Eine hübsche Variante

 

Wenn ich die vorausgehende Geschichte in aller Ausführlichkeit geschildert habe, so geschah dies im Interesse jener Leser, die noch völlige Anfänger auf dem Gebiet solcher Schachprobleme sind. Zu jener Zeit befand ich mich selbst in der gleichen Lage. Allmählich habe ich jedoch immer mehr Erfahrung gesammelt mit dieser Art von logischer Beweisführung, und Holmes musste mir beim Lösen dieser schwierigen Probleme immer weniger Erklärungen geben.


Zwei Tage später erlebten Holmes und ich eine angenehme Überraschung: Wir erhielten den unerwarteten Besuch von Colonel Marston und unserem neuen Bekannten, Sir Reginald.
Wir freuten uns wie immer, wenn wir mit Colonel Marston zusammentrafen, denn er war ein kluger und sehr unterhaltsamer Zeitgenosse. Und Sir Reginald sollte uns immer sympathischer werden, je näher wir ihn kennenlernten.
Nachdem wir uns in gemütlicher Runde einen Brandy genehmigt hatten, sagte Marston: „Wir haben nicht allzu lange gebraucht, Holmes, bis wir Ihrem kleinen Geheimnis auf die Spur gekommen sind. Natürlich war das keine allzu große Leistung von uns, da wir die Partie selbst gespielt hatten. Nun gut, Holmes, ich habe diesen unorthodoxen Zug gemacht und meinen Bauern in einen Läufer umgewandelt. Wir haben allerdings recht lange nachdenken müssen, bis wir herausgefunden haben, dass, ausgehend von dieser Stellung, kein anderer Zug möglich gewesen war."
Holmes war entzückt und erhob sich: „Ich hab's gewusst, dass Sie es herausbekommen würden. Marston, ich hab's gewusst! Aber nun, meine Herren, möchte ich Ihnen von einem merkwürdigen Zufall erzählen. Die Stellung, die ich bei Ihrer Partie gegen Sir Reginald angetroffen hatte, weist eine verblüffende Ähnlichkeit auf mit einer Stellung, die ich vor etwa zwei Jahren in einem Schachclub in Kalkutta sah."


Und Holmes stellte die Figuren folgendermaßen auf:

 

Nord

Süd

 

Wie Sie sehen, meine Herren, besteht der einzige Unterschied darin, dass ein Bauer auf d6 statt auf e5 steht. Doch dieser kleine Unterschied macht es völlig unmöglich zu sagen, in welcher Richtung
Weiß spielt."

Wir schauten alle mit großer Neugier auf das Schachbrett. Marston äußerte sich zuerst: „Ich kann also wirklich nicht erkennen, inwiefern dieser kleine Unterschied von Bedeutung sein soll, Holmes.
Der einzige letzte Zug von Weiß ist ebenfalls das Schlagen eines Bauern von g2 nach h1, wobei sich der Bauer in einen Läufer umgewandelt hat."


„Nicht unbedingt, Marston; dieser Zug ist zwar eine Möglichkeit, aber nicht die einzige. Als ich die Stellung zum ersten Mal sah, hatte ich ganz spontan den gleichen Gedanken. Doch im gleichen Augenblick, in dem ich die Spieler überraschen und ihnen sagen wollte, in welche Richtung Weiß gespielt habe, erkannte ich plötzlich, dass es noch eine zweite, ebenbürtige Möglichkeit gab. Als einer der beiden Spieler gerade das Brett abräumen wollte, fragte ich ihn: "Mein Herr, ist in Ihrer Partie irgendein Bauer umgewandelt worden?"

Er hielt inne und wandte sich mir zu: "Nein, aber warum fragen Sie?" "Weil das bedeutet, dass Sie mit Weiß gespielt haben, erwiderte ich triumphierend. Die beiden Männer schauten mich sehr verwundert an, und erst als ich ihnen erklärte, wie ich darauf kam, hellten sich ihre Gesichter wieder auf."
Nun betrachteten wir alle die Stellung mit noch größerem Interesse. Und erneut begann Marston laut zu denken: „Ich kann es nicht sehen Holmes, nein, ich sehe es wirklich nicht! Wenn der letzte weiße Zug kein Bauernzug nebst Umwandlung war, dann muss einer der
beiden Bauern auf d4 oder d6 gezogen haben. Doch in beiden Fällen hätte Schwarz keinen möglichen Zug zuvor gehabt."
„Nicht richtig, Marston, das ist nicht richtig", erwiderte Holmes. „Weiß hat zuletzt tatsächlich einen dieser beiden Bauern gezogen. Ich will Ihnen sogar einen kleinen Hinweis geben, indem ich verrate, dass der Bauer auf d6 gezogen hat."

„Aber dann", meinte Marston, „hätte der Bauer von d5 kommen müssen, um das Schachgebot des weißen Läufers h1 zu ermöglichen. Doch welchen Zug hätte der schwarze König dann zuvor machen können? Das einzige Feld, von dem er hätte wegziehen können, ist a7, dort aber wäre er wiederum einem imaginären, d. h. einem unmöglichen Schach ausgesetzt gewesen."


Hier mischte sich plötzlich Sir Reginald ein. „Glänzend, Mr. Holmes, wirklich glänzend! Ich seh es nun! Weiß hat den Bauern nicht von d5 aus, sondern von e5 aus gezogen und schlug dabei einen auf d5 stehenden schwarzen Bauern en passant. Dieser schwarze Bauer kam unmittelbar zuvor von d7. Weiß wiederum zog davor seinen Bauern von e4 nach e5 und bot Schwarz dabei mit dem Läufer h1 Schach. Wiederum davor zog Schwarz seinen König von a7 nach a8, um dem Schachgebot des Läufers c5 auszuweichen. Da zu diesem Zeitpunkt auf d7 noch ein schwarzer Bauer stand, der ein gleichzeitiges Schachgebot der Dame verhinderte, war dies ein
möglicher Zug!"


„Das war für mich doch ein wenig zu schnell", bemerkte ich. „Könnten Sie das Ganze nicht noch einmal wiederholen?"


„Aber gerne", erwiderte Sir Reginald, „ein paar Züge früher sah die Stellung noch so aus", und stellte die Figuren um. Dann führte er langsam, Schritt für Schritt, die folgenden Züge aus und erreichte wieder unsere Ausgangsstellung:

 

 

1.Lb4-c5+  Ka7-a8
2.e4-e5+  d7-d5
3.e5xd6 e.p. matt

 

Und genauso hatte damals Holmes herausgefunden, in welche Richtung Weiß gespielt hatte.

 

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