegsgeschichten seines Vaters und dem Leid geprägt war, das dieser erdulden musste.


Badianes Vater wurde in die »Marschbataillone« aufgenommen. »Die Aufgabe der Marschbataillone war es, die Deutschen in ihren Bunkern aufzuspüren«, erklärt Aliou Badiane. »Die Marschbataillone «, fährt er fort, »hatten ihr Militärlager in Perpignan. Zum Marschbataillon zu gehören, das hieß von Perpignan nach Marseille zu marschieren – von Marseille nach Toulon. Die Soldaten trugen schwere Waffen mit bloßen Händen. Die tirailleurs kämpften unter schwierigen Bedingungen: Sie marschierten vorneweg, wie die Aufklärer, sie kämpften ganz vorne an der Front. Unter ihnen war auch mein Vater«, berichtet Aliou Badiane. Diese Stellung erschöpfte und entmutigte sie gleichermaßen. So sehr, dass Aliou Badianes Vater manchmal nur noch den Wunsch hatte, »eine Granate abzukriegen. Während des Krieges«, fügt Aliou Badiane hinzu, »gab es keine Ruhepausen. Da hieß es marschieren oder sterben. Vor ihnen und hinter ihnen lag der Tod. Vor ihnen, weil sie Angst haben mussten, von den Deutschen getötet zu werden; hinter ihnen, weil sie Gefahr liefen, von der französischen Armee erschossen zu werden.« Mit dieser ständigen Angst im Nacken nahm Aliou Badianes Vater an mehreren Feldzügen teil: in Toulon, am Suezkanal, in der Normandie, bis er schließlich im Elsass landete. Genauer gesagt in den Vogesen, wo sein Bataillon die französischen Stellungen halten musste, so gut es eben ging.


Die Befreiung, eine ungeheure Erleichterung
Issenheim wurde am 4. Februar 1945 befreit. Das Dorf liegt mitten in den elsässischen Vogesen. Und wie in so vielen anderen Dörfern im Elsass, mussten die Einwohner auch hier auf Verstärkung aus der Provence warten. Für Albert Schilling, heute Rentner, kam die Befreiung nicht überraschend; es war vielmehr ein Gerücht, das mit jedem Tag greifbarer wurde. »Von den Leuten, die aus anderen Dörfern zurückkamen, wussten wir, dass es unmittelbar bevorstand«, erklärt er. »Am Tag der Befreiung gab es hier und da Granatfeuer.« Und Schilling fährt fort: »Gegen 16.30 Uhr oder 17 Uhr hatten wir im Keller unseres Hauses Schutz gesucht. Wir haben einen ersten Panzer gehört. Mein Großvater hat nachgesehen, ob es ein deutscher oder ein französischer Panzer war. Und zum Glück war es ein französischer.« Es folgte ein zweiter Panzer. Und ein dritter. Und schließlich kamen die tirailleurs ins Dorf: »Die ersten Soldaten, die nach Issenheim einmarschierten, waren marokkanische tirailleurs und afrikanische Jägerkompanien. Eine Mischung aus Nordafrikanern und Farbigen. Das war kein Problem,“ so Schiling, »denn für uns waren es waschechte Franzosen, die gekommen waren, um uns zu befreien.« Wie alle anderen Dorfbewohner wurde auch der jugendliche Albert von einer grenzenlosen Euphorie erfasst: »Sie wurden mit ungeheurer Begeisterung und Freude empfangen. Es gab viele Umarmungen. Alle waren auf der Straße und sangen die Marseillaise, das war ja jetzt wieder erlaubt«, erinnert sich Schilling, ein Lächeln auf den Lippen. Die Soldaten blieben einige Tage in Issenheim. Lang genug für den jungen Albert Schilling, um sich mit einigen tirailleurs anzufreunden. Er erinnert sich an eine schöne Begebenheit: Dank dieser Soldaten versorgte er seine Eltern mit Zigaretten, die in Zeiten der Rationierung Mangelware und heiß begehrt waren. »Wir Kinder konnten frei herumlaufen. Die Soldaten haben uns schnell in ihr Herz geschlossen. Sie hatten ihre Zigaretten, und da unsere Väter und Großväter keine hatten, schnorrten wir welche bei ihnen. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages 40 volle Schachteln von einem tirailleurs ergattert habe… das Ganze immer mit einem Lächeln und einem Schulterklopfen, es war toll«, erzählt er. »Ein anderes Mal hatte ich meine Mundharmonika gegen drei Schachteln Zigaretten eingetauscht. Mein Vater und mein Großvater waren natürlich total glücklich, einen kleinen Vorrat an Glimmstängeln zu haben«, berichtet Albert Schilling.


Schmerzhafte Heimkehr
Noch vor der vollständigen Befreiung Frankreichs wurde Aliou Badianes Vater durch einen weißen Soldaten ersetzt. (Das Ersetzen eines afrikanischen Soldaten durch einen Weißen wird im Französischen mit dem Verb »blanchir« bezeichnet, das im Deutschen so viel heißt wie »weiß machen, wegrationalisieren«, siehe Infokasten unten.) Er wurde vorzeitig von der Front abgezogen und 1944 in den Senegal zurückgebracht. Die Rückkehr der tirailleurs in ihr Heimatland war oft schmerzhaft. Badianes Vater wurde auf ein Schiff Richtung Senegal verfrachtet. Aber das Schiff kenterte, »manche ertranken im Ozean. Mein Vater konnte nicht schwimmen«, erzählt Aliou Badiane, »er musste seinen Seesack dem Meer überlassen, um sich über Wasser halten zu können. Und so hat er seinen Kriegsteilnehmerausweis verloren.« Er wurde zusammen mit drei anderen tirailleurs von spanischen Fischern gerettet und am 1. Dezember 1944 mit einem Flugzeug in seine Heimat zurückgebracht. Genau in der Nacht, als die in einem Lager in Thiaroye einquartierten senegalesischen tirailleurs niedergemetzelt wurden, weil sie ihre Mobilisierungsprämie eingefordert hatten (mehr zu diesem Vorfall im Infokasten unten). »An genau dem Tag, an dem mein Vater gelandet ist«, erklärt Aliou Badiane, »konnte man vom Flughafen aus das Gewehrfeuer und den Lärm der Panzerfäuste hören. 35 Personen kamen bei diesem Massaker ums Leben. Und viele tirailleurs wurden verletzt.« Der Zweite Weltkrieg hat unter den tirailleurs hohe Opfer gefordert. 1944/45 zählte die Erste Französische Armee in Frankreich und Deutschland 14.000 Tote und 42.000 Verletzte. Die Schätzungen der Verluste auf französischer Seite nach dem 8. November 1942 schwanken zwischen 97.000 und 110.000 Toten, Verletzten und Vermissten, von denen mehr als die Hälfte aus Nord- und Schwarzafrika stammten. (Les musulmans dans l’armée française, 1900–1945, Belkacem Recham).

Badianes Vater lebte anschließend einige Jahre in Dakar; es fiel ihm schwer, wieder ein normales, ziviles Leben aufzunehmen: »Die ehemaligen Kriegsteilnehmer genießen keinerlei gesellschaftliche Anerkennung«, stellt Aliou Badiane bedauernd fest. »Man hält sie für ›verrückt‹, sie werden gemieden. Sie leiden unter sozialem Unbehagen.« Badiane zufolge wird dieses Unbehagen noch verstärkt durch die Tatsache, dass seinem Vater, genau wie vielen anderen ehemaligen tirailleurs aus dem Senegal, der ihm zustehende Kriegssold nicht ausgezahlt wurde, den er damals gebraucht hätte, um sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Mit siebzig Jahren wurde Aliou Badianes Vater blind. Sein Sohn, der damals seit vierundzwanzig Jahren in Straßburg lebte, beschloss, ihn zu sich zu holen, um ihn zu pflegen. Damit begann ein steiniger Weg, gepflastert mit erfolglosen Behördengängen: Ohne Sozialversicherung und ohne Kriegsteilnehmerausweis erwiesen sich die Behandlungskosten für seinen Vater als unbezahlbar. Schließlich starb er im Koma, drei Wochen bevor sein Anspruch auf Kriegsrente offiziell anerkannt wurde: »Seine Rechte sind mit ihm gestorben. Seine Akte wird geschlossen«, stellt Aliou Badiane nicht ohne Verbitterung fest. Wie so viele andere Senegalesen in Straßburg hat auch er den Eindruck, dass die tirailleurs aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sind. Seit dem Tod seines Vaters setzt er sich in Straßburg für die Anerkennung seiner Vorfahren ein.


