Jüngste Tochter des Großfürsten
Jaroslaw I. der Weise von Kiew und der Ingegard
von Schweden, Tochter von König
Olaf Schoßkönig
Lexikon des Mittelalters: Band I Spalte 656
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Anna von Kiew, Königin von Frankreich
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+ 1075/79
Jüngste Tochter Jaroslavs des Weisen von Kiev
Gemahlin Heinrichs I., wahrscheinlich seit 1051
Nach dem Tode Heinrichs
I. (1060), dem sie neben dem Thronfolger, Philipp,
noch zwei weitere Söhne, Robert
(+ um 1065)und
Hugo
den Großen, Graf von Crespy und Valois (bekannt als
Teilnehmer des ersten Kreuzzuges), geboren hatte, war sie an der Vormundschaftsregierung
beteiligt. Die in einer Urkunde des Jahres 1063 erscheinende Unterschrift
"Ana
reina"
ist eine Wiedergabe des lateinischen "Anna regina" mit
kyrillischen Buchstaben nach der französischen Aussprache.
Annas zweite Ehe
mit Raoul II., Graf von Vermandois, der ihretwegen seine rechtmäßige
Gattin verlassen hatte, erregte Ärgernis (Briefwechsel zwischen dem
Papst und dem Erzbischof von Reims).
ANNA VON KIEW - die einzige "Russin
* um 1024, + um 1090
Dritte Gemahlin Heinrichs I. (* 1008; König: 1031-1060) Heirat 1051
Anna ist die einzige
„Russin“ auf Frankreichs Thron. Hätte es zu ihrer Zeit eine Regenbogenpresse
gegeben, diese exotische Prinzessin aus den Steppen Rußlands hätte
Jahr für Jahr die Titelseiten geziert und unter zahlreichen Beinamen
- Anna von Kiew, Anna
von Rußland, Anna von Ruthenien,
Anna
aus der Ukraine, Anna von Esklavonien
- Seite um Seite gefüllt.
Heinrich hat beschlossen,
seine künftige Gemahlin im weitest enternten Winkel Europas zu suchen:
er fürchtet die plolitischen Verwicklungen einer "Blutsverwandtschaft",
die in seinem Elternhaus zu dauerhaftem Zwist geführt haben. Er entscheidet
sich für Anna von Kiew, denn sie
gilt als Schönheit. Darüber hinaus gibt es wohl keine heiratsfähjige
Prinzessin mit solch klanghaften Familienbeziehungen. Ihr Vater ist Großfürst
Jaroslaw von Kiew, den man als den "KARL
DEN GROSSEN Rußlands" bezeichnet. Ihre Mutter ist Ingrid
von Schweden und Norwegen. Jaroslaw,
einer der zwölf Söhne Wladimirs des
Großen, der sein Land zum Christentum bekehrte, herrscht
schon fast 35 Jahre über sein Großfürstentum. Anna
hat neun Geschwister, sechs Brüder und drei Schwestern. Jaroslaw
knüpft Heiratsallianzen in der ganzen Welt - von Byzanz bis Frankreich.
Alle Töchter werden Königinnen: Anna
in Frankreich, Elisabeth in Norwegen,
Anastasia
in Ungarn.
Ihre Familie prägt Anna:
Jaroslaw
"der Weise" ist ein großer Gesetzgeber, zugleich Schriftsteller
und sehr belesen. Er gründet zahlreiche Schulen. Das kürzlich
eingeführte Evangelium wird dort regelmäßig vorgetragen
und immer mehr gelebt. Anna
wird zeitlebens
um ein authentisch-christliches Leben bemüht sein. Sie wächst
in Jaroslaws Hauptstadt Kiew auf, einer
schönen, lebendigen Stadt, die man den "Sproß Konstantinopels"
nennt.
Die Heiratsverhandlungen dauern an - nicht zuletzt wegen
der riesigen Entfernungen. Ende 1049, Anfang 1050 entsendet Heinrich
eine erste Gesandtschaft nach Kiew, die Jaroslaws
Gefallen findet. Die Verlobten treffen sich in Senlis, wo die Heirat am
19. Mai 1051 stattfindet. Am gleichen Tag salbt Erzbischof Guy de Chatillon
Anna
zur Königin. Von solider Gesundheit und großer Schönheit,
berichten die Chronisten, sei die 27-jährige Königin. Heinrich
seinerseits hat die Vierziger erreicht.
Fühlt sich Anna
entwurzelt? In welcher Sparache verständigt sie sich mit ihrem Mann?
Fühlt sie sich wirklich von diesem Vierzigjährigen angezogen,
der immer irgendwo gegen aufsässige Rebellen Krieg führt?
Hat sie das auffallende Temperamant ihres Großvaters Wladimir
geerbt?
