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Deutschland 1981

  

Über zurechenbares Bewußtsein
und das Schicksal von Aufsätzen

von David Hartstein

(in Studien von Zeitfragen September 1981)

 In einer deutschen Wochenzeitung für Politik, Kultur, Wissenschaft und Kunst fragt der Verfasser eines Aufsatzes »Schacht und Brüning Wegbereiter für Hitler« sich selbst und seine Leser:

»Warum sind Otto Wolff von Amerongen und Wilfried Guth so dumm? Haben sie nichts gelernt? 1932 hatten von Schleicher und seine Freunde, wenn auch unzureichend, versucht, Deutschland und die Welt zu retten. Daß sie damals scheiterten, ist in erster Linie auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Höllenmaschine der Brüningschen Finanzmaßnahmen und Notverordnungen die Situation so weitgehend verfahren hatte, daß es gar keine Rettung mehr geben konnte.
Heute befindet sich Deutschland noch in einer günstigeren Situation. Das Land wird von einem Kanzler regiert, der erst vor wenigen Tagen erklärt hat, er werde niemals eine Brüningsche Deflationspolitik durchführen. Weshalb sollte die Bundesbank noch einmal dieselben tragischen Fehler der Reichsbank begehen, weshalb Karl-Otto Pöhl in die Rolle Luthers schlüpfen, W. Guth in die von Oskar Wassermann, Wolff von Amerongen in die der dümmsten Feinde seines Vaters?«

 Wenn ein welterfahrener Mann wie Otto Wolff von Amerongen, der einmal mit stolzgeschwellter Brust ausgerufen hat: »Für den deutschen Kaufmann ist die weite Welt das Feld« - , wenn der in einem SPIEGEL-Interview von kapitalknappen Zeiten spricht und damit meint, das Fatum der Wucherzinsen auf den Welt-Geld-und Kapitalmärkten sich und anderen erklären zu können, dann ist die oben angeführte Frage nicht unberechtigt. - Aber handelt es sich hier wirklich um ›Dummheit‹?


Auskunft bei einem ›Klassiker‹

 Vor mehr als zehn Jahren, als wißbegierige Köpfe sich noch glühend dachten an der Frage, was Individuen in der von der Logik des Kapitals beherrschten »Lebenswelt« in die Fesseln des verdinglichten Bewußtseins hinein- und unter welchen Bedingungen wieder herausführt, konnten manche des Sinns eines Satzes wie dem folgenden noch inne werden:

»Denn der Kapitalismus ist einerseits die erste Produktionsordnung, die der Tendenz nach die ganze Gesellschaft durchdringt, so daß die Bourgeoisie demzufolge befähigt sein müßte, von diesem zentralen Punkte aus ein (zugerechnetes) Bewußtsein über die Gesamtheit des Produktionsprozesses zu besitzen. Andererseits jedoch machen die Stellung, die die Kapitalistenklasse in der Produktion einnimmt, die Interessen, die ihr Handeln bestimmen, es ihr trotzdem unmöglich, ihre eigene Produktionsordnung  - selbst theoretisch - zu beherrschen.«

 Der das schrieb, Georg Lukacs, nämlich in dem Aufsatz ›Klassenbewußtsein‹ in der Sammlung Geschichte und Klassenbewußtsein (Amsterdam, 1967), sagte zur Möglichkeit gesellschaftlichen ›Planens‹:

»Bourgeoisie und Proletariat sind die einzigen, reinen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft; d.h. nur ihr Dasein und ihre Weiterentwicklung beruht ausschließlich auf der Entwicklung des modernen Produktionsprozesses und nur von ihren Existenzbedingungen aus ist ein Plan zur Organisation der ganzen Gesellschaft überhaupt vorstellbar.«

