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Potpourri mit Giftpilzen: Birgit Vanderbeke entführt ein weiteres Mal in die französische Provinz


Von Lea Stephan, erschienen am 01.07.2008

Birgit Vanderbeke hat in die Tat umgesetzt, wovon andere nur träumen. Seit gut fünfzehn Jahren lebt und arbeitet die freie Autorin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin in Südfrankreich. Ihre Erfahrungen mit Land und Leuten verarbeitete sie nicht nur in ihren Erzählungen, sondern auch in Kochbüchern oder dem Reiseführer Gebrauchsanweisung für Südfrankreich. Dort rät sie dann eingangs den Lesern, sich von Lavendelfelderbildern zu lösen und auf die Wirklichkeit einzulassen. Denn »interessant wird der Süden, sobald man wahrnimmt, dass dort Menschen leben und wie sie das tun«. Und abschließend heißt es: »Der Midi ist für Glück geradezu wie gemacht. Wenn man ein paar Dinge beachtet.«

Auch Vanderbekes neuester Roman Die sonderbare Karriere der Frau Choi hat wieder ihre Wahlheimat zum Schauplatz – und ihre Protagonistin war offensichtlich bestens mit dem Inhalt des Reiseführers vertraut. Denn sie macht von Anfang an alles richtig, auch wenn die Methoden, mit denen sie ihre Ziele erreicht, mitunter ein wenig sonderbar sind.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1989 und führt den Leser nach M**. M Sternchen Sternchen, ein Provinznest, das dermaßen ab vom Schuss liegt, dass es selbst von sommerlichen Touristenströmen nur am Rande berührt wird.

Der Glaube an weiße Frauen und Werwölfe hält sich hartnäckig und nach Einbruch der Dunkelheit bleibt man am liebsten in den eigenen vier Wänden und hört dem Wind zu, der um die Häuser pfeift. Ausgerechnet hierher verschlägt es nun Frau Choi, die eines Tages samt Sohn und Witwenrente in M** auftaucht und eines der baufälligsten Häuser erwirbt. Ihr Mann, erfährt man nebenbei, war Holländer und verstarb unter ungeklärten Umständen. Um Frau Choi ist »etwas herum«, das jeder spürt, aber keiner benennen kann. Sie raucht Zigarillos, antwortet auf Fragen mit Gegenfragen und bleibt stets höflich und gelassen.

Vanderbekes Protagonistin ist jedoch nicht nur geheimnisvoll, sondern auch eine begnadete Köchin, Pilzexpertin und sehr tatkräftig. Das allgemeine Misstrauen verwandelt sich schnell in Bewunderung, und ihre Gerichte verzaubern die französischen Gaumen. Doch die Pilzexpertin will mehr. Sie hat nämlich eine Idee, diese soll den Namen »Babguagup« tragen und ihr eigenes Restaurant werden. Kurzerhand erwirbt sie ein Pflaumenfeld als Anbauareal für die benötigten Zutaten, wird die neue Besitzerin einer ehemaligen Seidenspinnerei und lässt diese nach den Plänen eines japanischen Stararchitekten umbauen.


Der Aufstieg von M** beginnt. Feinschmecker und Freunde asiatischer Architektur pilgern ins »Babguagup«, welches mit Gerichten namens »Jap-Cheas«, »Kalbi-Chims« und »Sinsollos« schnell den ersten Platz in einschlägigen Zeitschriften belegt. Aber nicht nur Frau Choi profitiert. Die Entwicklungshilfe ist erfolgreich, und in M** boomt die Wirtschaft. Es werden Gästehäuser gebaut, die alten Mythen finden wieder Interessenten, die Bewohner besinnen sich auf ihre anarchistischen Grundwerte, und ein roter Feuerfalter spielt auch eine Rolle.

Man glaubt sich also in einem modernen Märchen, wären da nicht die drei Todesfälle. Die Opfer allesamt Männer, die mit ihren Egotrips nicht nur weibliche Entfaltungswünsche und das Dorfklima sondern auch Frau Chois Karriere bedrohen. Der Erste, der dran glauben muss, ist der Bürgermeister von M**. Der sympathisiert mit Paris, und Paris will M** zum Testgebiet für Militärflugzeuge machen. Die Agonie des Bürgermeisters ist kurz und eine Todesursache nicht zu ermitteln.

Krimifans seien an dieser Stelle jedoch gewarnt. Der Leser ist sehr schnell auf der richtigen Fährte, und kriminalistischer Spürsinn ist weitgehend überflüssig. Grundkenntnisse in der Forensik wären in der zweiten Hälfte der Erzählung schon nützlicher, sind aber auch kein Muss. Ein »Schöngelber Klumpfuß« wurde auf dem Teller des nächsten Opfers gesehen, das kurz nach seinem letzten Mahl im »Babguagub« verstirbt. Eine Gerichtsmedizinerin besteht auf ordnungsgemäßer Aufklärung.