Weiterführende Informationen

S/W-Fotos © Philippe Guionie aus Anciens combattants africains : Des visages et des mots pour mémoire, Éditions les Imaginayres, 2006, 108 S. incl. CD, ISBN: 2-914416-26-1, 28€, Mai–Juni Ausstellung im Culturesfrance, Paris, Portfolio, www.philippe-guionie.com

Les musulmans dans l’armée française, 1900–1945, Aufsatz von Belkacem Recham erschienen in: L’Histoire de l’islam et des musulmans de France du Moyen Age à nos jours, Sammelband hg. v. Mohammed Arkoun, Paris: Albin Michel, 2006.


Zusatzinformationen

»La Débacle française«
Dieser französische Ausdruck bezeichnet die militärische Niederlage der französischen Armee gegen die deutschen Offensiven 1939/40. Am 22. Juni 1940 unterzeichnet Maréchal Pétain den Waffenstillstandsvertrag und kollaboriert fortan mit dem Naziregime. Frankreich wird in zwei Zonen geteilt: die deutsch besetzte Zone im Norden des Landes und die freie Zone im Süden, wo die Regierung Pétains ihren Sitz nimmt. Die französische Niederlage im Mai/Juni 1940 fordert hohe menschliche Verluste unter den tirailleurs.

1940 hatte Frankreich 340.000 Soldaten aus Nordafrika rekrutiert. 5400 kamen 1940 beim Einmarsch der Deutschen ums Leben. Nach dem Waffenstillstand wurden die nordafrikanischen Truppen der französischen Armee auf 120.000 Mann reduziert.

Am 1. April 1940 beläuft sich die Zahl der von Frankreich rekrutierten senegalesischen tirailleurs auf 179.000. Laut Yves Chatel, dem Generalgouverneur von Algerien, wurden im Frühjahr 1940 90.000 Soldaten muslimischen Glaubens gefangen genommen, darunter 60.000 Algerier, 18.000 Marokkaner, 12.000 Tunesier und 58.500 Senegalesen.

Ceddo
Dies ist ein Begriff aus dem Wolof. Er bezeichnet heidnische Krieger, die sich der Sache ihres Herrn verschrieben haben. Dieser Ausdruck ähnelt dem Begriff des Söldners. Wolof ist die meist gesprochene Sprache im Senegal; sie wird hauptsächlich von der ethnischen Gruppe der Wolof gesprochen, die mehr als 45 Prozent der Bewohner ausmacht. Die Wolof-Sprache wird auch von anderen ethnischen Gruppen des Senegal gesprochen (Fulbe, Serer, Diola etc.).

»Blanchiment de l’armée« (wörtlich: »Das Weißmachen der Armee«)
Im Herbst 1940, noch vor dem Ende der Kampfhandlungen, wurden einige afrikanische Truppen von der Front abgezogen: Dieses Blanchiment betraf hauptsächlich die 9. koloniale Infanteriedivision (DIC, Division d’infanterie coloniale) und die 1. motorisierte Infanteriedivision (DMI, Division motorisée d’infanterie). Für diesen Abzug werden mehrere Gründe angeführt: Zum einen die Schwierigkeiten, die die afrikanischen Soldaten hatten, sich an das Klima zu gewöhnen. Zum anderen die sinkende Moral der Männer. Der Abzug bestimmter afrikanischer Truppen war zum einen politisch motiviert und beruhte zum anderen auf Überlegungen, die die Verwaltung der Streitkräfte betrafen. Nach Meinung von Gilles Aubagnac war dieser Rückzug seit September 1944 geplant, denn genau zu diesem Zeitpunkt trat eine komplexe Situation auf. Er führt in diesem Zusammenhang die Aussagen von General Brosset an, Kommandeur der 1. DMI:

»Es ist absolut notwendig, die Senegalesen schnellstmöglich abzulösen, nicht nur wegen ihrer körperlichen Untauglichkeit angesichts der kalten Jahreszeit, sondern auch wegen des negativen Einflusses, den die großen Städte auf sie ausüben. Die Moral beginnt zu sinken, die Ankündigung eines möglichen Waffenstillstands könnte Meutereien unter ihnen auslösen, wenn sie nicht zurückgeschickt werden, zumindest nach Nordafrika. Die tirailleurs werden unverzüglich abgelöst, sobald die veranschlagte Truppenstärke erreicht ist und Verstärkung aus den übrigen europäischen Ländern herbeiströmt […]. Es erscheint mir unumgänglich, dass das Ausbildungszentrum der kolonialen Armee aufhört, mir Tirailleurs zu schicken, da ich diese umgehend nach Nîmes zurücksenden muss.«

(Auszug aus dem Aufsatz Les troupes noires dans le contexte de l’Armée B en 1944 entre gestion politique et gestion des effectifs, erschienen in: Les troupes de marine dans l’armée de terre, un siècle d’histoire 1900 – 2000, CHED, Paris: Lavauzelle, 2001.)

Gilles Aubagnac schreibt weiter: »Zwischen November 1944 und März 1945 beläuft sich die Zahl der nach Französisch-Westafrika zurück gesandten Einheimischen […] auf 9678, davon 3261 ehemalige Gefangene und 6334 aus Frankreich abkommandierte Soldaten.« Diese afrikanischen Soldaten wurden schrittweise abgelöst durch die Französischen Streitkräfte des Inneren (FFI, Forces françaises de l’intérieur) und durch so genannte Maquisards, französische Widerstandskämpfer.




Sonderausgabe – 20. März 2007

Reise um die Erde in zwanzig Fragen



Quiz für einen … Frankophilen!

von Aurélie Daoulas, Übersetzung von Christina Felschen

1. Wann wird der Tag der Frankophonie gefeiert?

am 20. März

am 14. Juli

am 15. Mai

 

2. Wie viele Menschen sprechen weltweit fließend Französisch?

eine Million

100 Millionen

200 Millionen

 

3. Was meint ein Belgier, wenn er sagt: « Je bloque » (wörtlich: »Ich blocke ab.«)

Er hat sich verliebt.

Er ist einem Nervenzusammenbruch nahe.

Er ist dabei, für seine Prüfungen zu lernen.

 

4. Aus welchem Land kommt Zep, der Schöpfer des frechen Comic-Helden Titeuf?

Frankreich

Belgien

Schweiz

 

5. Was ist die offizielle Landessprache Marokkos?

Französisch

Arabisch

Marokkanisch

 

6. Wie viele Jahre lang war Algerien französische Kolonie?

132 Jahre

45 Jahre

76 Jahre

 

7. Welcher Roman beginnt mit dem Satz: »Heute ist Mama gestorben.«?

Der Fremde von Albert Camus

Mit Staunen und Zittern von Amélie Nothomb

Das verlorene Wort von Assia Djebar

 

8. Was verheimlicht ein Mann aus Westafrika, wenn er ein « deuxième bureau » (wörtlich: ein »zweites Büro«) hat?

eine zweite Arbeitsstelle

ein zweites Haus

eine Geliebte

 

9. Wie nennt man einen Geschichtenerzähler in Westafrika?

Grigri

Griot

Gacaca

 

10. Welche Staatsbürgerschaft hat der R n’ B-Sänger Corneille kürzlich angenommen?

die französische

die ruandische

die kanadische

 

11. Wer »entdeckte« 1534 die Ostküste Kanadas?

Jacques Cartier

Christoph Kolumbus

Vasco da Gama

 

12. Welche Quebecerin singt das Chanson « Les souliers verts » (wörtl. »Die grünen Schuhe«)?

Céline Dion

Lynda Lemay

Isabelle Bouley

 

13. Welche ehemalige französische Kolonie erhielt als erste ihre Unabhängigkeit?

Vietnam

Madagaskar

Haiti

 

14. Welche dieser Inseln gehört zur Europäischen Union?

St. Pierre und Miquelon

Wallis und Futuna

Martinique

 

15. Welcher dieser Maler hat lange Zeit auf Tahiti gelebt und wurde dort zu vielen seiner Werke inspiriert?

Henri Matisse

Paul Gauguin

René Magritte

 

16. Welcher dieser Volksstämme aus den Ländern der Frankophonie lebt in Neukaledonien?

die Tuareg

die Cree

die Kanak

 

17. Auf welchem Fluss treffen sich das junge Mädchen und der schöne Chinese in der Erzählung Der Liebhaber von Marguerite Duras?

auf dem Bouregreg

auf dem Mékong

auf dem Kongo

 

18. Was verbirgt sich hinter der Abkürzung FLE?

ein Verband zum Schutz der Frankophonie

ein Hochschulabschluss eines Französischstudiengangs

ein Studienfach

 

19. Welcher dieser frankophonen Rundfunksender ist der jüngste?

TV5

France 24

RFI

 

20. Von wem stammt diese schöne Definition: »Die Frankophonie ist die Hoffnung auf eine Brüderlichkeit mit gegenseitigem Respekt und im interkulturellen Dialog.«

Aimé Césaire

Assia Djebar

Léopold Sédar Senghor

 

Viel Glück!