 Von denen, die, manchmal auch nach (oberflächlicher) Lektüre der Schriften von Lukacs, aufbrachen zu den verheißungsvollen Horizonten ›sozialistischer Politik‹, wird mittlerweile nicht nur die ›Krise des Marxismus‹ festgestellt, sondern auch das Dahinscheiden des ›Proletariats‹ - oder, wie es bei den Jungsozialisten heißt: die ›Arbeiterbewegung‹ bzw. ›Lohnabhängigen‹. Und außerdem ist einem so berufenen Sprecher der ›Linken‹ in der (südhessischen) SPD wie Martin Wentz der Begriff von Arbeiterbewegung zu verengt; und zwar so, wie er beispielsweise in einem Organ wie WAS TUN verstanden wird, dem Wentz seine (postindustrielle?) Draufsicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in einem Interview folgendermassen erläutert: »Arbeiterbewegung ist nicht nur das, was Arbeiter tun. Wir haben eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen erlebt, die die Gruppe der Arbeiter verringert hat zugunsten der allgemeineren Gruppe der Lohnabhängigen. (Gemeint sind wohl Stadtdirektoren und alle Lohnabhängigen, die Sozial-Arbeit verrichten.) Die Arbeiterbewegung ist auch mehr historisch zu sehen: wer sind die gesellschaftlichen Säulen, die die sozialen und ökonomischen Belange des größten Teils der Bevölkerung, der Lohnabhängigen tragen. In Frankfurt gibt es nur noch 30.000 Arbeiter im klassischen Sinne, also eine absolute Randgruppe der Bevölkerung.«

 Tja, und diese absolute Randgruppe schafft es spielend, die Güterproduktion in Frankfurt und für alle ›Lohnabhängigen‹ in Frankfurt und darüber hinaus zu bewerkstelligen. Immerhin, etwas tut die ›absolute Randgruppe‹, die als solche nur einem ewigen JuSo erscheinen kann, der die Zusammensetzung von Ortsvereinssitzungen für einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft ansieht. ›Systemveränderer‹ sind solche JuSos schon lange nicht mehr - allenfalls könnte man sie ›Systemverzerrer‹ nennen. Verzerrt ist auch das Bewußtsein, das sich in breiten Kreisen der SPD-›Linken‹ seit einer Reihe von Jahren Geltung verschafft.


Bewußte Umwandlung?

 Kehren wir noch einmal zu Lukacs zurück und dem, was er zur Aufgabe des 'Proletariats' zu sagen hat:

»Da aber das Proletariat von der Geschichte vor die Aufgabe einer bewußten Umwandlung der Gesellschaft gestellt ist, muß in seinem Klassenbewußtsein der dialektische Widerspruch des unmittelbaren Interesses zum Endziel, des einzelnen Momentes zum Ganzen entstehen. Denn das einzelne Moment des Prozesses, die konkrete Lage mit ihren konkreten Forderungen ist ihrem Wesen nach der gegenwärtigen, kapitalistischen Gesellschaft immanent, steht unter ihren Gesetzen, ist ihrer ökonomischen Struktur unterworfen. Erst durch seine Einfügung in die Gesamtanschauung des Prozesses, durch seine Beziehung auf das Endziel weist es konkret und bewußt über die kapitalistische Gesellschaft hinaus, wird es revolutionär. Das bedeutet aber subjektiv, für das Klassenbewußtsein des Proletariats, daß die dialektische Beziehung von unmittelbarem Interesse und objektiven Einwirken auf das Ganze der Gesellschaft in das Bewußtsein des Proletariats selbst verlegt ist; statt sich - wie bei jeder früheren Klasse - jenseits des (zugerechneten) Bewußtseins als rein objektiver Prozeß abzuspielen.«


(Falsch) zugerechnetes Bewußtsein in der erfahrenen Geschichte

 Wendet man sich von dem nirgendwo zurechenbaren Bewußtsein mancher JuSos von der Arbeiterbewegung wieder den ›führenden Männern der Wirtschaft‹ zu, die ja, mindestens theoretisch, vom Begriff der ›Bourgeoisie‹ bei Lukacs erfaßt werden, so mag zur Aufhellung der Frage, ob Persönlichkeiten wie Wolff von Amerongen ›dumm‹ sind, eine (nicht nur philologisch interessante) Erinnerung an eine Veröffentlichung von Hans G. Helms dienen.

 Von ihm nämlich wurde im Mai 1968 im westdeutschen und schweizerischen Rundfunk ein Beitrag: »Freie Individuen und rationale Gesellschaft« gesendet; genauer gesagt: zum 150. Geburtstag von Karl Marx. Aus diesem Rundfunkbeitrag wurde ein Aufsatz: »Marxismus und Bundesrepublik«, der zusammen mit anderen unter dem Titel »Fetisch Revolution« im Juli 1969 als ›Soziologischer Essay‹ bei Luchterhand erschien.

