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Gomorra – Mafiöses aus Cannes

Bewegendes italienisches Kino lässt an der Croisette die Polizei-Sirenen heulen.

Filmstill aus Gomorra Drive-by-shooting im Mafia-Film Gomorra. DruckenSenden


Dieser Sonntag begann um kurz nach sieben. Schließlich galt es, rechtzeitig zur Frühvorstellung des mit Spannung erwarteten Films Gomorra von Matteo Garone im Grand Théatre Lumière zu sein – und vorher noch ein Pain au Chocolat einzuwerfen (angeblich sind die frühen Presse-Screenings in Cannes um 08:30 übrigens nicht dem redaktionellen Alltag geschuldet, sondern dem Wunsch der Veranstalter, beschickerte Journalisten früher von Partys loszuwerden). Gamorra hatte jedenfalls das Potential zum Sprengsatz – es handelt sich dabei um die Verfilmung von Roberto Savianos gleichnamigem Bestseller, für den der junge Schriftsteller zwei Jahre lang undercover bei der neapolitanischen Mafia gearbeitet hatte. Seit der Veröffentlichung des Buches lebt Saviano mit ständigem Personenschutz, das Aufgebot an Sicherheitskräften in Cannes war also enorm. Der knapp zweistündige Film hielt auch frühmorgens, was er versprach. Die völlig unreißerisch, gleichzeitig auf unprätentiöse Art einfallsreich inszenierte Darstellung einer alles durchdringenden Struktur, die mit Erpressung, Gewalt und oft schlicht als Ersatz für Sozial- und Pensionsversicherung kaum einen Ausweg aus ihren Fängen lässt, bewegte die Gemüter.

Der junge italienische Filmemacher Matteo Garrone Der junge Filmemacher Matteo Garrone.Die Anfangssequenz zeigt Jungmafiosi im Solarium, zwischen Männlichkeits- und Nagelpflege, geblendet von blauem Licht. Rot wird gleich eine wichtige Rolle spielen...
Kulisse des Films sind meist italienische Gemeindebauten in und vor Neapel, jene grausame Vorstadtarchitektur zwischen Autobahn und Gstetten, die aussieht wie Oberlaa nach einem Weltkrieg, bevölkert von Frauen, die meistens allein sind, weil ihre Männer und Söhne tot oder im Gefängnis sind, und deren Kindern. Alle arbeiten in Jobs, die irgendwie mit der Mafia zu tun haben – und die noble Alta Moda gehört da genauso zum alltäglichen Geschäft wie harte Drogen und das verschwinden lassen von Giftmüll in abgelegenen Grundstücken und ehemaligen Steinbrüchen.

Bereits junge Teenager werden als Drogenkuriere angeheuert, entscheiden in der Volksschule ihre Bandenzugehörigkeit. "Jetzt bist du ein Mann", sagt ein Mafia-Boss, nachdem er einem 12-Jährigen mit Schutzjacke eine Kugel in die Brust gefeuert hat. Den resultierenden Bluterguss betastet der Junge wie einen Orden, der ihm verliehen wurde. Man schämt sich, Der Pate jemals cool gefunden zu haben, wenn man sieht, wie Teenager Al Pacino in Scarface imitieren, während sie mit Waffen für den Ernstfall trainieren. In den teuren Autos läuft krachende neapolitanische Dorf-Disco-Musik um Liebe und Leid, im Haushaltsmixer wird Kokain gestreckt, zwischendurch jemand brutal und rasch erschossen, während schlecht bezahlte ausländische Schwarzarbeiter in ehemaligen Steinbrüchen Fässer mit Giftmüll versenken, die tödlich sind, wenn sie einmal aufplatzen. In einer der schönsten und beängstigendsten Szenen des Films fahren kleine Volksschulkinder, auf Pölstern sitzend, um das Lenkrad zu erreichen, nach einem Arbeiterstreik eine Reihe von mit Giftmüll beladenen LKWs eine staubige Straße entlang…jene Kinder, denen es schon zehn Jahre später blühen kann, in teuren Nike-Sportschuhen per Bagger abtransportiert zu werden. Doch Filmemacher Matteo Garrone lässt einen Hoffnungsschimmer – zweien der im Mafia-Netz verstrickten Charakteren gelingt es, auszusteigen, wenn auch mit Verlust von Sicherheit und gutem Job.
Gerade bei einem so schwierigen Thema, bei dem Zeugenaussagen vor laufender Kamera so schwer zu bekommen sind, birgt ein Spielfilm wie Gomorra die Möglichkeit, sich realen Sachverhalten möglicherweise besser anzunähern, als jede reißerische Doku. Was für ein Film.

Nachsatz: Eigentlich gar nicht erstaunlich – aber das kleine, feine Linzer Filmfestival Crossing Europe bewies hier schon vor Jahren Weitsichtigkeit und widmete Regisseur Matteo Garrone ein Special Programme.


1 Kommentar zu "Gomorra – Mafiöses aus Cannes"
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  1. Alexander K.

    Ein tolles Buch, habs gelesen und war begeistert. Wenn der Film auch so spannend ist freue ich mich ganz besonders auf darauf.

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Artikel vom 20.05.2008, 11:15 | KURIER | Julia Pühringer

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