Zu den Lösungen




Aus unserer elften Ausgabe – 01. Februar 2007

Von kultureller Vielfalt und ungeschriebenen Gesetzen - ein ambivalenter Blick auf Kamerun


von Bettina Schuster

Die Cafétische des Ubu Roi in Saarbrücken werden an diesem Sommermorgen gerade erst zurechtgerückt, als mich zwei rege lachende Männer heranwinken. Herzlichwerde ich mit Wangenküsschen à la française begrüßt. Zusammen mit den beiden gebürtigen Kamerunern Jean-Pierre (31), im Elektrogewerbe tätig, und Eric (28) (Namen von der Redaktion geändert, Anm. d. R.), Student der Übersetzungswissenschaften für Englisch, Deutsch und Französisch, tauchen wir ein in eine harmlos anmutende Erzählrunde über ihr Bild von Kamerun.

Engagiert klärt mich Jean-Pierre über die Besonderheiten seiner Heimat auf: »Kamerun unterscheidet sich stark von anderen afrikanischen Ländern: in ihm vermengt sich die Vielfalt des Kontinents.« Über die geologische Verschiedenartigkeit hinaus, herrscht ein besonders offener Religionspluralismus, ein Miteinander von Muslimen (22 Prozent), Christen (53 Prozent) und Anhängern der traditionellen Religionen vor. Die beiden Kameruner weisen mich zudem explizit darauf hin, dass sich weder von einer gesamtkamerunischen Mentalität noch von einem Nationenbegriff, wie er im westlichen Denken verwurzelt ist, sprechen lässt. »Kamerun ist ein Staat, der sich über die politische und juristische Ebene definiert, aber nicht unbedingt eine Nation ist«, meint Jean-Pierre und setzt ergänzend hinzu, dass »der Begriff Nation' eher ein Volk umfasst, das eine gemeinsame Vergangenheit teilt. Kamerun aber ist vielmehr eine Ansammlung von Ethnien, mit den verschiedensten Sprachen und kulturellen Hintergründen.« Die Präsenz von mehr als 200 verschiedenen, durch die Kolonialgeschichte des Landes sowohl frankophon als auch anglophon geprägten Ethnien zeigt sich noch heute. Neben den beiden als gleichwertig anerkannten Amtssprachen Französisch (von rund 80 Prozent der Kameruner gesprochen) und Englisch (von rund 20 Prozent gesprochen) werden noch etwa 230 weitere Sprachen und Dialekte praktiziert.


Was als Zusammenleben im Zeichen der Toleranz erscheint, wird schnell zum Kommunikationsproblem: »Manchmal schafft man es wirklich nicht miteinander zu kommunizieren. Einer spricht lediglich Französisch, der andere nur Englisch und die Wahrscheinlichkeit, dass man sich auf einer der vielen anderen Landessprachen verständigen kann, ist sehr gering. Zuhause werden diese Landessprachen als Muttersprache gepflegt, während man im öffentlichen Leben die offiziellen Sprachen, also Englisch oder Französisch, benutzt.« Da Kamerun zwischen 1885 und 1919 offiziell deutsches Schutzgebiet war, kommt in einigen Fällen sogar noch die deutsche Sprache hinzu. Diese »ist jedoch nur noch bei den Alten, die vor dem ersten Weltkrieg aufgewachsen sind, präsent«, erklärt mir Jean-Pierre geduldig.

Zu Beginn unseres Gesprächs hieß es, meine beiden Interviewpartner seien zu Studienzwecken nach Deutschland gekommen, weil die Bedingungen hierzulande damals günstiger gewesen wären, was die Studiengebühren und Bildungsressourcen betrifft. Doch was die beiden nun seit mehr als 6 Jahren von ihren Familien trennt, ist mehr als der Wunsch nach Bildung für bessere Berufsaussichten. Die diskriminierende Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik in Kamerun zwingt einen Großteil an Studierenden oder fachlich fähigen Leuten das Land zu verlassen. »Im derzeitigen Kamerun hat Erfolg etwas mit Kontakten und Namen zu tun. Das ist das ungeschriebene Gesetz.« Gemeint ist eine ethnische Zugehörigkeit zu den Beti, zu dem Volk, welchem auch Staatsoberhaupt Paul Biya angehört und welches folglich das Monopol über sämtliche Staatsposten und Studienplätze innehat. Darüber hinaus »erhöht die Regierung kolossal die Preise, senkt willkürlich die Löhne und die Bevölkerung bleibt ruhig, obwohl sie tagtäglich leidet. Diejenigen, die sich glücklich schätzen können, eine Arbeit zu haben, leiden an den niedrigen Löhnen, die anderen an der Arbeitslosigkeit und der fehlenden Krankenversicherung.« Mit Bitterkeit in der Stimme fügt Jean-Pierre hinzu: »In den Diktaturen kommt eben selten Krieg auf. Alle marschieren im Gleichschritt.«


Und die beschriebene Lage ist keine neue Tendenz, wie man meinen könnte. Im Gegenteil: sie lässt sich bis in die 60er Jahre zurückverfolgen. Unter dem ersten Präsidenten, dem Muslime Ahmadou Ahidjo, der die Unabhängigkeitsverträge mit Frankreich ausgehandelt hat, herrschte in Kamerun eine blutige Diktatur. Nach der Gründung der Einheitspartei Rassemblement Démocratique du Peuple Camerounais (RDPC) im Jahr 1960 und der Umwandlung Kameruns in einen Einheitsstaat (Vereinigte Republik Kamerun, 1972) wurde schließlich Ahidjos Premierminister Paul Biya 1982 zum neuen Staatsoberhaupt. Wenngleich Biya – aufgrund des zunehmenden Drucks der Öffentlichkeit – die Pressefreiheit einführte und die Auflösung des Einparteiensystems veranlasste, dominiert in seinem Kabinett nach wie vor das Phänomen der Korruption und des Wahlbetrugs. Laut Transparency International nahm Kamerun im Jahre 2005 Platz 21 auf der Weltrangliste korrupter Regierungen ein.

Doch Eric und Jean-Pierre glauben an eine pazifistische Durchsetzung von Demokratie durch Bildung und Aufklärung der Gesellschaft und lassen ihre Zukunftspläne leiten von der emotionalen Bindung an das eigene Land oder wie es Eric ausdrückt: »Erst noch ein paar Erfahrungen im Ausland sammeln – und dann nach Hause.« Um aktiv etwas zu verändern? »Ich weiß nicht …«, antworten mir beide. Und lächeln dabei. Ihrem Vaterland endgültig den Rücken zuzukehren, wie so viele ihrer Generation, kommt für sie allerdings nicht in Frage.

 

Quellen

Der Fischer Weltalmanach 2004

Länderinformation Kamerun: www.wikipedia.de

Länderinformationen des Auswärtigen Amtes: www.auswaertiges-amt.de

Länderinformation Frankreich: www.insee.fr

Aktuelle Bevölkerungsstatistik: www.statistikportal.de

 

Zur weiterführenden Lektüre

Morazán, Petro (2005): Kamerun - Die Kehrseite der Globalisierung. Siegburg: Südwind.

