Aus der Praxis: Gay Marketing

(26.06.07)

Zielgruppen-Marketing, wie man es nicht machen sollte: Mit der Werbekampagne „It's only natural“ wollte sich das Schweizer Skigebiet Zermatt dezidiert seinen schwulen Besuchern empfehlen. Doch „sowohl interne wie externe Reaktionen haben uns gezeigt, dass sich nur wenig Leute für diese Aktion erwärmen konnten“, erklärte Tourismus-Chef Daniel Luggen. Man wolle nicht als ‚Schwulen-Kurort‘ abgestempelt werden, Zermatt stehe für ein sportlich-elegantes Publikum. Wiewohl künftig „auch homosexuelle Menschen selbstverständlich“ willkommen seien, wurde die Kampagne binnen Wochen wieder eingestellt. Ob solche Probleme auf dem deutschen Markt zu befürchten wären? Man weiß es nicht. „Im Vergleich zu den USA, England oder den Niederlanden ist die Gay Community in Deutschland als viel versprechendes Markt segment kaum erkannt worden“, sagt Michael Drescher, Chef der Gay-Marketing-Agentur Communigayte.
Das kommerzielle Interesse prominenter Markenartikler Anfang der 2000er Jahre war offenbar ein vorübergehendes Phänomen, das mit der Gleichstellung der homosexuellen Lebenspartnerschaften 2001 zusammenhing. Eine Zeit lang war das Thema von breitem öffentlichem Interesse. Angesichts einer liberal geprägten Gesellschaft, die homosexuelle Lebenspartnerschaften legalisiert hat und schwule Bürgermeister wiederwählt, haben Unternehmen, die Gay Marketing betreiben, auch heute kaum Widerstand aus der Hetero-Welt zu befürchten; dies zumindest konstatiert die Reisemarkt-Studie der Agentur Communigayte aus dem Herbst 2006. Dennoch wird die Gay-Community hierzulande kaum direkt adressiert – weder klassisch noch im Dialog.
Dabei ist das Umsatzpotenzial vorhanden. Die Rede ist, konservativ geschätzt, von 5,5 Millionen Menschen, rund sieben Prozent der Bevölkerung, deren ausgeprägte Konsumfreude ebenso verbrieft ist, wie das überdurchschnittliche Einkommen und viel Freizeit. Die aktuelle Travel-Studie attestiert den schwul-lesbischen Deutschen sogar, die weltweit meistversprechende Zielgruppe der Reisebranche schlechthin zu sein. Das traditionell „wanderlustige“ Volk gab im Jahr 2005 über 58 Milliarden Euro für Reisen aus – und die Homosexuellen unter ihnen reisen Communigayte zufolge noch mehr als ihre Mainstream-Mitbürger. Kein Wunder, meint Michael Drescher: „Gays haben im Durchschnitt ein höheres, verfügbares Einkommen im Vergleich zu Heterosexuellen, Partnerschaften bestehen oft aus Doppelverdienern ohne Kinder.“ 94 Prozent der (homosexuellen) Befragten gaben an, in ihrer Freizeit mindestens eine längere Reise (mehr als fünf Übernachtungen) pro Jahr zu unternehmen; 79 Prozent verreisen jährlich mindestens zweimal mehr als fünf Nächte, 22 Prozent viermal oder öfter. Und neben dem Christopher Street Day, der in vielen Großstädten opulent gefeiert wird, locken internationale Sport-Events wie die Euro-Games Schwule und Lesben in die europäischen Metropolen. Ähnlich fallen die Zahlen deshalb bei privaten Kurzreisen (weniger als fünf Übernachtungen) aus: 40 Prozent der Homosexuellen unternehmen „vier oder mehr“ solcher Trips pro Jahr.