 Der Verfasser hatte, im Lichte des letzten Lukacs-Zitats ganz so wie der Haltung Otto Wolffs von Amerongen besehen, eine sehr aufschlußreiche Entdeckung gemacht. Es lohnt, seine Präsentation des Entdeckten ausführlicher wiederzugeben:

»In Deutschland war der historische Moment zur Revolution im November 1918 gekommen. Doch während die revisionistische Sozialdemokratie den historischen Moment untätig verstreichen ließ, oder richtiger: ihre ungeheuer gewachsene politische Macht mißbrauchte, die proletarische Revolution zu verhindern, studierte die Bourgeoisie die Möglichkeiten, die SPD zum entscheidenden Instrument der Konterrevolution umzufunktionieren. Über das Ergebnis solcher Studien gibt ein Aufsatz mit dem Titel »Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus« Auskunft, der 1932 in den Deutschen Führerbriefen, einer internen, höchst vertraulichen Korrespondenz erschienen ist, die vom Reichsverband der Deutschen Industrie, dem Vorgänger des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), mitfinanziert wurde.

Ohne ideologische Winkelzüge definierte der
anonyme (Hervorhebung v. Verf., DH) Verfasser die Funktion, die die herrschende Klasse der antirevolutionären SPD im Konsolidierungsprozeß der bourgeoisen Herrschaft zugemessen hatte:

»Das Problem der Konsolidierung des bürgerlichen Regimes im Nachkriegsdeutschland ist allgemein durch die Tatsache bestimmt, daß das führende, nämlich über die Wirtschaft verfügende Bürgertum zu schmal geworden ist, um eine Herrschaft allein zu tragen. Es bedarf für diese Herrschaft, falls es sich nicht der höchst gefährlichen Waffe der rein militärischen Gewaltausübung anvertrauen will, der Bindung von Schichten an sich, die sozial nicht zu ihm gehören, die ihm aber den unentbehrlichen Dienst leisten, seine Herrschaft im Volk zu verankern und dadurch deren eigentlicher oder letzter Träger zu sein. Dieser letzte oder ›Grenzträger‹ der bürgerlichen Herrschaft war in der ersten Periode der Nachkriegskonsolidierung die Sozialdemokratie.«

 In einer Anmerkung hierzu gibt Helms die Fundstelle an:
›Anonymus‹: Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus. In: Deutsche Führerbriefe. Nr. 72, 73. Wiederabgedruckt in: Der Rote Aufbau. V. Jg., Heft 20. Berlin, 15. Oktober 1932, p. 934.

Einige Zeilen weiter kommt er zu dem Schluß:

»Die Bourgeoisie hatte sich als herrschende Klasse überhaupt nur mit Hilfe einer majoritären Arbeiterpartei, den Mehrheitssozialisten (SPD), wieder etablieren und an der Macht halten können. Der ›eigentliche Träger‹ der bourgeoisen Herrschaft war die SPD. Wenn die SPD trotz dieser günstigen Bedingunqen ihre Machtmöglichkeiten nicht im Interesse der Arbeiterklasse nutzte, so besagt dies, daß weder Parteiführung noch Parteigenossen eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft herbeisehnten.

...Solche offenen Worte aus der politischen Steuerungszentrale des deutschen Großkapitals ... bedürfen zur Ergänzung noch des Hinweises, daß mit den Führern auch die sozialdemokratischen Massen sich durch die ›Sozialpolitik‹ der kleinen materiellen Verbesserungen hatten korrumpieren lassen...