Bitoto-Abeng, Nazaire (2005): Afrikanische Mythen, Riten und Lebensformen in der Begegnung mit Islam, Christentum und Moderne : das Beispiel Kamerun.

Eyango, Edimo (1993) : Politische Entwicklung in Kamerun seit der Unabhängigkeit. Münster: Afrikanische Studien. Frankfurt/Main: IKO.

Owona, Théophile (1991) : Die Souveränität und Legitimität des Staates Kamerun. München: tuduv-Verl.-Ges.


Kamerun: Kurzer Überblick über die Kolonialgeschichte bis heute


von Bettina Schuster

Die sprachliche und kulturelle Vielfalt Kameruns findet sich in der kolonialen Vergangenheit begründet: Im 15. Jahrhundert entdecken die Portugiesen die Mündung des Flusses Wouri und nennen diesen aufgrund seiner üppigen Garnelenbestände »Rio dos Camaroes«. Aus diesem Namen entwickelt sich der heutige Staatsname Kamerun. Über vier Jahrhunderte später, im Jahr 1884, wird Kamerun zu deutschem Schutzgebiet erklärt und 1919 infolge des Ersten Weltkrieges im Versailler Vertrag unter Frankreich und Großbritannien aufgeteilt.

Die sozialen, wirtschaftlichen und kommunikativen Strukturen, aus denen die heutigen Problematiken resultieren, entstammen insbesondere der Folgezeit bis zur Unabhängigkeit. Während Frankreich West-Kamerun durch eine zentralistische Verwaltungs- und Bildungsstruktur, sowie massiven Warenexport an sich binden wollte, mischte sich Großbritannien weitaus weniger in die Regierung Ost-Kameruns ein. Erst Jahrzehnte später, in den Jahren 1960/61, gelang beiden Länderteilen auf diplomatischem Wege sowohl die staatliche Unabhängigkeit als auch der Zusammenschluss zur Föderation Kamerun und später zur Vereinigten Republik Kameruns. Zwei Regierungsoberhäupter hat Kamerun seit damals gekannt: den Muslimen Ahmadou Ahidjo, der die Autonomieverträge mit Frankreich ausgehandelt hatte und in den Folgejahrzehnten diktatorisch herrschte, sowie seit 1982 den aktuellen Präsidenten Paul Biya. Biyas Regierung betreibt eine Scheindemokratie, der nicht alleine Korruption und Wahlbetrug vorgeworfen wird, sondern die offensichtlich Rassismus unter Kamerunern betreibt.


Kamerun


Landessprachen: Französisch (80 Prozent) und Englisch (20 Prozent) (Amtssprachen), rund 230 weitere Sprachen und Dialekte

Hauptstadt: Yaoundé (Jaunde)

Staatsform: Präsidialrepublik (Staatsoberhaupt seit 1982: Paul Biya)

Fläche: 475.442 Quadratkilometer

Einwohnerzahl: ca. 16,6 Millionen (2005)

Unabhängigkeit: Unabhängigkeit 1960 (Ostkamerun), bzw. 1961 (Westkamerun; zugleich Wiedervereinigung des Landes)

Religionen: 30 Prozent traditionelle Religionen (mit lokaler Verbreitung), 25 Prozent Katholiken, 25 Prozent Protestanten, 20 Prozent Muslime (Stand 2005)

Analphabetenrate: Männer 20 Prozent, Frauen 35 Prozent

Medizinische Versorgung:

• Ärzte: 0,2/1000 Einw.

• Säuglingssterblichkeit: 9,6 Prozent

• Lebenserwartung: 49 Jahre




Aus unserer achten Ausgabe – 1. März 2006

Den Blick nach vorn – Aufbruch in Vietnam


von Claas Peters

Die Dong Khoi in Ho Chi Minh City, die ehemalige  Rue Catinat, ist gedrängt voll mit Mofas. Der Aufbruch in die Zukunft findet auf zwei Rädern statt. Das Wirtschaftswachstum liegt nach der Finanzkrise in Asien im Jahr 1999 wieder bei sieben Prozent (2004) und mit dem steigenden Wohlstand wurden die Fahrräder gegen ihre motorisierten Verwandten ausgetauscht. Ho Chi Minh City hat geschätzte acht Millionen Einwohner und fast ebenso viele »Motobikes«. Von den Vietnamesen wird es noch immer Saigon genannt, die Namensänderung zu Ehren von Ho Chi Minh, der Revolutionär und spätere Präsident Nordvietnams, hat sich nie richtig durchsetzen können.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, mit der das kommunistische Vietnam enge Beziehungen pflegte, und dem damit verbundenen Wegfall der Wirtschaftshilfe hatte Vietnam seine in den Achtzigerjahren begonnene Lockerung der Planwirtschaft weiter fortgesetzt, 1991 ließ man ausländische Investoren in das Land und trat 1995 dem südostasiatischen Staatenbund ASEAN bei.

Heute gibt es auf der Dong Khoi »Stores« von Esprit und Dolce&Gabbana;, der Marmor in den Eingängen der Kaufhäuser ist frisch poliert. Die Touristen werden mit deutschem Bier und französischem Wein in die Cafés gelockt.

Entlang der Dong Khoi findet man zudem beeindruckende bauliche Zeugnisse der französischen Kolonialzeit: in Saigon das Theater steht hier, behängt mit Werbebannern des Elektronikkonzerns Samsung, und am Ende der Dong Khoi die im neuromanischen Stil 1883 fertiggestellte Cathedrale Notre Dame. Auch das Hauptpostamt, rechts daneben, in wuchtigem Kolonialstil erbaut, scheint unverändert, nur blickt heute Ho Chi Minh mit einem wachenden Auge von seinem Gemälde auf die riesige Schalterhalle.


Der französische Einfluss reicht natürlich tiefer und hat auch die kommunistische Gegenströmung überlebt. Neben kulinarischen Spuren – belegte Baguette sind eine beliebte Mittagsmahlzeit – wurde die auf dem lateinischen Alphabet beruhende Schriftsprache hinterlassen, die von dem französischen Jesuiten Alexandre de Rhodes entwickelt worden war. Schließlich endete die Kolonialzeit blutig in den Indochinakriegen, in denen Vietnam sich endgültig von Frankreich zu lösen suchte.

Spricht man heute mit Vietnamesen über die Vergangenheit ihres Landes, stellt man fest, dass die Blicke einzig in die Zukunft gerichtet sind. Die Vergangenheit ruht, erschreckend, doch abstrakt, in den War Museums.

Ti, die in der zentralvietnamesischen Stadt Hué Französisch studiert, sagt auf die Frage, wie sie das Verhältnis von Vietnam zu Frankreich einschätze, auf Englisch  da sie meint ihr Französisch sei noch nicht gut genug: »Wir waren Feinde, aber jetzt sind wir gute Freunde.« Mit den Beziehungen zu den USA verhalte es sich ebenso.

Seit Vietnam Anfang der Neunzigerjahre die Visa Bestimmungen gelockert hat, kommen zunehmend mehr Touristen in das Land. Im November 2005 wurde am Flughafen in Saigon die dreimillionste Touristin des Jahres, eine Japanerin, begrüßt. Ohne die Vogelgrippe wären es noch mehr gewesen.

In den Neunzigerjahren waren es insbesondere Franzosen und Amerikaner gewesen, die als Touristen Vietnam besuchten, erstere aus Verbundenheit mit ihrer ehemaligen Kolonie und letztere meist als Veteranen. Heute besuchen vor allem Rucksacktouristen, denen Thailand zu laut und zu touristisch geworden ist, und zunehmend auch Pauschaltouristen das Land. An den Stränden werden allmählich die billigen Strandbungalows von teureren Hotels verdrängt.


Saigon hat heute ein eigenes, kleines Backpackerviertel, man kann hier Pizza und Hamburger essen, Bier trinken und Kopien von Dan Brown-Romanen kaufen.

Die Frage, ob solche Touristenmassen nicht auch stören, können sich eigentlich nur Touristen »leisten«. Nach Fremdherrschaft, Krieg und Jahren strenger kommunistischer Führung gibt es zum ersten Mal mehr Freiheit und die Möglichkeit zu bescheidenem Wohlstand, für den allerdings sehr hart gearbeitet werden muss. Und es braucht oft vor allem Touristen, um diesen Wohlstand erreichen zu können .

