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27.Mai.98 Jungle World
Behinderte Forschung
Die Bioethik-Konvention wird vorerst nicht von Deutschland unterzeichnet.

Freie Bahn für Thanatos
Singers deutsche Papageien sind flügge geworden.
Von Alexander Bogner

Zucht und Ordnung
Von völkischen Idealen zu biopolitischen Vorstellungen: Biopolitik und die "Neuen Rechten".
Von Udo Sierck

"Das eigentlich Lebendige" "

Die Ethikdiskussion in der Eugenik um 1900. 
Von Hans-Peter Körner 

Wissenschaftliche Revolutionen sind häufig mit Reflexionen über Konsequenzen dieser Umwälzungen für das Menschenbild und damit auch für die Ethik verbunden. Die aktuelle Bioethikdiskussion verdankt ihr Entstehen und ihre Brisanz einmal der molekularbiologischen Wende in den Biowissenschaften sowie der revolutionären Entwicklung der Informations- und Computerwissenschaften und den sich dadurch eröffnenden Anwendungshorizonten. 

Diese Diskussion erinnert an eine ähnliche Diskussion, die um die Jahrhundertwende in einer wissenschaftlich durchaus vergleichbaren Situation geführt wurde. Der Darwinismus hatte die Idee einer herausragenden Stellung des Menschen innerhalb des belebten Kosmos als "Krone der Schöpfung" endgültig zerstört. Der Mensch war nur das zufällige Ergebnis einer anonym waltenden Selektion von ebenfalls nur zufällig besser an die herrschenden Bedingungen angepaßten Variabilität. 

Der Triumph der naturwissenschaftlichen Methode in der Medizin verstärkte noch die Reduktion des Menschen auf das wissenschaftlich Erkennbare und Bestimmbare. Bald erhoben sich daher Stimmen, die forderten, daß aus der Tatsache der Evolution Konsequenzen für das menschliche Handeln gezogen werden müßten. Schon 1875 veröffentlichte Bartholomäus Carneri ein Buch, "Darwinismus und Sittlichkeit", in dem er forderte, daß Sittlichkeit und Erkenntnis übereinstimmen müßten. Während aber Carneris Buch noch eher ein Versuch war, die christliche Ethik zu retten, indem er sie ihres stiftungsethischen Ursprungs entkleidete, um sie auf ein angeblich naturwissenschaftliches Fundament zu gründen, schickten sich bald darauf Sozialdarwinisten aller Couleur an, eine neue Ethik der Stärke zu fordern, die in Einklang mit den Gesetzen der Evolution, mit dem "Überleben des Stärkeren" und der notwendigen "Ausmerze der Schwachen" stehen sollte. 

In Deutschland wurde diese Diskussion vor allem im Kreise Ernst Haeckels und seines Monistenbundes geführt. Gegen Ende der 19. Jahrhunderts war die Diskussion schon so diversifiziert, daß der Brite C.M. Williams eine "Übersicht der ethischen Systeme, die auf der Evolution gründen", veröffentlichen konnte. 

Die Diskussion erhielt eine weitere Dimension durch den Aufschwung der Genetik um die Jahrhundertwende. Hier schien sich plötzlich die Perspektive zu eröffnen, daß der Mensch nicht nur das passive Objekt evolutionärer Kräfte ist, sondern daß er seine weitere Entwicklung selbst in die Hände nehmen könnte, so daß er durch eine künstliche Zuchtwahl das zukünftige biologische Geschick des Menschen bestimmen würde. 

Die Wissenschaft, die sich mit einer so verstandenen Menschenzucht befaßte, war die von Francis Galton in England begründete Eugenik. Die Eugeniker befürchteten, daß die natürliche Selektion unter den Bedingungen der Vergesellschaftung zunehmend aufgehoben und sogar in ihr Gegenteil, die bevorzugte Selektion der "Schwachen" oder "Minderwertigen" verkehrt würde. Die Folge sei eine anwachsende Entartung der Kulturmenschheit, der nur durch eine verstärkte Förderung der "Hochwertigen" und eine verschärfte Ausmerze der "Minderwertigen", etwa durch Sterilisation, gegengesteuert werden konnte. Da solche Forderungen mit der christlichen Verpflichtung gerade den Schwachen gegenüber kollidierten, nimmt nicht wunder, daß fast alle Eugeniker Forderungen nach einer Korrektur der herrschenden Ethik mit in ihr Programm einbezogen. 

In Deutschland formulierte Alexander Tille als einer der ersten das letzte Ziel einer "Entwicklungsethik", wie er sie nannte, d.h. einer Ethik, die sich entwickelt hat und die aus der Tatsache der Evolution ihre Forderungen ableitet: "die Hebung und Herrlichergestaltung der menschlichen Rasse". Ähnlich formulierte Alfred Ploetz, einer der Gründerväter der deutschen Eugenik oder Rassenhygiene, wie er sie nannte, wenn er behauptete, Gesellschaft und Ethik empfingen allein "den Sinn ihrer Erhaltungs-Notwendigkeit von dem letzten und höchsten Begriff des Lebens (Ö), von der Rasse als der Entwicklungs-Einheit des dauernden Lebens, also dem eigentlich Lebendigen". 

Auffallend an all diesen Forderungen war der utopische Entwurf des Menschen, war die Verortung des letzten Wertes in einem hypothetischen, zukünftigen Abstraktum wie der Rasse, der menschlichen Art, die als das überzeitlich Existierende zugleich das eigentlich Lebendige sei. Heraus fielen aus einer solchen Ethik die aktuell lebenden und leidenden Menschen mit ihren aktuellen Bedürfnissen. Diese wurden nur als Träger hoch- oder minderwertiger Erbanlagen gesehen und eingebunden in ein Pflicht- und Opfersystem zugunsten einer zukünftigen Überart. 

"Rasse als Wertprinzip" hat Fritz Lenz, der spätere führende Rassenhygieniker im Nationalsozialismus, schon 1916 gefordert. Wilhelm Schallmayer schließlich, der andere Nestor der Rassenhygiene in Deutschland, stellte in seiner "generativen Ethik" (etwa "Zeugungsethik") eine Hierarchie ethischer Forderungen auf, deren Wert sich in erster Linie "nach ihrer generativen Gedeihlichkeit" (d.h. nach ihrem Nutzen für die Zeugung "höherwertiger Menschen"), in zweiter Linie nach ihrem "sozial dienstlichen Nutzen" für die Gegenwart und erst in dritter Linie nach ihrer "Anpassung an das individualistische Verlangen nach Vermeidung von Unlustgefühlen und Bewirkung von Lustgefühlen" bemaß. 

Höhepunkt und Niedergang erreichte eine solche Kollektivethik schließlich im Nationalsozialismus, wo sie in der Parole gipfelte: "Du bist nichts, Dein Volk ist alles." Über die Zeitläufte rettete sich aber die Utopie einer technischen Machbarkeit des Menschen als ethische Forderung, die der englische Eugeniker F. Schiller 1934 in seinem Aufsatz "Die Eugenik als sittliches Ideal" folgendermaßen beschrieb: "Wenn wir an der Höherentwicklung der Menschheit verzweifeln, so würden wir an der Sache des Fortschritts Verrat begehen und zugestehen, daß wir unseren affenähnlichen Vorfahren nicht das Wasser reichten. Denn diese sehnten [sic!] sich nach etwas Besserem und erreichten es." 


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