Als 1932 die Weltwirtschaftskrise über Deutschland heranbrach, geriet die von ihr weit stärker als das Proletariat betroffene sekundäre Arbeiterklasse (vor allem die kleinen Angestellten und Angehörigen dienstleistender Berufe) in einen von Jahr zu Jahr sich steigernden Radikalisierungsprozeß. Während produzierende Arbeiter in dieser Periode den an der Arbeiterklasse begangenen Verrat der SPD zu spät zu begreifen begannen und sich der KPD anschlossen, wanderten die Angestellten, kleinen Beamten und dienstleistenden Funktionäre zur NSDAP ab. Die Stimmenverluste der SPD ließen es der Bourgeoisie geraten erscheinen, die SPD 1932 in ihrer Funktion als ›Grenzträger der bürqerlichen Herrschaft‹ durch die NSDAP abzulösen, zumal diese ob ihres aus sozialistischen und traditionell kleinbürgerlichen, nun faschistischen Elementen gemischten Programms eine gute Chance besaß, auch einen erheblichen Teil der revisionistisch irregeführten produzierenden Arbeiter einzufangen.

Doch schon damals, 1932, sahen die kapitalistischen Politinstrukteure eine Situation voraus, in der auch die NSDAP wieder auszuwechseln wäre:

›Man wird in einer Zeit, der als Lebensfrage die Rekonsolidierung der bürgerlichen Herrschaft vorgeschrieben ist, dem Faschismus der nationalsozialistischen Bewegung, wenn nötig, mit Gewalt ein Ende machen müssen, aber nur, um den Nationalsozialismus selbst gleichzeitig in ein gesellschaftliches Organ zu verwandeln, das dieser Herrschaft zur Stütze dienen und ihrer staatlichen Ausgestaltung positiv eingegliedert werden kann.« (Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus, p 935)‹

»...Heute (fährt Helms fort) verdient an dem Zitat Beachtung vor allem die Formulierung von ›Faschismus der nationalsozialistischen Bewegung‹, die drei miteinander korrespondierende Deutungen gestattet. Erstens dachte das deutsche Monopolkapital nicht an eine grundsätzliche Preisgabe der faschistischen Bewegung, sondern lediglich an die Liquidierung des spezifisch Hitlerschen Faschismus; und man darf den Terminus ›Faschismus‹ hier getrost als gleichbedeutend mit ›Radikalismus‹ verstehen und nicht als grundsätzliche Ablehnung der faschistischen Ideologie. Zweitens wünschte das Monopolkapital eine in der Erfahrung breiter Wählerschichten der NSDAP vergleichbare Partei als deren Nachfolgeorganisation. Drittens begriff das Monopolkapital die faschistische Ideologie als ein der sekundären Arbeiterklasse adäquates Ersatzklassenbewußtsein, das die Entwicklung wirklichen Klassenbewußtseins mit Gewißheit verhindern würde, und die politische Organisationsform der ›Bewegung‹, die scheinbar über den Klassen stehend das gesamte Volk umgreift, als praktikabelstes Instrument der politischen Gängelung beider arbeitenden Klassen.«

  - An dieser Stelle mag ein kleiner Einschub angebracht sein. Es ist nicht nur von philologischem Interesse, wenn dem Schlußabschnitt des Aufsatzes von Helms eine Definition (-wiederum, und zum letzten Mal von Lukacs-) voran- und gegenübergestellt wird:

»Die rationell angemessene Reaktion nun, die auf diese Weise einer bestimmten typischen Lage im Produktionsprozeß zugerechnet wird, ist das Klassenbewußtsein.«

 Diese Definition, so darf vermutet werden, war Helms gegenwärtig, als er abschließend schrieb:

»Was den arbeitenden Klasse durch den sozialdemokratischen Revisionismus, durch objektive Veränderungen ihrer Lage und durch pseudosoziale materielle und ideelle Konzessionen an das ob des technisch-technologischen Gesamtprozesses gestiegene Existenzminimum verhüllt worden ist, für die herrschende Klasse ist es seit 1918 immer klar gewesen und 1932 mit diesen unmißverständlichen Worten ausgedrückt worden:

»Zwischen den beiden Möglichkeiten einer Rekonsolidierung der bürgerlichen Herrschaft und der kommunistischen Revolution gibt es keine dritte.« (Die soziale Rekonsolidierung...)