Wann immer sich ihr Gelegenheit bietet, entflieht Anna
- die Tochter der Weiten Rußlands - der engen Königsburg zwischen
den Seinemäandern nach Senlis, in die Stadt, so berichtet der Chronist,
die sie "um der Güte ihrer Luft, die man dort atmet ebenso liebt wie
um der angenehmen Zerstreuung der Jagd, an der sie besonderes Vergnügen
findet." Wenn sie nicht ihrem Ehemann auf Reisen folgt, ist Anna
Mittelpunkt einer recht bescheidenen Hofhaltung in Senlis, die sich vorwiegend
aus den Ehefrauen der Barone und der königlichen Offiziere zusammensetzt.
1053 bringt Anna einen Sohn zur Welt.
Sie muß auf den König einen gewissen Einfluß haben, denn
sie tauft ihn auf den im französischen Königshaus bisher ungewöhnlichen
Namen Philipp. Der byzantinische Königsname
soll an einen frühen Vorfahren ihrer Mutter, Philipp
von Mazedonien, erinnern. Philipp
folgen weitere Kinder, Robert, der
mit zehn Jahren stirbt, dann Hugues,
der künftige Graf von Vermandois, und eine Tochter Emma.
Die königliche Familie reist viel. Am 23. Mai 1059 ist sie in Reims,
wo Philipp - der jungen Tradition des
KAPETINGER entsprechend - zum Mitkönig gekrönt wird.
Seit ihrer Ankunft in Frankreich 1051 haben Anna
traurige Nachrichten aus ihrer fernen Heimat immer wieder böse überrascht.
1052 ist ihr Bruder Wladimir verstorben,
achtzehn Monat später ihre Mutter Ingrid.
Im Februar 1054 trifft es ihren Vater. Zwei Brüder sterben kurz darauf.
Am 4. August 1060 setzt sich die schmerzliche Serie fort. Anna
steht am Sterbelager ihres Mannes Heinrich
in Vitry-aux-Loges im Forst von Orleans. Die Situation ist problematisch:
der junge König Philipp I. ist
erst sieben. Anna ist erst seit kurzem
im Lande. Folglich wird Philipps Onkel
Baudouin V. von Flandern zum Vormund und Regenten ernannt. Um Unruhen vorzubeugen,
zeigt sich die königliche Familie in der Öffentlichkeit, bereist
die Städte Dreux, Paris, Senlis, Etampes, 1061 Compiegne, Reims und
Paris.
Während der ersten Jahres der Herrschaft ihres siebenjährigen
Sohnes spielt Anna zweifellos eine
herausragende politische Rolle. Sie ist eine dynamische Frau. Sie erfüllt
ihre Rolle als Königin-Mutter, nimmt an der Salbung ihres Sohnes teil,
unterzeichnet mit ihm die königlichen Verordnungen. Sie ist sehr fromm
und barmherzig, wie ein Brief Papst Nikolaus' II. belegt. Sie gründet
Kirchen und Klöster wie Saint-Vincent-de-Senlis. Aber ist dieses Leben
in christlicher Demut, im Halbschatten der Vergessenheit alles, was das
Leben ihr zu bieten hat? Sie verspielt ihren politischen Kredit in einer
tragischen Liebesaffäre. Urheber ist Raoul II., Graf von Crepy,
Valois und Vexin, ein intelligenter, mutiger, ehrgeiziger und skrupelloser
Mann. Er entführt Anna und beschuldigt
seine Ehefrau des Ehebruchs. Wie unwissend kann eine ehemalige Königin
sein, was weiß sie von den Machenschaften dieses Mannes, den sie
1062 heiratet? Die Geschichte ist zumindest eine ungewöhnliche Episode
im Leben einer Witwe, die Königin von Frankreich war. Und sie
wird zum Skandal, der die Beziehungen zwischen König und Königin-Mutter
schwer belastet, zumal die erniedrigte Ehefrau Raouls sich an den
Papst wendet. Eine Untersuchung findet statt, und Raoul wird aufgefordert,
sich von Anna, die die Kirche als Konkubine
betrachtet, zu trennen. Man stelle sich vor: eine ehemalige Königin
von Frankreich als Mätresse! Anna
und Raoul allerdings scheren die päpstlichen Blitze nicht und,
obgleich exkommuniziert, leben sie weiterhin zusammen. Und da Raoul
eine mächtige Persönlichkeit ist, versöhnt sich Philipp
1065 mit den zwei Schuldigen und empfängt sie bei Hofe. Zweifellos
ist Anna 1071 bei der Heirat ihres
Sohnes mit Bertha von Holland und der
Krönung ihrer Schwiegertochter anwesend. Im gleichen Jahr, im September,
stirbt Raoul in Montdidier. Und Anna?
Eine Legende berichtet, sie sei in die ferne Heimat zurückgekehrt.