Schwule reisen antizyklisch
Kaum überraschend gab die überwältigende Mehrheit (92 Prozent) an, dass sie lieber Airlines, Hotels und Autovermietungen in Anspruch nimmt, die als „gay-friendly“ gelten. Klare Präferenzen traten außerdem beim Reisetermin und beim Buchungsverhalten zutage: Vor allem Schwule sind wegen Kinderlosigkeit in der Regel nicht an Ferientermine gebunden – und meiden diese deshalb dezidiert für ihre eigenen Urlaube. „Das ist gut für alle Beteiligten“, sagt Drescher: „So könnten Fluggesellschaften und Hotels die drohende Flaute zwischen den Ferien mithilfe von Gay Marketing geschickt kompensieren.“ Wer das vorhat, muss die Community direkt ansprechen, denn Schwule und Lesben buchen ihre Flüge, Hotels und Mietwagen typischerweise selbst. Ob Tatsachen oder Vorurteile: Die bekannten Stereotypen über den Homosexuellen in puncto Einkommen und Konsumneigungen stellt die Studie nicht in Frage, weder das überdurchschnittliche Interesse – neben Reisen und Mobilität – an Themen wie Körperpflege und Kosmetik (Innofact / MediaLogics 2003: Coming out: Sind Schwule wirklich anders?), Mode und Design, noch an Essen und Trinken. Michael Drescher zufolge interessieren auch Haus und Garten sowie Haustiere, Telekommunikation, Internet, E-Commerce sowie Geldanlagen und Versicherungen. „Abgesehen von Anti-Baby-Pillen lässt sich wohl jedes Produkt an den Mann oder an die Frau bringen.“ Wie das Düsseldorfer Marktforschungspanel Innofact 2003 in einer Befragung des schwul-lesbischen Verbraucherpanels gayVote ermittelte, zeigen Homosexuelle typischerweise Interesse an hochwertigen Konsumgütern und ein erhöhtes Markenbewusstsein. Bereits im „Kaufverhalten schwuler Konsumenten“, einer gemeinsamen Studie der Agenturen BBDO und gofelix mit dem Kondomhersteller condomi, kam ihre besondere Offenheit für innovative Technologien heraus.

Die homosexuelle Welt ist komplizierter
Doch bereits seit der Veröffentlichung des „schwulen Konsumenten“ wissen Marketing-Verantwortliche auch, dass die homosexuelle Welt komplizierter ist. Zwar konsumieren Gays anders als der Otto-Normalverbraucher, und gemeinsame Erfahrungen wie Coming-out, Diskriminierungserfahrungen und weniger familiär geprägte Lebensperspektiven begründen eine starke, sub-kulturelle Identität. Doch innerhalb homosexueller Lebenswelten gibt es mehr Facetten, als Werbern lieb sein kann. So gilt als größter Globetrotter unter den fünf schwulen Konsumenten-Typen, die BBDO beschrieben hat, der ,preisbewusste Intellektuelle‘, der sein Geld trotz mittleren Einkommens nur unterdurchnittlich für Konsum ausgibt. In der groß angelegten Befragung mit Teilnehmern aus allen schwulen Lebensbereichen wurde deutlich, dass nur etwa 40 Prozent der männlichen Homosexuellen hinsichtlich ihrer Lifestyle-Orientierung zu den kurzfristig vielversprechenden Zielgruppen für strategisches Marken-Management gehören. „Das persönliche Coming-out führt offensichtlich zu einem bestimmten Konsumverhalten“, bilanzierte damals gofelix-Geschäftsführer Holger Linde. „So weist der Typ mit dem größten Modemuffel-Anteil auch den größten Anteil nicht offen lebender Schwuler auf.“ Drei Typen – 1 (hedonistisch – trendorientiert), 3 (markenbewusst – karriereorientiert) und 5 (preisbewusst – intellektuell) – folgen bei Konsum und Mediennutzung offenbar ähnlichen Mustern; 64 Prozent der Zielgruppe „männliche Homosexuelle“ prägen somit das verbreitete Bild des gayurban-Trendsetters, der heute Lebensstile kultiviert, die morgen Mainstream sind. Eine andere, zahlenmäßig zunehmende Gruppe Homosexueller, taucht jedoch in solchen Studien praktisch nicht auf: Fünf Jahre nach Einführung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften leben 16.000 Paare in eheähnlichen Verhältnissen, nicht wenige mit Kindern. Stilbildend verbreitet sich eine gewisse Bürgerlichkeit in der homosexuellen Community – was die werbliche Definition der Zielgruppe nicht leichter macht.