Die ›anonyme‹ Intelligenz der ›herrschenden Klasse‹
und die ›Individualität‹ der Erkenntnis

 Könnte die Schlußfolgerung, die Helms aus seinem Fund damals gezogen hat, uns die schlußendliche Auskunft geben über die problematische ›Intelligenz der herrschenden Klasse‹? Hat Hans G. Helms seinerzeit nach akribischem Suchen das ›Innerste‹ entdeckt, nämlich Intelligenz, Willen und Können der in der untergehenden Weimarer Republik über Deutschland herrschenden ›Klasse‹, ›Elite‹, ›Führung‹ oder ›Oligarchie‹, sozusagen ihre ›herrschenden Gedanken‹ (- wovon auch noch postum die These der Komintern von den ›Zwillingsbrüdern Sozialdemokratie und Faschismus‹ gerechtfertigt zu werden schien -)? Kurz: War das Klassenbewußtsein der ›Bourgeoisie‹ hier am Orte und im Vorgang seiner Bildung aufgespürt worden?

 Der Rahmen des in Frage stehenden mutet so wahrscheinlich an, daß man damals und heute geneigt sein könnte, mit Ja zu antworten. Wir wissen ja nicht zuletzt von Marx, daß »die Klasse, welche die herrschenden materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschenden geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.«

  Warum also sollte die herrschende materielle Macht in diesem einzelnen historischen Fall nicht über die ›Mittel zur geistigen Produktion‹ disponiert haben?

  - Weil der wirkliche Name des »anonymen Mittels zur geistigen Produktion« noch einen ungeklärten Rest an Zweifel, mindestens aber Erstaunen übrig läßt, wie aus den beiden im Anhang dokumentierten Aufsätzen unschwer deutlich wird.

 Nun, ein Jahr später, genau: im Oktober 1970 löste eine Veröffentlichung im Kursbuch 21 die Verblüffung aller Leser aus, die, ob sie den Aufsatz von Helms kannten oder nicht, bei ihnen Vermutungen, wie sie oben angedeutet wurden, nicht nur recht kunterbunt durcheinander wirbelte, sondern auch den infinitesimalen Unterschied zwischen den Gedanken eines ›Anonymus‹ der herrschenden materiellen Macht und der Erkenntnis eines konkreten Individuums ein für alle Mal geschichtlich sinnfällig machte.


Die Bestinformierten in Deutschland

 Nicht mehr ist jetzt die Rede von der ›herrschenden Klasse‹, sondern von Alfred Sohn-Rethel, der sich damals im Kursbuch den Lesern als Verfasser der beiden Aufsätze in den Führerbriefen vorstellte. Die Umstände der Veröffentlichung in der untergehenden Weimarer Republik erhielten nun durch dieses späte Sich-Zu-Erkennen-Geben ein abenteuerliches Aussehen.

 Daß der Verfasser nämlich kein bürgerlicher Wirtschaftswissenschaftler und politischer Analytiker ist, könnte einem beim Lesen der Aufsätze alsbald auffallen. Noch deutlicher als da wird das in der Sammlung von Analysen und Denkschriften, die Alfred Sohn-Rethel im Band 630 der edition suhrkamp »Ökonomie und Klassenstruktur des Faschismus« (1973) zusammengestellt hat. Jeder, der sich eine Vorstellung davon verschaffen will, was auf die ›Zweite Republik‹ zukommen kann, muß dieses Büchlein lesen. Was es mit dem Verfasser auf sich hat, soll er selber sagen:

»Das wirft die wichtige Frage auf, an welchen Stellen und aus welchen Quellen die Kenntnisse und Erfahrungen, die hier vorgelegt werden, gesammelt worden sind. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß unterm Faschismus alles politisch Wissenswerte nur noch hinter verschlossenen Türen vor sich geht und daß nichts Glaubhaftes mehr in den Zeitungen steht. Wer informiert sein und die Dinge wirklich verfolgen will, muß die entsprechenden Kontakte haben, und die gab es damals selbstredend nur in Berlin. Wir, d. h. eine Gruppe von etwa fünf Leuten, die einander vertrauen konnten, arbeiteten damals so, daß wir uns regelmäßig einmal in der Woche trafen, um die Informationen und Mutmaßungen, die jeder im Laufe der Woche gesammelt hatte, gleichsam auszupacken, miteinander zu vergleichen und zu analysieren. Zu dieser Gruppe gehörte Wolfgang Hanstein, Sekretär des Deutsch-Französischen Studienkomitees, in dessen Räumen in der Bendlerstraße wir uns der quasidiplomatischen Sicherheit des Ortes wegen trafen; Hugo Richarz von der Preußischen Hauptlandwirtschaftskammer; Wolfgang Krüger von der Reichswirtschaftskammer, moralischer Mentor von Robert Ley, dem ›Führer‹ der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront; Margret Boveri, eine ungeheuer kluge, vor allem außenpolitisch ausgezeichnet informierte Journalistin (Frankfurter Zeitung und Berliner Tageblatt) und ich, Assistent von Dr. Hahn im MWT (Mitteleuropäischer Wirtschaftstag) und Mitglied der Redaktionskonferenz der Deutschen Führerbriefe. Nach Möglichkeit traf ich mich auch mit Kontaktleuten aus Stellen, wo gerade Wichtiges vor sich ging, zum Mittagessen, um zusätzliche Informationen oder Bestätigungen zu erhalten.