Stellt man dennoch einem Vietnamesen die Frage, erhält man ein höfliches Lächeln und die diplomatische Antwort, dass Touristen sehr gut sind, denn die meisten seien ja auch freundlich und nett.

Phan, der Touristen ins Mekongdelta begleitet, denkt einige Zeit über die Frage nach, bevor er antwortet: Wenn man ein Haus habe, könne man Türen und Fenster geschlossen halten. Doch dann würde die Luft im Haus schlecht. Deshalb sollte man Türen und Fenster weit aufmachen, um frischen Wind hinein zu lassen, damit man atmen könne. Natürlich trage der Wind dann auch immer etwas Dreck ins Haus.

Zur weiterführenden Lektüre
Keller, Hans-Jörg: Kulturschlüssel Vietnam. Hueber: 2000
Kotte, Heinz: Vietnam- die neue Zeit auf hundert Uhren. Lamuv- Verlag: 1997
Ray, Nick; Yanagihara, Wendy: Vietnam. Lonely Planet: 2004


Über Vietnam


Hauptstadt: Hanoi

Bevölkerung: 83,5 Millionen

Staatsform: Sozialistische Volksrepublik mit Einparteiensystem

Fläche: 329. 560 Quadratkilometer

Sprache: Vietnamesisch

Währung: Dong

Geschichte: 939 Nach Tausend Jahren wird Vietnam von China unabhängig

1540 Beginn des Handels mit Portugal

17. Jhd Alexandre de Rhodes schafft eine Lateinschrift für Vietnamesisch

1825 Christenverfolgung durch Kaiser Minh Mang

1859 Rigault deGenouilly besetzt Gia Dinh (Saigon), Beginn der Kolonisierung Vietnams

1867 Frankreich gründet seine Kolonie Cochinchina

1930 Gründung der Kommunistischen Partei Indochinas

1940–1945 Französisch-Japanische Doppelherrschaft,

2.9.1945 Proklamation der Vietnamesischen Republik durch Ho Chi Minh (Der 2. September ist seitdem in Vietnam Nationalfeiertag)

19.12.1945 Angriff Frankreichs auf Hanoi, Beginn des Indochina Krieges

1954 Schlacht um Dien Bien Phu, 10.000 französische Soldaten müssen sich den nordvietnamesischen Viet Minh ergeben, Ende der Kolonialzeit

1955 Vietnam wird Vollmitglied bei ASEAN

1964–1973 Zweiter Vietnamkrieg unter Beteiligung der USA

1970 Vietnam tritt der internationalen Organisation »Frankophonie« bei




Aus unserer siebten Ausgabe – 15. Dezember 2005

Ich spreche kein Englisch!


von Britta Nelskamp

Wir befinden uns im Jahre 2005 nach Christus. Der ganze nordamerikanische Kontinent ist von Englisch sprechenden Menschen besiedelt. Der ganze nordamerikanische Kontinent? Nein. Eine von unbeugsamen Frankophonen bevölkerte Provinz hält seit über 400 Jahren an ihrer Sprache fest …

Aber entspricht das wirklich den Tatsachen? Wie haben es die Bewohner der kanadischen Provinz Quebec geschafft, die französische Sprache und ihre frankokanadische Identität zu bewahren, angesichts der Entfernung von ihrem ursprünglichen Heimatland Frankreich und ihrer ausschließlich englischsprachigen Umgebung? Wie hat das überhaupt angefangen?

1534 entdeckt der Bretone Jacques Cartier die Ostküste Kanadas und 1605 gründet der Franzose Samuel de Champlain die Stadt Quebec; die umliegenden französischen Siedlungen werden 1608 zu der Provinz Quebec zusammengefasst. Der Name Quebec stammt wahrscheinlich von dem Wort kebek, ab, das in der Sprache des Eingeborenenstammes der Algonkin soviel wie »Engstelle« bedeutet, also der Ort, an dem sich der Sankt-Lorenz-Strom verengt. Die Engländer folgen erst 1613 und beginnen alsbald mit der Besiedlung des neu entdeckten Landes, das sich für sie mit großen Fischvorkommen, Wolleproduktion und Pelzen als wirtschaftlich lohnend erweist. Im selben Jahr kommt es erstmals zur Zerstörung der französischen Siedlungen durch die englischen Kolonisten. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Kolonisten, aber auch mit den dort beheimateten Indianerstämmen, die man versuchte, aus ihrem Gebiet zu vertreiben, dauern bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts an. Die französischen Kolonisten können zwar ihre Gebiete bis zu den Großen Seen an der Grenze zwischen Kanada und den USA ausdehnen, aber dennoch sind die Angloamerikaner ihnen zahlenmäßig deutlich überlegen. Im Pariser Friedensvertrag überlässt Frankreich 1763 den Engländern schließlich alle Kolonien in Nordamerika.

Die neue Kolonialmacht hat das feste Ziel aus Quebec eine ausschließlich englische Kolonie zu machen. Ab 1764 gilt ausschließlich das englische Recht und um ihre politischen Rechte zu behalten, werden die Frankokanadier gezwungen, ihrer Religion, dem Katholizismus abzuschwören.


Die Voraussetzungen für eine dauerhafte Etablierung des Französischen in Kanada scheinen also nahezu undenkbar. Aber offensichtlich hat man sich in Quebec trotz der vorausgegangenen Niederlage nicht so leicht unterkriegen lassen. Die französischen Siedler erweisen sich trotz der angedrohten Repressalien als unnachgiebig und beharren auf ihre kulturellen und historischen Wurzeln.

Als Konsequenz aus den gescheiterten Assimilationsversuchen garantieren die Engländer den Frankokanadiern 1774 in der Quebec-Akte Religionsfreiheit und ein französisches Verwaltungs- und Rechtssystem. Dies sollte dem Zweck dienen, Ruhe und Frieden in der Provinz zu wahren und die dort sesshaften Franzosen zumindest auf ein einziges Gebiet einzugrenzen, wenn man sie schon nicht völlig bezwingen konnte. Allerdings wollen die Engländer den Versuch nicht aufgeben, Englisch als einzige offizielle Sprache einzuführen. In der Praxis lässt sich Französisch jedoch nicht unterdrücken. Wie sollte das auch möglich sein? In Quebec gibt es bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich mehr frankophone als anglophone Menschen – es wird also als zweite Amtssprache geduldet. Die Britisch-Nordamerika-Akte legt 1867 die Gründung einer Konföderation fest: Dieser Zusammenschluss von Quebec, Ontario (1791 gegründet, englisch), Neu-Schottland (1751 gegründet, englisch) und Neu-Braunschweig (1784 gegründet, englisch, benannt nach dem deutschen Fürstentum Braunschweig-Lüneburg, das zu dieser Zeit von dem englischen König Georg III. aus dem Hause Hannover regiert wird) ist die Gründung Kanadas. Diese Konföderation festigt auch die Stellung des Französischen in Quebec: Gesetze werden zweisprachig veröffentlicht und beide Sprachen werden im Parlament auf Bundesebene geduldet.

Darauf folgen ab 1910 verschiedene Sprachgesetze. So soll zum Beispiel im öffentlichen Verkehr Zweisprachigkeit mit bilingualen Fahrkarten und Verkehrsschildern gesichert werden. Fachvokabular in Forschung und Beruf soll französisch beziehungsweise ins Französische übersetzt sein, was sich als schwieriges Unterfangen herausstellt, da sich durch das Hin- und Herübersetzen schnell Anglizismen einschleichen. Das Ziel ist, für Frankokanadier Gleichberechtigung im beruflichen Leben zu schaffen: Die bisherige Bevorzugung von anglophonen Kanadiern in Unternehmen soll unterbunden werden, für öffentliche Aushänge vermehrt die französische Sprache genutzt werden. Die Québécois hoffen, so eine "französische Bewusstseinsbildung" zu unterstützen und dem Vormarsch des Englischen und der amerikanischen Massenkultur Einhalt zu gebieten. Begleitet von wirtschaftlichem Aufschwung entwickelt sich dieses neue Selbstbewusstsein der Québécois ab 1960 in der Stillen Revolution, der so genannten Révolution Tranquille.


