Eine kleine Übung


Ein paar Tage später verbrachte ich mit Holmes einen Abend, den ich so schnell nicht vergessen sollte, denn ich lernte da mehr über Retro-Analysen als bei jeder anderen Gelegenheit. Das Thema interessierte mich ungeheuer, und so fragte ich Holmes: „Gehen eigentlich alle Retro-Analysen von einer Mattstellung aus?"
„Nein, überhaupt nicht", erwiderte dieser. „Die meisten nicht." Ich bohrte weiter: „Und das Problem heißt immer, in welcher Richtung spielt Weiß?"
„Meistens nicht", erwiderte Holmes. „Diese Frage wird äußerst selten gestellt. Ich bau dir mal zur Übung eine einfache Stellung auf, um dir den gewöhnlichen Stellungstyp zu zeigen.

 

 


Ich nenne das hier nur eine Übung, Watson, weil die Stellung wirklich zu einfach ist, um Problem genannt zu werden. Wie du siehst, ist keine der beiden Parteien matt gesetzt worden, auch im Schach steht niemand. Bekannt sei ferner, dass Weiß von unten nach oben spielt. Die Frage lautet nun: Angenommen, Schwarz hat zuletzt gezogen, welches war sein Zug, und welches
war davor der letzte weiße Zug?"
Ich überlegte kurz und sagte: „Holmes, es tut mir leid, dass du in mir einen so langsamen Schüler hast, aber dies scheint mir schon wieder eine unmögliche Stellung zu sein. Offensichtlich ist Schwarz
soeben einem Schachgebot auf a7 ausgewichen. Ich kann aber nicht sehen, wie Weiß seinen Läufer gezogen haben will, um das Schach zu bieten."
„Nicht schlecht, Watson, gar nicht schlecht! Ich stelle fest, du beginnst zu denken. Aber warum hast du diese hartnäckige Angewohnheit, immer zu vergessen, dass auch das Schlagen einer Figur
ein Zug sein kann?"


Und jetzt sah ich natürlich die Lösung. „Richtig, Holmes, richtig! Schwarz zog zuletzt mit dem König von a7 nach a8, wobei er eine weiße Figur schlug. Diese Figur muss zuvor auf der Diagonale g1-a7
gestanden haben und hat nach ihrem Abzug das Läuferschach ermöglicht. Und was für eine Figur konnte das gewesen sein? Offenbar ein Springer, der von b6 nach a8 gezogen hat. Somit zog
der schwarze König zuletzt von a7 nach a8, wobei er einen weißen Springer geschlagen hat."
„Richtig", sagte Holmes.
Plötzlich kam mir ein neuer Gedanke. „Holmes", fragte ich, „musste man bei diesem Problem wirklich wissen, in welcher Richtung Weiß spielt?"
„Natürlich", antwortete er. „Ohne diese Information gäbe es eine weitere Lösung: Ein weißer Bauer hätte sich soeben in einen Läufer umwandeln können."

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Ein paar Minuten später fragte ich Holmes: „Löst man Retro-Analysen eigentlich grundsätzlich so, dass man sich zuerst überlegt, welches der letzte Zug war?"


„O nein", antwortete Holmes, „bei vielen Problemen dieser Art lässt sich überhaupt nicht feststellen, welches der letzte Zug war. Trotzdem kann man einen Zug bestimmen, der irgendwann einmal in der Partie vorgekommen sein muss. Wann das allerdings genau war, lässt sich möglicherweise nicht mehr rekonstruieren, ist jedoch für die Lösung des Problems auch nicht wichtig."
„Kannst du mir nicht ein Beispiel zeigen?" fragte ich. Holmes überlegte kurz und stellte die folgende Stellung auf:


„Die Frage lautet: Auf welchem Feld ist die weiße Dame geschlagen worden?"
Ich sah mir die Stellung an und argumentierte wie folgt: „Ich stelle fest, Holmes, dass auf weißer Seite die Dame, beide Läufer und ein Springer fehlen. Zwei Figuren können von den schwarzen Bauern auf e6 und h6 geschlagen worden sein, wobei der erste Bauer von d7 nach e6 und der zweite von g7 nach h6 geschlagen hat. Die beiden weißen Läufer konnten sich nicht entwickeln, konnten also beide nicht von den schwarzen Bauern geschlagen werden. Und zwar
konnte sich der Läufer c1 nicht entwickeln wegen der Bauern b2 und d2, die noch nicht gezogen haben, und der Läufer f1 wurde von den Bauern e2 und g2, die ebenfalls nicht gezogen haben, auf seinem Ausgangsfeld festgehalten."
„Gut Watson", unterbrach mich Holmes, „es freut mich, dass du dies allein herausgefunden hast."
„Ganz einfach und elementar, mein lieber Holmes", und diesmal konnte ich spöttisch lächeln. "Doch leider hilft mir mein Verstand nicht viel weiter. Schön, wir wissen nun also, dass es sich bei den weißen Figuren, die auf e6 und h6 geschlagen worden sind, um Dame und Springer handelt. Die weiße Dame ist also entweder auf e6 oder h6 geschlagen worden. Mir ist jedoch nicht klar, warum die Dame zwingend nur auf einem der beiden Felder geschlagen werden konnte und der Springer auf dem anderen."
„Nun", sagte Holmes, „dann werde ich dir wohl wieder Tipps in Form von Fragen geben müssen. Bei der Lösung derartiger Probleme ist es wichtig, dass man sich selbst die richtigen Fragen stellt. So zum Beispiel, welche Figur wurde von dem Bauer auf b5 geschlagen?"
„Offensichtlich ein schwarzer Läufer", erwiderte ich.
„Und welches Ausgangsfeld hatte dieser Läufer?"
„c8 natürlich, denn der Läufer f8 zieht ja nur auf schwarzen Feldern umher."
„Richtig! Und nun kommt die Kernfrage: Welche Figur wurde zuerst geschlagen, der schwarze Läufer auf b3 oder die weiße Dame?"
„Das kann ich nicht sagen", erwiderte ich.
„Nicht? Dann versuch es doch einmal auf diese Weise: Wurde die weiße Dame geschlagen, bevor der weiße Bauer nach b5 geschlagen hat oder danach?"


Ich betrachtete die Stellung von neuem, und plötzlich ging mir ein Licht auf. „Die weiße Dame", sagte ich, „konnte nur über a2 ins Spiel kommen, somit musste zunächst der Bauer nach b3 schlagen, damit die Dame ins Spiel kommen konnte. Und da der Bauer den schwarzen Läufer geschlagen hat, wurde dieser Läufer also vor der weißen Dame geschlagen."
„Richtig", sagte Holmes, „ist aber damit unser Problem nicht gelöst?"
„Ich wüsste nicht wie."
„Nun, dann wäre die nächste Frage, die du dir stellen müsstest: Konnte der schwarze Läufer auf b3 geschlagen werden, bevor der schwarze Bauer nach e6 geschlagen hat?"
„Zunächst hat der Bauer nach e6 geschlagen, denn dann konnte sich der Läufer ja erst entwickeln."
„Richtig", sagte Holmes. „Nun hast du alle Teile des Puzzles, du musst sie nur noch zusammensetzen."


„Aha", sagte ich, „jetzt hab ich's. Auf e6 wurde eine weiße Figur geschlagen, bevor der schwarze Läufer c8 ziehen konnte, der danach seinerseits auf b3 geschlagen wurde. Der Läufer wiederum wurde auf b3 geschlagen, bevor die weiße Dame ins Spiel kam und ihrerseits geschlagen werden konnte. Somit war es nicht die weiße Dame, die auf e6 geschlagen worden ist. Mit anderen Worten: Zunächst wurde der Springer auf e6 geschlagen, dadurch konnte der schwarze Läufer ins Spiel kommen und wurde auf b3, geschlagen. Anschließend konnte die weiße Dame ins Spiel eingreifen, und sie muss somit die Figur sein, die auf h6 geschlagen worden ist. Die Lösung heißt also: auf h6 wurde die Dame geschlagen."
„Sehr gut, Watson", ermutigte mich Holmes. „Mit etwas mehr Erfahrung, denke ich, wirst du bald in der Lage sein, Retro-Analysen allein zu betreiben."

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