Es ist schon beeindruckend, was Birgit Vanderbeke in ihrem 124 Seiten schmalen Roman alles untergebracht hat. Kenner ihres Geschichtenuniversums werden beim Lesen immer wieder auf bekannte Themen stoßen. Mit spürbarem Genuss hat sie ihre Lieblingsmotive zu einem bunten Potpourri vermengt. Kulinarisches sowie ihre Liebe zum Süden Frankreichs und seinen eigensinnigen Bewohnern spielen hier ebenso eine Rolle wie die Selfmadefrau, sympathische Jugendliche und leicht verdauliche Morde. Weitere Zutaten wären fernöstlich Philosophisches, eine Prise rebellischer 68er-Geist inklusive feministischen Grundtenors und die Thematisierung von Tourismus. Eigentlich sollte hier also jeder auf seine Kosten kommen, doch leider geht das Konzept nicht ganz auf.

Die Fülle an Themen garantiert zwar Farbigkeit, ein eindeutiger Geschmack ist aber nicht auszumachen. Der Hauptfigur, die wie einer japanischen Tuschezeichnung entsprungen wirkt, kann man ihre Konsistenzlosigkeit vielleicht noch nachsehen. Nimmt man Feng Shui zu Hilfe, vertritt Frau Choi das Prinzip eines leeren Raumes, der für einen gesunden Energiefluss sorgen soll. Aber auch den anderen Charakteren fehlt es an Schärfe, der kriminalistischen Handlung an Spannung und das diabolische Lächeln, welches zwischen den Schlusszeilen aufblitzt, lässt einen eher unbeteiligt als amüsiert zurück. Es ist Birgit Vanderbekes unverwechselbarer ironisch-lakonischer Erzählstil, der die Erzählung zusammenhält und die Lektüre trotz der Kritikpunkte zu einem angenehmen Zeitvertreib macht. Menschen, die Inspiration für ihre Urlaubs- oder gar Auswanderungspläne suchen, sind jedoch mit eingangs erwähntem Reiseführer Gebrauchsanweisung für Südfrankreich besser bedient. 

Birgit Vanderbeke, Die sonderbare Karriere der Frau Choi, S.Fischer, 2007, EUR 16,90

Birgit Vanderbeke, Gebrauchsanweisung für Südfrankreich, Piper, 2002, EUR 12,90

Photo: S. Fischer Verlag




Ein literarischer »Kritiker-Zankapfel« – Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten und die Kritik diesseits und jenseits des Rheins


von Simone Brink, erschienen am 15.06.2008

Er bleibt weiter umstritten: Sowohl diesseits als auch jenseits des Rheinufers streiten die Feuilletons und die Literaturkritik noch immer über den Debütroman Die Wohlgesinnten des amerikanisch-französischen Autors Jonathan Littell. Die heiße Phase der Debatte ist inzwischen etwas abgeflaut, aber noch immer ist das Holocaustepos ein regelrechter »Zankapfel« und wird weiter zwischen Literaturkritik, Geschichtswissenschaft und den sich notorisch einmischenden Aufmerksamkeitshaschern herumgereicht.

Denn der Roman bietet nicht nur den beruflich bedingten Diskussionsbeteiligten wie der feuilletonistischen Kritik und der Wissenschaft eine Spielwiese. Er ist auch für all jene ein »Fressen«, die den garantierten Aufmerksamkeitslieferanten »Nationalsozialismus« für sich in Anspruch nehmen wollen, handelt der fiktive Roman doch von den Erinnerungen eines ehemaligen SS-Offiziers an die Jahre 1941 bis 1945. Littells Protagonist Max Aue, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Frankreich geflohen war, erstattet Jahrzehnte später Bericht über seine Position in der Machtriege der Nationalsozialisten: In detaillierter Breite erzählt er von Emotionen, Ejakulationen und Exekutionen.

Seitdem das Werk im November 2006 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde und in der Folge wochenlang die französischen Bestsellerlisten dominierte, war und ist das Buch ein absolutes Muss für die Kritik. Kein Rezensent konnte mehr umhin, den qualitativ geadelten Kassenschlager zu diskutieren, zumal er in Frankreich bis heute 800.000 Käufer überzeugt hat.

In Reaktion auf die französische Hyperthematisierung von Die Wohlgesinnten widmete sich auch die deutsche Kulturkritik dem Hauptwerk der französischen Literatursaison. Besonders natürlich, weil die Materie des Dritten Reiches gezwungenermaßen die deutsche Seite auf den Plan rufen musste. Mit dem Erscheinen im Berlin Verlag ist die deutsche Debatte erneut angefacht worden, die im Kontrast zur französischen Kritik jedoch einen weit kritischeren Tenor verfolgt.


Während zwar auch die französischen Rezensenten in ihrer gespaltenen Meinung mit Beanstandungen und Verweisen nicht sparten, beurteilten sie den Roman doch insgesamt wesentlich positiver als ihre deutschen Kollegen. Die tragende Stimme auf deutscher Seite pflichtet den französischen Lobsalven einzig in dem Punkt der perspektivischen Originalität von Littell bei.

