Auf die Richtung kommt es an
"Wie wär's, wenn wir heute mal in den Schachclub gingen?", fragte Holmes eines Nachmittags. "In den Schachclub?", rief ich verwundert aus. "Ich wusste gar nicht, dass du ein Freund des Schachspiels bist, Holmes!" Ich bin kein gewöhnlicher", lachte Holmes, "Schach interessiert mich nicht als Spiel - Spiele mag ich im allgemeinen überhaupt nicht." "Aber was ist Schach denn anderes als ein Spiel?", fragte ich erstaunt. Holmes' Gesicht wurde ernst. "Im Schach gibt es mitunter Situationen, Watson, die denselben analytischen Verstand erfordern, wie dies viele Probleme des täglichen Lebens tun. Darüber hinaus hilft mir das Schachspiel sehr, all die Geisteskräfte zu schulen, die für logische Beweisführung im täglichen Leben so enorm wichtig sind." "Erzähl mir mehr darüber", erwiderte ich interessiert. "Um was es mir dabei geht, Watson, ist folgendes: Während einer Schachpartie richten beide Spieler ihr Augenmerk ganz fest auf die Zukunft. Jeder Spieler versucht, das zukünftige Geschehen so zu steuern, dass dabei ein Vorteil für ihn entsteht. Dasselbe gilt auch für die meisten Schachproblem herkömmlicher Art - z.B. Weiß am Zug setzt in soundso vielen Zügen matt. Das gesamte Bestreben des Spielers ist darauf aus, das zukünftige Geschehen zu steuern. Nun, ich habe vor guten Problemen dieser Art den größten Respekt - viele von ihnen sind wirklich raffinierte Kunstwerke - aber die darin enthaltenen Strategien, auch wenn sie noch so geistreich sind, nützen mir für meine eigene Arbeit nichts." "Es tut mir leid, aber ich tappe immer noch im dunkeln", antwortete ich. "Im Schach gibt es Stellungen", erklärte Holmes, "die für denjenigen, der Schach als Spiel betreibt, uninteressant sind - uninteressant in bezug auf zukünftige Ereignisse - die jedoch wichtige Anhaltspunkte dafür liefern, was in der Vergangenheit passiert sein muss." "Kannst du mir ein Beispiel nennen?", fragte ich Holmes und wurde immer neugieriger. "Ein anderes Mal", sagte Holmes und erhob sich. "Im Augenblick verspüre ich wirklich große Lust einen Abstecher in den Schachclub zu machen. Komm doch mit mir, Watson! Wer weiß, vielleicht kann ich dir dort an Ort und Stelle zeigen, was ich meine." Ich hielt die Idee für gut, nahm meinen Hut und wir machten uns auf den Weg hinüber zum Schachclub. Dort waren nur zwei Personen anwesend: Colonel Marston, den wir recht gut kannten und ein vornehmer, intelligent aussehender Herr, der uns durch seine angenehme und heitere Art auffiel. "Ah, Holmes!", sagte Marston und erhob sich von seinem Platz. "Darf ich Sie und Dr. Watson mit einem lieben Freund von mir bekannt machen, Sir Reginald Owen. Wir haben soeben eine phantastische, höchst ausgefallene Partie miteinander gespielt, die von ungeheuer wildem Spiel auf beiden Seiten gekennzeichnet war. Natürlich haben wir den Regeln entsprechend gespielt." "Lassen Sie mich mal sehen", sagte Holmes und betrachtete die Stellung.