Meine eigentlichen Einsichten in die Natur der faschistischen Diktatur und ihrer Vorbereitungen zog ich aus den Erfahrungen beim MWT, aber der Hauptteil der politischen Informationen ergab sich aus meiner Mitarbeit bei den Deutschen Führerbriefen. Es scheint deshalb unerläßlich, über diese einiges von dem zu wiederholen, was bereits im Kursbuch 21 gesagt worden ist. Vor allem, daß der Name zu Unrecht unmittelbare Assoziationen mit Hitler erweckt. Diese ›politisch-wirtschaftliche Privatkorrespondenz‹ war von Dr. Franz Reuter und Dr. Otto Heynen Ende 1928 in Köln gegründet worden, also zu einer Zeit, als die Nazibewegung fast von der politischen Tagesbühne verschwunden und noch gute anderthalb Jahre von ihrem Wiederanstieg entfernt war. Dennoch war die Namenswahl eine Inspiration, da dieses eigentümliche Organ auf seiten der großen Industrie, der hohen Finanz und der hohen Politik zu den Anfangssymptomen der kommenden Entwicklung gezählt werden muß.

Es hatte eine stetig ansteigende Zahl von Lesern, die Abonnenten sein mußten, da die Korrespondenz nicht öffentlich erhältlich war. Zu ihrer Leserschaft gehörten außer den ›Herren von der Wirtschaft‹ die oberen Reichswehrspitzen, Kabinettsmitglieder, führende Großagrarier, die Umgebung Hindenburgs etc. Die Führerbriefe waren also keine Pressekorrespondenz, und Journalisten waren von Empfang ausgeschlossen. Sie erschienen zweimal wöchentlich, und sämtliche Beiträge, abgesehen von den Leitartikeln, waren strikt anonym. Franz Reuter hatte hauptsächlich Verbindung mit Schacht, zu dem er freien Zutritt hatte und über den er 1933 eine Biographie veröffentlichte. Diese Verbindung wurde natürlich erst richtig wertvoll in der Nazidiktatur, als Schacht der finanzielle Berater und Vertrauensmann Hitlers wurde. Aber auch die Beziehungen zu Papen waren ergiebig und von großer Wichtigkeit in der Vorbereitungszeit der Diktatur, 1931 und 1932. Daß die Verbindung mit den Industrie- und Finanzkreisen nichts zu wünschen übrig ließ, versteht sich an Rande. Kurzum, es darf ohne große Übertreibung gesagt werden, daß die kleine Gruppe der Informationsbörse in der Bendlerstraße zu den bestinformierten Leuten im Deutschland der dreißiger Jahre gehörte. Die Kenntnis und Übersicht mußte gut sein, um die Chaotik und Unberechenbarkeit der Ereignisse und zugleich die treibende, aber verborgene Gesetzmäßigkeit einschätzen zu können. Das freilich gelang auch uns erst mit der Zeit und dann meist nur mangelhaft. Eine wirkliche Tiefenanalyse kann nur im Abstand gelingen. Aber ich muß sagen, daß ich die Position, in der ich mich damals befand, wegen des ungewöhnlichen Interesses, das sie bot, niemals verlassen hätte, wenn ich mir die Verhaftung durch die Gestapo, als sie drohte, sozusagen hätte leisten können. Sie drohte aus relativ trivialen Gründen, die mit meiner Tätigkeit als Geschäftsführer einer Ägyptischen Handelskammer in Deutschland - übrigens auch in der Bendlerstraße situiert - , die ich seit Anfang 1935 ausübte, zusammenhingen, aber die Untersuchung wäre zweifellos zu anderen Dingen vorgedrungen, die zu einem Todesurteil mehrfach genügt hätten.