Emanzipationsgedanken und Selbstbehauptung der französisch sprechenden Mehrheit kommen in dieser Zeit auf. Neben den rein rechtlichen Maßnahmen zeigt sich seit den Sechzigerjahren darüber hinaus das Interesse Quebecs, den Kontakt zum Mutterland Frankreich zu pflegen und sich in internationalen Organisationen französischsprachiger Länder zu engagieren.

An der Auseinandersetzung über die Unterrichtssprache in Schulen entzündet sich schließlich ein noch viel weiter reichender politischer Streit, der bis hin zu Forderungen nach politischer Unabhängigkeit von Kanada reicht. Der Besuch französischer Schulen wird 1977 in Quebec Pflicht für Kinder von Einwanderern. Tatsächlich sinkt die Zahl der Immigrantenkinder auf englischen Schulen in der folgenden Zeit drastisch – von 79,5 auf 27,3 Prozent. Im selben Jahr wird Französisch zur einzigen offiziellen Sprache Quebecs erklärt. Somit wird der Spieß umgedreht und dem Englischen in der Provinz auch offiziell der Status einer Minderheitensprache zugeschrieben.

Aufgrund seiner geographischen Lage übt Englisch jedoch verständlicherweise weiterhin starke Anziehungskraft vor allem auf Einwanderer in Quebec aus. Durch die Globalisierung und Integration Quebecs in das übrige Nordamerika ist Englisch als Zweitsprache und Sprache am Arbeitsplatz – zumindest in der Wirtschaftsmetropole Montreal – beinahe unumgänglich geworden Vor allem Immigranten erhoffen sich mit Hilfe der englischen Sprache größere Chancen, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen (vgl. Graphik). Aus diesen Gründen sind Regierung, Verwaltung und Dienstleistung zwar offiziell französischsprachig – tatsächlich aber immer noch zweisprachig.

Die Mehrheit der Kanadier außerhalb Quebecs belächelt zuweilen den hart erkämpften Sonderstatus der Provinz. Dennoch hat sich Quebec auf dem großen nordamerikanischen Kontinent bisher ganz tapfer geschlagen, trotz all der Widrigkeiten und spöttischen Bemerkungen der übrigen Kanadier über die »Gesellschaft mit besonderem Charakter«.

 

Zur weiterführenden Lektüre

Bollée, Annegret, Frankophonie IV. Regionale Varianten des Französischen außerhalb Europas I. a) Kanada, in: Holtus, Günter u.a. (Hg.), Lexikon der Romanistischen Linguistik V, 1, Tübingen (Niemeyer) 1990, S. 740-767.

Darbelnet, Jean, Le bilinguisme et les anglicismes. L’anglicisation de la langue française au Québec, ses causes et les remèdes possibles, in: ders., Le français en contact avec l’anglais en Amérique du Nord, Quebec (Les presses de l’Université Laval) 1976 (= Travaux du Centre international de recherche sur le bilinguisme A-12), S. 71-138.

Darbelnet, Jean, Étude sociolinguistique des contacts entre l’anglais et le français au Canada et en Nouvelle-Angleterre, in: ders., Le français en contact avec l’anglais en Amérique du Nord, Quebec (Les presses de l’Université Laval) 1976 (= Travaux du Centre international de recherche sur le bilinguisme A-12), S. 60-70.

Léger, Jean-Marc, La Francophonie: grand dessein, grande ambiguïté, Quebec (Hurtubise HMH) 1987.

Maurais, Jacques, Etat de la recherche sur la description de la Francophonie au Québec, in: Robillard, Didier de und Michel Beniamino (Hgg.), Le français dans l'espace francophone. Description linguistique et sociolinguistique de la francophonie 1, Paris (Champion) 1993, S. 79-99.

Stamer, Jutta, Nation Quebec? – Frankophone Ausnahme in Nordamerika, in: Kolboom, Ingo und Bernd Rill (Hgg.), Frankophonie – nationale und internationale Dimensionen, München (Hanns-Seidel-Stiftung) 2002 (= Meier-Walser, Reinhard C., Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 35), S. 89- 97.

Wolf, Lothar, Französische Sprache in Kanada, in: Becker, J., Henning Krauß, Ilse Lichtenstein-Rother (Hgg.), Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg. Sprach- und Literaturwissenschaftliche Reihe 32, München (Vögel) 1987.


Bevölkerung und Sprache der Provinz Quebec


1608 Gründung der Provinz Quebec durch Franzosen

1653 2000 Einwohner

1763 65.000 Franzosen in Quebec

1840 Kanada wird offiziell gegründet. Französisch wird als zweite Amtssprache neben Englisch im Land geduldet.

1871 die Provinz Quebec hat 1.191.516 Einwohner

1931 Das britische Parlament verabschiedet das Statut von Westminster, wodurch Kanada formal die Unabhängigkeit verliehen wird. England behält sich jedoch das Recht von Verfassungsänderungen vor.

1969 Kanada wird offiziell zweisprachig. Das Englische und Französische gelten als formal gleichberechtigt.

1977 Französisch wird einzige offizielle Sprache in Quebec dank des loi 101

1982 Mit dem Canada Act verliert England seine letzten Mitspracherechte. Kanada ist nun erstmals gänzlich unabhängig von seinem Mutterland

2005 Quebec zählt heute über 7,5 Mio. Einwohner, davon sind 80 Prozent Frankokanadier, 11 Prozent Anglokanadier und 9 Prozent andere Nationalitäten

Zum Vergleich: Die Einwohnerzahl Kanadas liegt derzeit bei 32,2 Mio.




Aus unserer fünften Ausgabe – Juni 2005

Regisseurin sein in Afrika


von Hanna Schofeld

Afrikanische Regisseurinnen kamen in den vergangenen 20 Jahren nicht vor. Eine ihrer  berühmtesten Vertreterin, Fanta Régina Nacro, gibt dem Rollenverständnis die Schuld daran: Die Regieführung wurde als Männerberuf verstanden, was es den Frauen schwer machte, sich in diesem Genre zu etablieren.

Das afrikanische Kino wird bedeutender. Das lässt sich schon an einem Interview ablesen, das Dieter Kosslick der Berliner Tageszeitung taz gab. Darin äussert sich der Berlinale-Chef dahingehend, dass der diesjährige afrikanische Fokus des Kinofestivals auch künftig ein Schwerpunkt sein könne. Außer in Berlin wurden dem afrikanischen Kino deutschlandweit wie auch auf internationaler Ebene verschiedene Festivals gewidmet. Obwohl die Frage der Bekanntheit afrikanischer Filme wegen des Präsenzmangels auf den großen Leinwänden und vor allem auch in afrikanischen Kinosälen selbst (aufgrund der fehlenden filmischen Infrastruktur und Finanzierungsschwierigkeiten) ein heiß diskutierter Punkt bleibt, sind Namen wie Sembene Ousmane, Med Hondo, Souleymane Cissé und Mama Keita einem interessierten Publikum ein Begriff.

Auffällig ist jedoch, dass man in Rezensionen über afrikanische Filme seltsam wenig bis überhaupt keine Frauennamen vorfindet, wenn sich diese nicht explizit um "Afrikanische Frauen hinter der Kamera" drehen. Auch bei den erwähnten Festivals werden, wenn es um das afrikanische Kino geht, vor allem Beiträge männlicher Regisseure gezeigt. Zwar zeichnet sich seit Ende der achtziger Jahre die Tendenz ab, eine "feminine Dimension" in das Programm der Filmfestivals mit aufzunehmen, wie zum Beispiel 1989 im Rahmen des Vues d'Afrique Film Festivals von Montreal oder 1991 während des FESPACO (afrikanisches Filmfestival in Ouagadougou, Burkina Faso) welches die Plattform Frauen, Kino, Fernsehen und Video in Afrika einrichtete. Doch trotz der wachsenden Präsenz von Regisseurinnen auf schon anerkannten Veranstaltungen kristallisiert sich die Spaltung des afrikanischen Kinos in ein männliches und ein weibliches heraus. Diese Tendenz ging durch die Etablierung eigenständiger, nur Frauen gewidmeter Festivals hervor, beispielsweise Festival International du Film de Femmes im französischen Créteil oder das African Women's Film Festival, das im vergangenen Jahr im südafrikanischen Johannesburg statt fand. Hier stellt sich die Frage, wie es dazu kam, dass Filmemacherinnen und ihre Werke zunächst so wenig Resonanz in den (oft westlichen) Medien gefunden haben. Sind sie denn erst seit Ende der achtziger Jahre in der afrikanischen Filmlandschaft aufgetaucht?