Nord Süd
"Wie kommt es eigentlich, Marston, dass Sie immer, wenn ich Sie spielen sehe, mit den weißen Steinen spielen?, fragte Holmes. Marston lachte, doch plötzlich verzog er sein Gesicht. "Woher um alles in der Welt wollen Sie wissen, dass ich mit Weiß gespielt habe?", fragte er. "Ich bin mir ganz sicher, dass der letzte Zug schon lange bevor Sie und Watson eintrafen, ausgeführt worden ist. Deshalb frage ich mich, woher Sie das wissen?" "Wahrscheinlich hat dein Freund beobachtet, dass du eine weiße Figur in der Hand hältst", mischte sich Sir Reginald mit schelmischem Lächeln in das Gespräch ein. "Das würde ich aber nicht als Beweis gelten lassen", protestierte ich. "Es könnte sich dabei doch genauso gut um eine geschlagene gegnerische Figur handeln." "In der Tat", lachte Holmes, "hat Sir Reginald recht. Nach meinen Beobachtungen nimmt ein Schachspieler, der während einer Partie gedankenlos mit einer Figur herumspielt, dazu in neun von zehn Fällen eine seiner eigenen Figuren." "Wie kommt das?", fragte ich. "Das ist schwer zu sagen, Watson. Ich glaube, es handelt sich dabei um eine unbewusste Art von Höflichkeit. Man verspürt wohl eine gewisse natürliche innere Abneigung mit den Figuren des Gegners herumzuspielen. Doch wie auch immer, Tatsache ist, dass Spieler fast immer ihre eigenen Figuren in der Hand halten. Doch dies war keineswegs mein Anhaltspunkt. Colonel Marston hat seine Hand nämlich erst nach der Bemerkung von Sir Reginald geöffnet. Deshalb konnte ich gar nicht gesehen haben, ob Marston eine weiße oder eine schwarze Figur in der Hand hielt. Und selbst, wenn ich es gesehen hätte, dann wäre meine Schlussfolgerung nur eine von zwei Möglichkeiten gewesen und ich hätte Marston niemals mit voller Überzeugung gesagt, er habe mit weiß gespielt. Nein, meine Schlussfolgerung war viel zwingender. Ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass Marston mit den weißen Steinen gespielt hatte." "Aber woher denn?", wollte Colonel Marston wissen. Holmes antwortete mit einem scherzhaften Augenzwinkern: "Ich glaube wirklich, meine Herren, dass Sie bedeutend mehr Spaß haben werden, wenn Sie dieses kleine Rätsel alleine lösen. Wir werden uns sicherlich in den nächsten Tagen wieder einmal treffen, Marston. Sollten Sie bis dahin das Problem noch nicht gelöst haben, wird es mir ein Vergnügen sein, Ihnen die Lösung mitzuteilen. Aber ich fürchte, Sie werden enttäuscht sein, wie einfach alles ist." Marston und Sir Reginald vertieften sich sogleich in das Problem und begannen die wildesten Möglichkeiten zu diskutieren. Nach kurzer Zeit brachen wir auf, nicht ohne uns von unserem neuen Bekannten herzlich zu verabschieden. "Holmes", begann ich, als wir draußen waren, "ich platze vor Neugier. Woher wusstest du das?" "Darüber können wir uns heute Abend in aller Ruhe bei einer Partie Schach unterhalten. Was hältst du inzwischen von einem Besuch im Museum und anschließend gehen wir Abendessen zu Augustino?"
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Ein paar Stunden später waren wir wieder wohlbehalten daheim in der Baker Street. Holmes räkelte sich in seinem Lieblingsmorgenrock und rauchte seine so heißgeliebte Pfeife. "Ist es nicht ein herrlicher Zufall", freute er sich, "dass wir nach unserer doch sehr abstrakten Unterhaltung von heute Mittag so rasch in eine Situation geraten sind, in der die Retro-Analyse angewandt werden konnte?" "Was ist das eigentlich, eine Retro-Analyse?", fragte ich. "Nun, genau das, worüber wir gesprochen haben! Hast du inzwischen herausbekommen, woher ich wusste, dass Marston mit den weißen Steinen gespielt hat?" "Leider nein", musste ich eingestehen. "Zwar habe ich all die Methoden, die du mir beigebracht hast, angewandt. So habe ich z. B. ganze Zimmer gründlich durchsucht, konnte jedoch keinen einzigen Anhaltspunkt entdecken." Hier brach Holmes in schallendes Gelächter aus. "Das ganze Zimmer, Watson, das ganze Zimmer! Und das restliche Gebäude, hast du das genauso untersucht?" "Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.", gestand ich niedergeschlagen ein. "Mein lieber Watson", sagte Holmes und lachte noch lauter, "ich habe doch nur Spaß gemacht. Es war wohl kaum nötig, das ganze Haus zu untersuchen, nicht einmal das ganze Zimmer oder den Tisch oder gar die Spieler, das Schachbrett allein hätte genügt." "Das Schachbrett? Was war am