Um aber noch einmal auf die politische Gruppe des Churchill-Lagers in London zurückzukommen, für die der Großteil des hier veröffentlichten Materials geschrieben wurde, so war die Zusammenarbeit hier auf spontane Freiwilligkeit gegründet; sie hatte in keiner Weise den Charakter eines Geheimdienstes. Für einen solchen habe ich niemals gearbeitet. Dagegen habe ich bis zu meiner Auswanderung aus Deutschland nacheinander mit drei illegalen sozialistischen Widerstandsgruppen zusammengearbeitet. Dagegen habe ich bis zu meiner Auswanderung aus Deutschland nacheinander mit drei illegalen sozialistischen Widerstandsgruppen zusammengearbeitet; zuerst, und zwar schon 1931-32, mit einer Gruppe in Hamburg, Überresten aus dem Hamburger Aufstand von 1923, mit der Dr. Joachim Ritter, später Professor für Philosophie in Münster, die Verbindung für mich hielt; danach, 1932/33, als die Verbindung mit Hamburg zu schwierig wurde, mit der Organisation ›Roter Sturmtrupp‹ unter Rudolf Küstermeier und Franz Hering, gestützt auf eine linkssozialistische Jungarbeitergruppe; und zuletzt, von 1934 bis zu meiner Emigration im Februar 1936, mit der Gruppe ›Neu Beginnen‹, die unter der Leitung von Eliasberg und Richard Löwenthal, damals Paul Sering, arbeitete. Von den Genannten sind nur Eliasberg und Rudolf Küstermeier nicht mehr am Leben. Außer ihnen sind noch Frau Dr. Margret Boveri in Berlin und Dr. Wolfgang Hanstein in Bonn-Godesberg über meine antifaschistische Aktivität im damaligen Zeitraum unterrichtet. Ich führe das an für den Fall, daß jemand meine konsequent antifaschistische Betätigung bezweifeln oder zum mindesten als beweispflichtig ansehen könnte, wenn er aus den nachstehenden Berichten ersieht, in welchem politischen Milieu sich meine offizielle Tätigkeit abspielte.

Ich bin auf diese Tätigkeit bereits in meinem Kommentar im Kursbuch 21 von Oktober 1970 zu sprechen gekommen, anläßlich des Wiederabdrucks jenes Artikels von mir aus den Deutschen Führerbriefen. Übrigens gibt es auch dafür, daß dieser anonyme Artikel tatsächlich von mir stammt, beweiskräftige Zeugen.

Die Chance, als unerkannter Marxist in eines der inneren Aktionszentren des Finanzkapitals zu gelangen, und noch dazu an einem solchen Knotenpunkte der Entwicklung, ergibt sich natürlich äußerst selten und kann dann sehr wertvoll sein, theoretisch sowohl wie praktisch. Nach der theoretischen Seite erhebt sich darum um so mehr die Frage, warum Aufzeichnungen und Analysen wie die vorliegenden so lange unveröffentlicht und ungenutzt gelassen worden sind. Der Grund ist, daß ich viel weiter reichende Pläne im Sinne hatte, als sich dann sowohl theoretisch wie praktisch für mich als realisierbar erwiesen haben.

Vor allem die theoretischen Voraussetzungen stellten sich als viel tiefer gehend heraus, als ich gedacht hatte, und sind nach und nach erst zur Ausarbeitung und vollen Klärung gelangt auf der Basis, die in meinem 1970 erschienenen Buch »Geistige und körperliche Arbeit« Ausdruck gefunden hat.

Zu dieser Verzögerung gesellte sich der Zwang von Lebensumständen, die mich zu langjähriger Unterbrechung der Fortarbeit nötigten und mir schließlich keine Wahl ließen, als die ursprünglichen Pläne aufzugeben. So habe ich mich nunmehr entschlossen, kurzerhand die alten Schriftstücke mit den eingangs beschriebenen Modifikationen als Materialien zum Studium des Nazifaschismus der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.«