Nein: 1963, zu Beginn der Entwicklung des afrikanischen Kinos nach der Unabhängigkeit vieler afrikanischer Staaten von den Kolonialmächten, drehte Thérèse Sita-Bella den dreißigminütigen Dokumentarfilm Tam Tam à Paris (Kamerun). Es folgten Arabia – a village story von Efua Sutherland (Ghana, 1967, ebenfalls ein Dokumentarfilm), Monangambee von Sarah Maldoror (1970, Angola, Maldoror stammt ursprünglich von der französischen Antilleninsel Guadeloupe, wird aber durch Präsenz und Arbeit in unterschiedlichen Ländern des afrikanischen Kontinents als afrikanische Filmemacherin betrachtet) und La Passante (1972, Kurzfilm) sowie Fad'jal (Senegal, 1979) von Safi Faye. Dies zeigt, dass Frauen hinter der Kamera sehr wohl von Beginn an mit dabei waren.

Allerdings sticht hervor, dass es sich bei diesen Werken um Kurz-, und dann zumeist Dokumentarfilme handelt. Hier lässt sich möglicherweise eine Antwort auf die oben gestellte Frage fehlender weiblicher Präsenz in den Medien finden. Im Bereich der Filmkritik nehmen im westlichen Raum jene von Spielfilmen im Gegensatz zu Dokumentar- oder Kurzfilmen einen weitaus größeren Platz ein. Hinzu kommt, dass der afrikanische Film fast ausschließlich von westlichen Fachleuten bewertet wird - ein weiterer umstrittener Punkt, der von afrikanischen Filmemachern opponiert wird. Es wird klar, dass der afrikanische Film durch einen westlichen Filter hindurch betrachtet wird, ohne seine jeweiligen Besonderheiten zu berücksichtigen, wozu zum Beispiel eine individuelle Entstehungsgeschichte gehört. Daher werden die Werke afrikanischer Regisseurinnen meist nicht berücksichtigt.


Desgleichen gilt es zu hinterfragen, warum Frauen gegenüber Männern eine viel geringere Anzahl an Spielfilmen geschaffen und den ersten erst sehr viel später hervor gebracht haben. Zwischen Borrom Sarre (1963, Senegal), erster afrikanischer Spielfilm, von Sembene Ousmane, und Kaddu Beykat – Lettre Paysanne (1975, Senegal), dem ersten Spielfilm, der von einer Afrikanerin, Safi Faye, geschaffen wurde, liegen zwölf Jahre. Berühmteste afrikanische Regisseurin ist derzeit Fanta Régina Nacro aus Burkina Faso, welche mit zahlreichen Kurz- und Dokumentarfilmen wie Bintou (2001, Burkina Faso), Le truc de Konaté (1998, Burkina Faso) und Puk Nini (1995, Burkina Faso) verschiedene Preise gewonnen hat. Auf die Frage hin, warum sie erst im vergangenen Jahr ihren ersten Spielfilm La nuit de la vérité drehte und wie sie sich im Allgemeinen die »Verspätung« afrikanischer Regisseurinnen auf dem Spielfilmmarkt erklärt, verweist sie als Ursache auf das Wirken traditioneller Rollenschemata im afrikanischen Filmgeschäft. Bereits an der Filmschule INAFEC (l'Institut Africain d'Etudes Cinématographiques) in Burkina Faso, an welcher sie ihre Ausbildung absolvierte, würden Frauen automatisch an die »typisch weiblichen Tätigkeitsbereiche«  wie dem Schneiden des Filmmaterials und dem Verfassen von Drehbüchern verwiesen. Der Platz des Regisseurs war stets den Männern vorbehalten. Zudem sehen sich Frauen, die hinter der Kamera stehen, oftmals mit den Erwartungen konfrontiert, die man an sie aufgrund ihres Geschlechts richtet. Die eingangs erwähnte tendenzielle Unterscheidung zwischen männlichem und weiblichem afrikanischen Kino, sowie das besondere Augenmerk, welches man neuerdings weiblichen Werken widmet, ziehe oft eine Festlegung auf bestimmte Themen nach sich. So beklagen sich afrikanische Regisseurinnen, dass es sich bei Angeboten vornehmlich um feministische Themen handele, sie selbst aber als Geschichtenerzählerinnen wahrgenommen werden und eine große Spannbreite an Themenbereichen bearbeiten wollen. Die Filmemacherinnen unterliegen somit einer doppelten Einschränkung, die sowohl den Zugang zum Beruf als auch die Inhalte ihrer Arbeiten betrifft. Betrachtet man die Diskussion um die Besonderheiten afrikanischer Filmemacher (beispielsweise was die Herkunft oder die Themenwahl betrifft), so erweitert sich diese bei Regisseurinnen um die Frage nach dem spezifisch Weiblichen ihrer Werke. Es bleibt zu beantworten, ob es für die afrikanischen Filmemacherinnen immer so schwierig sein wird, einfach »nur« Regisseurin zu sein.

Fotos:

http://www.clapnoir.org/portrait/, www.laboratorioimmaginedonna.it/, http://www.lefaso.net/article.php3?id_article=5145&id;_rubrique=65

rencontres verfolgt ausschließlich gemeinnützige und nicht-kommerzielle Zwecke, falls Sie etwas gegen die Abbildung dieser Bilde in unserem Magazin einzuwenden haben, schreiben Sie bitte an: frankophonie@rencontres.de




Aus unserer vierten Ausgabe - März 2005

Afrika in Saarbrücken


von Marc-André Schmachtel

Keine ländliche Idylle. Keine Großfamilie. Den gängigen Klischees über Afrika entsprechen zwar noch viele Filmemacher dieses Kontinents, doch immer mehr setzt sich auch eine moderne Sichtweise der Probleme des schwarzen Kontinents durch. Das wurde bei den vierten Afrikanischen Filmtagen in Saarbrücken deutlich. Dort standen das frankophone Schwarzafrika und der arabische Westen, der Maghreb, im Mittelpunkt.

Einen Überblick über das aktuelle Filmetreiben vermitteln jedes Jahr das Kino Achteinhalb und die Universität des Saarlandes, genauer das romanistische Institut, und laden Regisseure und Darsteller zu Vorträgen und Diskussionen ein.

Auch dieses Mal deckten die Filme ein breites Themenspektrum ab. So handelte beispielsweise der Film von Moussa Sene Absa Madame Brouette (Senegal, 2002) von der Rolle der Frau in dem westafrikanischen Land. Ganz in der Tradition des großen senegalesischen Filmemachers Ousmane Sembène wurde hier das Bild einer modernen Frau gezeigt, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz behauptet und nicht vom afrikanischen Macho vereinnahmen lässt, selbst aber auch nicht frei von Fehlern ist. Filmisch wie inhaltlich stach dieses Werk bei den Afrikanischen Filmtagen heraus.

Moi et mon blanc (Burkina Faso, 2003) von Pierre Yaméogo war ein weiterer Publikumsliebling. Die Geschichte eines in Paris studierenden Afrikaners, der in Geldprobleme kommt und in eine Drogengeschichte hineingezogen wird, aus der ihn ein weißer Kollege herausholt, lebte von der Situationskomik vieler Szenen, die jedoch im zweiten Teil etwas abflachte. Hier fliegen beide Freunde nach Burkina Faso, um den Dealern zu entkommen und erleben dort ebenfalls einige Abenteuer. Interessant für das deutsche Publikum war dabei insbesondere der interkulturelle Blickwinkel.

Daneben gab es zwei weitere Filme aus Schwarzafrika: Abouna–le Père (Tschad, 2002) von Mahamat Saleh Haroun, sowie von Mama Këita, Le onzième commandement (Guinea, 1998). Dessen neuer Film Le fleuve war eigentlich geplant, musste aber ausfallen, da zu wenig Kopien in Umlauf sind.

Den maghrebinischen Raum repräsentierte die tunesische Regisseurin Nejia Ben Mabrouk, die ihren Kurzfilm A la recherche de Shaïma (1991) vorstellte, in dem sie die Folgen des Ersten Golfkriegs auf die Bewohner analysiert.