Vielnmehr aber steht zu vermuten, daß sie ihre Tage in einem Kloster
bei Senlis um 1090 beschlossen hat.
Ihr Vater hatte gehofft, Anna
Ende 1042 mit HEINRICH III. zu vermählen,
die dieser aber zurückgewiesen hatte.
Neben Balduin V. von Flandern nahm mit der Königin-Witwe
Anna noch eine zweite Person maßgeblichen Einfluß
auf die Regierungsgeschäfte. Philipp
selbst brachte dies zum Ausdruck, als er in einer Urkunde für die
Pariser Abtei St-Gerain-des-Pres sagte: "Als König
Heinrich starb, habe ich, sein noch unmündiger Sohn
Philipp,
zusammen mit meiner Mutter die Königsherrschaft übernommen" (Prou,
Recueil, 40 Nr. 13). Tatsächlich war Anna
zunächst ständig am Hofe nachweisbar, bis ein unerhörter
Skandal die Welt des jungen Königs erschüttern sollte. Denn bereits
kurz nach dem Tode ihres Mannes hatte sie sich dem
Grafen Rudolf von
Vermandois zugewandt und ihn schließlich, wohl im Laufe des Jahres
1061, geheiratet. Diese neue Ehe war für Philipp
und den Grafen Balduin nicht ungefährlich, denn Rudolfs Herrschaftsbereich
bedrängte die Krondomäne im Westen wie im Norden und drohte zudem,
sie von Flandern abzuschneiden. Um die Verbindung mit Anna
eingehen zu können, hatte Rudolf seine damalige Frau kurzerhand
verstoßen. Die Angelegenheit wurde dem Papst vorgetragen und Rudolf
exkommuniziert.
Von nun an spielte Anna in der Regentschaft
keine Rolle mehr.
Ehlers Joachim: Seite 59,66
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"Die Kapetinger"
In welchen Dimensionen Heinrich
I. trotz aller Einschränkungen seines Aktionsfeldes gleichwohl
zu denken begann, zeigt das 1049, fünf Jahre nach dem Tod seiner ersten
Gemahlin, entwickelte Projekt einer zweiten Ehe mit Anna,
der Tochter des Großfürsten Jaroslaw
von Kiew. 1043 bot der Großfürst eine seiner Töchter
HEINRICH
III. an, doch die russischen Gesandten mußten Goslar betrübt
verlassen, weil der Vorschlag abgelehnt wurde. Ob es sich dabei um Anna
gehandelt hat, ist ungewiß.
Balduin V. hatte seinen Einfluß auf die Belange
des Königtums zunächst mit Königin-Mutter
Anna zu teilen, die offenbar als consors regni auftrat
und akzeptiert wurde (Prou, S. 40, Nr. 13), bis sie, wohl schon 1061, eine
zweite Ehe mit dem Grafen Rudolf von Valois schloß und daraufhin
vom Hof verdrängt wurde.
19.5.1051
1. oo 3. Heinrich I. König von Frankreich
1007/08-4.8.1060
1061
2. oo 2. Rudolf II. (Raoul) Graf von Valois
- 1074
Kinder:
1. Ehe
Philipp I. König von Frankreich
Nach Ende Mai 1052-29.7.1108
Hugo Graf von Vermandois
1057-18.10.1101
Robert
vor Juni 1054- um 1065
Literatur:
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Donnert Erich: Das Kiewer Russland. Kultur und
Geistesleben vom 9. bis zum beginnenden 13. Jahrhundert. Urania-Verlag
Leipzig Jena Berlin 1979 Seite 68 - Ehlers Joachim: Die Kapetinger.
W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Berlin Köln 2000 Seite 59,66,76 - Ehlers
Joachim/Müller Heribert/ Schneidmüller Bernd: Die
französischen Könige des Mittelalters. Von Odo bis Karl VIII.
888-1498. Verlag C. H. Beck München 1996 Seite 99,107,108,110,113,115,117,119
- Favier, Jean: Frankreich im Zeitalter der Landesherrschaft 1000-1515.
Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1989 Seite 30 - Glocker Winfrid:
Die Verwandten der Ottonen und ihre Bedeutung in der Politik. Böhlau
Verlag Köln Wien 1989 Seite 327 - Le Goff Jacques: Ludwig der
Heilige, Klett-Cotta Stuttgart 2000 Seite 20,799 - Mexandeau Louis:
Die Kapetinger. Editions Rencontre Lausanne 1969 Seite 148-149 -
Pernoud
Regine: Herrscherin in bewegter Zeit. Blanca von Kastilien, Königin
von Frankreich. Diederichs Verlag München 1991 Seite 55 - Treffer
Gerd: Die französischen Königinnen. Von Bertrada bis Marie Antoinette
(8.-18. Jahrhundert) Verlag Friedrich Pustet Regensburg 1996 Seite 81-83
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