Schachbrett denn so besonderes?" "Nun, die Stellung, Watson, die Stellung! Erinnerst du dich dabei nicht an etwas Besonderes?" "Ja doch, ich erinnere mich, dass ich die Stellung für äußerst ungewöhnlich hielt. Ich kann mir aber noch nicht vorstellen, wie man daraus ableiten soll, dass Marston mit Weiß gespielt hat." Jetzt erhob sich Holmes: "Stellen wir die Stellung doch noch einmal auf ... Nun", sagte er, nachdem er die Stellung von heute Mittag wieder rekonstruiert hatte, "kannst du jetzt nicht logisch ableiten, auf welcher Seite Weiß und auf welcher Schwarz gespielt hat?" Ich betrachtete die Stellung lang und ausführlich, fand jedoch keinerlei Anhaltspunkte. "Ist das jetzt ein Beispiel für das, was du Retro-Analyse nennst?", fragte ich. "Ein ausgezeichnetes Beispiel sogar", erwiderte Holmes, "wenn gleich auch ein recht einfaches. Doch sag, siehst du immer noch nichts?" "Nicht das Geringste", gab ich traurig zu. "Oberflächlich betrachtet, scheint Weiß auf der Südseite zu spielen. Doch das ist wirklich sehr oberflächlich. Die Partie befand sich ganz deutlich in der Endspielphase. Und da kann es durchaus vorkommen, dass einer der beiden Könige auf die andere Brettseite getrieben wird. Deshalb könnte Weiß praktisch auf jeder Seite gespielt haben." "Fällt dir denn wirklich überhaupt nichts an der Stellung auf, Watson?", fragte Holmes verzweifelt. Erneut betrachtete ich das Brett. "Nun, Holmes, da ist etwas, was wohl jedermann auffallen wird, der weiße Läufer bietet dem schwarzen König Schach. Allerdings erkenne ich nicht, inwieweit dies etwas darüber aussagt, auf welcher Seite Weiß spielte." Holmes strahlte triumphierend. "Alles sagt dies aus, buchstäblich alles, Watson! Bei Retro-Analyse muss man, wie der Name vermuten lässt, in die Vergangenheit zurückblicken. Klar, Watson? In die Vergangenheit! Da Schwarz gerade im Schach steht, was hätte also der letzte Zug von Weiß sein können?"
Nord Süd
Ich sah mir die Stellung erneut an und erwiderte: Nun, Weiß hätte seinen e-Bauern nach e5 ziehen können und hätte so ein Abzugschach ermöglicht. Dies setzt natürlich voraus, dass Weiß von Süd nach Nord spielt. Es ist aber auch möglich, dass Weiß umgekehrt von Nord nach Süd spielt, nämlich dann, wenn er als letzten Zug den weißen Bauern von d5 nach d4 gezogen hat. Ich weiß jedoch nicht, für welche der beiden Möglichkeiten ich mich entscheiden soll!" „Sehr gut, Watson, wenn aber das, was du soeben gesagt hast, stimmen soll, wenn der letzte Zug von Weiß entweder e4-e5 oder d5-d4 war, dann frage ich mich, welchen Zug wohl Schwarz unmittelbar davor gemacht haben kann?" Ich überlegte kurz und erwiderte: „Er muss wohl oder übel mit seinem König gezogen haben, da dies ja die einzige schwarze Figur auf dem Brett ist. Von b8 oder b7 kann er nicht gekommen sein, also muss er einem Schach auf a7 ausgewichen sein." „Unmöglich!" schrie Holmes. „Auf a7 hätten ihm gleichzeitig die weiße Dame und der andere weiße Läufer Schach geboten. Hätte die Dame als letzte gezogen und dabei Schach geboten, wäre der schwarze König bereits im Schach des Läufers gestanden. Hätte umgekehrt zuletzt der Läufer gezogen, um Schach zu bieten, wäre der König bereits vorher im Schach der Dame gestanden. Ein solch unmögliches Schachgebot wird in der Retro-Analyse als imaginäres Schachgebot bezeichnet."
„Ganz und gar nicht", lachte Holmes. „Du hast nur noch nicht alle Möglichkeiten in Betracht gezogen." „Aber Holmes, du hast doch gerade selbst nachgewiesen, dass Schwarz keinen möglichen letzten Zug gehabt hat!" „Das habe ich überhaupt nicht nachgewiesen, Watson." Nun wurde ich etwas erregt. „Jetzt mach aber einen Punkt, Holmes, du hast mir eben zu meiner großen Zufriedenheit gezeigt, dass der schwarze König keinen letzten Zug ausführen konnte." „Das ist zwar richtig, Watson, ich habe nachgewiesen, dass Schwarz zuletzt nicht mit seinem König gezogen haben konnte. Das heißt aber noch lange nicht, dass Schwarz überhaupt nicht ziehen konnte."
Hier begann ich an meinem Verstand zu zweifeln. „Also wirklich
Holmes", ich war der Verzweiflung nahe, „wenn Weiß als letzter gezogen hat, dann muss die gezogene Figur doch auch noch auf dem
Brett stehen. Schwarz konnte sie ja noch nicht schlagen! Figuren lösen sich aber nun einmal nicht in Luft auf, das müsstest auch du
wissen!"
Nord Süd
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