Der "special guest" der Filmtage, der tunesische Regisseur Nouri Bouzid, konnte seinen jüngsten Film Poupées d'Argile nicht anschauen. In letzter Minute wurde ihm das Visum für Deutschland verweigert. Dem Genuss tat dies keinen Abbruch. Der Film, der auf diversen Festivals bereits ausgezeichnet wurde, beschreibt in wundervollen Bildern die Geschichte zweier Dorfmädchen, die in die Stadt als Hausgehilfinnen verkauft und dort ausgebeutet werden, sowie die ihres aus dem gleichen Dorf stammenden "Hehlers". Nouri Bouzid, einer der profiliertesten Regisseure des Maghreb-Raumes (u.a. Halfaouine, 1990, und zusammen mit Moufida Tlatli La saison des hommes, 2000), zeigt hier ein aktuelles Problem der tunesischen Gesellschaft, wobei Menschenhehlerei auch ein Problem Mitteleuropas ist, wenn man sich manchen Straßenstrich anschaut.

Unter den zahlreichen Gästen waren auch einige Afrikaner. Insbesondere bei Moi et mon blanc kam so etwas wie eine afrikanische Stimmung im Kino auf: Das afrikanische Publikum taucht in den Film regelrecht ein, einzelne Szenen werden direkt kommentiert, laute Zwischenrufe heizen die Atmosphäre an.

Nach Aussagen der Kinobetreiber war dieses selten so gut besucht. Es sieht also gut aus für die fünften afrikanischen Filmtage in Saarbrücken.

 

Fotos Moi et mon blanc, Poupées d'Argile von www.trigon-film.ch




Aus unserer dritten Ausgabe – Dezember 2004

Québec: Europaliebe auf Eis


von Claas Peters

Ende Februar liegt Québec noch unter einer dicken Schneeschicht. Man muss sich vorstellen: Eine Schneeschicht, die so dick ist, dass man überhaupt nur in den Städten ohne Schneeschuhe zu Fuß herumlaufen kann. Und doch ist dies wohl die eigentliche Jahreszeit, in der man den französischen Teil Kanadas besuchen sollte, wenn man ein tieferes Verständnis für ihn erlangen will. Wie sonst sollte der Besucher verstehen, warum Québec eine der höchsten Selbstmordraten der Welt hat, und warum die Haupteinnahmequelle der Huronenindianer noch heute das Anfertigen von traditionellen Schneeschuhen ist.

Wie soll man in den warmen Sommermonaten erahnen können, warum es in Montreal eine riesige, unterirdische "Stadt", die ville souterrain, gibt, rund 30 Kilometer lang, mit Kinos, Cafés und zahlreichen Geschäften, so groß, dass man sich verlaufen muss.

Außerdem kann man nur im Winter und am besten wohl in Quebec-Stadt das Wunder erleben, wie bei minus 25 Grad Celsius trotzdem alles völlig reibungslos funktioniert.

Und schließlich bekommt man erst dann, wenn einem der eiskalte Wind das Wasser in den Augenwinkel gefrieren lässt, eine ungefähre Vorstellung davon, was die ersten französischen Siedler, die üblichen religiösen Eiferer und abenteuerlustigen Pelzhändler, hier in den Wintermonaten durchleben mussten. Wobei sie außer mit den Temperaturen auch mit den Irokesen zu kämpfen hatten, die nicht nur lieber den Niederländern ihre Pelze verkauften, sondern den französischen Siedlern auch gerne die Schädel einschlugen. (Was ihnen übrigens bis heute nicht recht verziehen worden ist. Hier empfiehlt sich ein Besuch des Musée d'Archéologie de Pointe-à-Callière in Montreal, wo der Unterschied zwischen den "freundlichen" Huronen und den "feindseligen" Irokesen dem Besucher mit Hilfe von ausgestellten Kriegskeulen deutlich gemacht wird.)

Vielleicht sind diese Entbehrungen und Abhärtungen auch dafür verantwortlich, dass die Québécois nach fast 250-jähriger anglophoner Übermacht immer noch an ihrer Sprache und Kultur festhalten. Während in Montreal recht viel Englisch gesprochen wird, hört man in Québec-Stadt fast nur französisch und trifft auf viele Einwohner die, wohl auf Grund einer inneren Verweigerungshaltung, nur recht dürftig englisch sprechen. Tatsächlich hätte sich Québec zweimal fast von Kanada abgespalten, in der jüngsten Volksabstimmung 1995 unterlagen die Seperatisten mit weniger als einem Prozent.


So gilt Québec-Stadt als die französischste Stadt Nordamerikas und muss das regelmäßige Einfallen von Hollywood-Filmcrews erdulden, denen der Weg bis nach Europa zu weit war. (So wurde die Verhaftungsszene in Catch Me If You Can mit Leonardo di Caprio in der Basse-Ville von Québec gedreht.)

Außerdem leidet Québec beständig darunter, dass der Weg von Europa zu weit ist. So hatte Paris seiner weit entfernten, im Winter viel zu kalten Kolonie bei der Belagerung Québecs durch die Engländer zuerst ausreichende Unterstützung versagt, und nach verlorener Schlacht die gesamte Kolonie im "Verrat von Paris" leichtfertig an die Engländer abgetreten. Selbst als Québec sich bemüht hatte, einen Teil der Tour de France dort austragen zu lassen, wollte man in Frankreich den Athleten weder den langen Flug noch die Zeitverschiebung zumuten.


Den europäischen Besucher überkommt bei all der Liebe zu Europa etwas wie ein blöder Stolz. Bummelt er die Rue Saint Jean in Québec-Stadt herunter, auf der es einige Läden mit europäischen Spezialitäten gibt, und entdeckt dann in den Schaufenster liebevoll aufgebaut Dr.-Oetker-Schokopudding und fast wie in einer Galerie ausgestellt verschiedene Sorten Barilla-Nudeln, wird ihm schnell warm ums Herz. Und wenn man dann noch, auch auf der Rue St. Jean, erstaunlich viele Dollars in einen leichten Bierrausch investiert hat, muss man sich davor hüten, nicht ein Gespräch von europäischer Kultur und amerikanischer Fastfoodkultur anzufangen, in dessen Verlauf man dann zwangsläufig bei den US-amerikanischen Einreisebestimmungen und Michael Moore landet, bis man mit hochrotem Kopf nur noch beschämt schweigen kann.

So findet der Besucher, wenn er die Hochhausschluchten Montreals hinter sich gelassen hat, in Québec so etwas wie das "missing link" zwischen Amerika und Europa, den Punkt an dem Druck von außen und innen sich genau die Waage halten.

 

Fotos von Bertrand-Ludovic Charpentier und Siggi Goetz


Québec in Zahlen


von Claas Peters

Fläche: 1.540.680 Quadratkilometer, (das entspricht dem Vierfachen der Fläche Deutschlands und fast dem Dreifachen der Größe Frankreichs)

Klima: Die durchschnittlichen Temperaturen liegen im Januar bei -11,5 Grad Celsius, im Juli bei 19,3.(Berlin: -0,4 Grad bis 17,9 Grad. Paris: 3,1 Grad bis 18,7 Grad). Der Schneefall im ganzen Winter beträgt im Durchschnitt zwischen 3,5 und 4 Meter.

Einwohner: Rund sieben Millionen Québeker, fünf Millionen französischen Ursprungs, 350.000 britischer Herkunft, 137.000 indigener Herkunft. 80 Prozent der Einwohner leben in den städtischen Einzugsgebieten am St. Lorentzstrom, 83 Prozent sind frankophon, 10 Prozent englischsprachig.

Wirtschaft: Wirtschaftszentrum Montréal, etwa 3,5 Millionen Einwohner, Provinzhauptstadt Québec-City, 650.000 Einwohner.

Industrie: Holzverarbeitende Industrie (Bauholz und Papier), Bergbau (Aluminium und Eisenerz). Außerdem Luft- und Raumfahrtindustrie, Telekommunikation, Energie- und Pharmaindustrie

 

 

Extra

Schülerrubrik




Schirmherrschaft




Partner




Service
















Auszeichnungen



Alle Nominierungen