Die Frau, das unbekannte Wesen
Und so plastisch der klassische Schwule dem klassischen Mainstream-Hetero vor Augen steht, so wenig weiß die Welt über Frauen, die Frauen lieben. Als Zielgruppe sind sie praktisch unerforscht, kämpfen stattdessen auch in der Werbewelt gegen althergebrachte Vorurteile aus den ersten Tagen der Frauenbewegung: Opfermentalität statt lifestyliger Optimismus, Latzhose statt Label, trautes Kuscheln vor dem Fernseher statt Ausgehen und Konsumlust, so in etwa skizzierte die Zeitschrift Emma noch im März 2005 das lesbische Image-Problem mit der Werbung. Dabei weist einiges darauf hin, dass auch homosexuelle Frauen interessante Zielgruppen abgeben: Die eheliche Versorgungsgemeinschaft ist für sie noch immer keine typische Lebensperspektive. Lesben verdienen deshalb in aller Regel selbst, wenn auch, nach Einschätzung von Innofact-Beraterin Karin Hagemann, „immer noch schlechter als ihre männlichen Pendants – womöglich aufgrund der schwächer ausgeprägten Karriereorientierung“. Erst allmählich entdecken Unternehmen wie zum Beispiel das Möbelhaus Ikea das weibliche Paar als Testimonial. Und wo ist das Problem?, würde der typische Werbeverweigerer fragen. Tatsächlich wollen Homosexuelle umworben werden. Die Communigayte-Studie betont: „Die deutschen Schwulen und Lesben sehnen sich tatsächlich nach auf sie zugeschnittenen Botschaften“, was der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) sogar offiziell bestätigt: „Gegen die Verwendung von homosexuellen Motiven in der Werbung ist nichts einzuwenden“, sagt Renate Heike Rampf vom LSVD. Gerade vor dem Hintergrund nahezu universeller Produktinteressen können Unternehmen auf diesem Weg leicht starke Kaufanreize schaffen. Wem es dabei um den schnellen Euro geht, der sollte allerdings die Finger davon lassen. „Hinter dem Wunsch nach Werbung steht in erster Linie der Wunsch nach Integration, Berücksichtigung und Normalität“, sagt Gay-Marketing Berater Michael Stuber. Die Enttäuschung sei groß, so Stuber, wenn das als Statement verstandene Motiv als „knallharte Geschäftsnummer“ enttarnt – oder wie im Fall Zermatt – aus Opportunismus zurückgenommen wird.

Besser divers als direkt
Wer sich nachhaltig um seine schwulen und lesbischen Kunden kümmern will, erreicht einen Teil – und nach BBDO-Erkenntnissen, den interessantesten Teil – von ihnen mit geringen Streuverlusten über einschlägige Medien und Veranstaltungen. „Die Gay-Press stellt eine kostengünstige Alternative zu Massentiteln dar“, betont Michael Drescher, „aber auch das Internet, Communities oder Mailings spielten eine wichtige Rolle.“ Großveranstaltungen wie der CSD verzeichnen regelmäßig über eine Million Besucher, die viele Arten von Sponsoring begrüßen. Nicht ganz so rosig sieht es dagegen bei der direkten Kundenansprache aus: „Dem Direktmarketing gegenüber schwul-lesbischen Verbänden und Projekten stehen wir eher kritisch gegenüber“, sagt Renate Heike Rampf vom LSVD. ‚Rosa Listen‘ unterbindet aus gutem Grund das Bundesdatenschutzgesetz. Szene-Zeitschriften sind in den seltensten Fällen Kauftitel, sodass nur wenige Verlage ihre Abonnenten vermarkten könnten, so sie es überhaupt wollten. Online-Communities geben wiederum häufig ein stark sexualisiertes Umfeld ab. Den Königsweg beschreitet nach Ansicht von Michael Drescher, wer zielgruppengerechte Print-Anzeigen mit Dialog-Angeboten spickt, eine parallel geschaltete URL bewirbt oder Response-Elemente nutzt, um eine eigene Datenbank für Mailing-Aktionen aufzubauen. Damit vermeiden Unternehmen außerdem, ungewollt parteiisch dazustehen – ein Problem, das viele Unternehmen von allzu eindeutiger Werbung um Schwule und Lesben abhält. Die Lieblings-Airline der deutschen Gays, die Deutsche Lufthansa, zählt nach eigenen Angaben nicht nur Frauen und Männer, Junge, Mittelalte und Ältere sowie Gesunde und physisch oder geistig Behinderte zu ihren Fluggästen, sondern auch Menschen aller Nationen, Ethnien und Religionen. „Wenn man Marketing für eine bestimmte Gruppe macht, vernachlässigt man immer die anderen“, sagt Lufthansa-Sprecherin Amelie Lorenz. „Es fällt bei dieser Vielfalt, die wir übrigens sehr begrüßen, schwer, einer Gruppe den Vorzug zu geben.“ Die Deutsche Bank, DaimlerChrysler, Deutsche BP und Deutsche Telekom haben im Dezember 2006 die so genannte „Charta der Vielfalt“ unterzeichnet, um das Thema Diversity, liberale Unternehmenskultur und die Wertschätzung der Vielfalt im eigenen Mitarbeiterpool zu fördern – eine Strategie, dies sich mittelfristig auch in der Werbung niederschlagen dürfte. Und das ist gut so: Mehr Vielfalt im Marketing wird nicht nur dem Integrationsbedürfnis Homosexueller gerecht, last not least befreit es auch den Rest der Welt von lebensfremden Stereotypen.

Quelle: Anja Schnake für DIREKT MARKETING 03/07. Hier können Sie ein Probeabo der monatlichen Fachzeitschrift bestellen ...

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