Denn bis dato harrte die Literatur einer Darstellung des Holocaust aus Sicht eines großflächigen Planers und Praktikers des massenhaften Mordens. Nicht die Position eines Mitläufers und dadurch eines Mittäters, sondern diejenige eines Hauptverantwortlichen des Völkermordes einzunehmen, ist die von französischer wie auch von deutscher Seite gebilligte Leistung von Littell. Die mehrheitliche Anerkennung der durchschlagenden Neuheit, den Holocaust so zu sehen, ist jedoch die einzige Gemeinsamkeit der kritischen Urteile auf Seiten des französischen und des deutschen Feuilletons.

Dass ein jüdischer Autor einem erdachten Hitler, Göring oder Eichmann überhaupt Gestalt gibt, dass dieser jüdische Schriftsteller seinem Urnazi als Protagonisten zudem persönliche Kennzeichen wie sein eigenes Geburtsdatum aneignet, hätte in Deutschland die übliche leidige Debatte lostreten können. Das Buch hätte wieder einmal die Theorie auf den Plan rufen können, wonach sich das Judentum an seinen historischen Mördern revanchiere. Glücklicherweise ist die deutsche Kritik nicht in diese Falle getreten.

Ihre Ansatzpunkte sind andere. Der erste ist die künstlerische Unfreundlichkeit gegenüber dem Lesenden, der sich durch das mehr als tausend Seiten zählende oder eher zehrende Buch mitsamt seiner überbordenden Geschichtlichkeit kämpfen muss. Die Unmenge an bekannten Schauplätzen des Dritten Reiches (dem Protagonisten entgehen weder Stalingrad noch Auschwitz) ist nervenaufreibend und erzählerisch wenig glaubwürdig. Obwohl die schriftstellerische Rechercheleistung der historischen Belegstellen und Quellen, der zahlreichen Protokolle, Befehle und Dokumente sicher zu würdigen wäre, so ist der historische Faktenreichtum dem Lesefluss leider nicht gerade förderlich.

Vielmehr wird dadurch der Verdacht erweckt, der Autor wolle mit seiner Detailversessenheit und seiner anscheinenden Allwissenheit über den Vernichtungskrieg die Charakterlosigkeit seiner Figuren überdecken. Je länger man liest, desto mehr wird dieser Verdacht zur Gewissheit. Denn Littell füllt seine Seiten mit reinem Geschichtsmaterial anstatt authentische Figuren zu erschaffen. Hinzu kommt, dass er auch noch allzu häufig in allzu simpler Weise die historischen  Originalquellen ohne literarische Bearbeitung übernimmt. Die Charaktere sowohl der Hierarchiespitze von Hitler, Himmler, Häfner bis hin zu Speer und Janssen als auch der niederen Militärangehörigen können insofern gar nicht ausgereift sein, als sie unter dem Dokumentenmassiv der historischen Quellen erdrückt werden.

Der zweite Ansatzpunkt der Kritik ist der literarisch altbewährte Topos des Intellektuellen als Mörder, der spätestens seit Thomas Manns Roman Dr. Faustus bekannt ist. Dieser Aspekt des allerorts zelebrierten Intellektualismus der Hauptprotagonisten zermürbt den Leser ebenso so sehr wie die nicht enden wollende historische Quellenmasse. Beidem wird der Leser überdrüssig, da dieser Intellektualismus durch seine ständige und allzu offensichtlich erzwungene Präsenz unglaubwürdig wirkt.

Die Permanenz von vor allem geisteswissenschaftlichen Absonderungen der Protagonisten in Form von Dialogen, Zitaten und Wissensbekundungen wird auf die Dauer penetrant. Fadenscheinig wird der Hauptakteur Max Aue, je öfter er im passenden Augenblick die adäquaten Geistesgrößen herbeizitiert, je müheloser er in Altgriechisch parliert und je besser er mit seinem Wissen aus zahlreichen Gebieten wie der Psychoanalyse und der Musikgeschichte zu glänzen weiß.

Die eigentliche Intention von Littell, die Möglichkeit eines mörderischen Untiers auch im Intellektuellen darzustellen, wird durch das ständige Beschwören des hohen Bildungsgrades des Protagonisten und seine fehlende Authentizität wenn nicht vereitelt, so doch zumindest in den Hintergrund gerückt. Dies ist angesichts der hehren und lobenswerten Absicht des Autors eigentlich bedauernswert. Im Grund wäre es auch nicht  weiter schlimm, wenn nicht die zu beklagende Konsequenz der Hyperintellektualisierung des Protagonisten derart weitreichend wäre.

Indem Max Aue als Intellektueller, zudem noch Homosexueller und Herkunftsloser und damit als Sonderling gezeichnet wird, unterstützt Littell die alte Ansicht des Nazis als Außenseiter. Er verfestigt die Theorie des Nationalsozialismus als Abnorm des Menschen, die mehr oder weniger zufällig zu Tage getreten ist. Dass jedoch die Fähigkeit und die unter bestimmten Voraussetzungen geförderte Neigung zur Ausgrenzung, zur Stigmatisierung und zum Morden dem Menschen per se zu eigen ist, dass also der Nationalsozialismus keine einmalige Koinzidenz der Geschichte war, entgeht dem Roman vollständig. Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft ist das Buch in seiner Darstellung des Nazis Max Aue als anormaler Individualist und damit des Täters als Abnormalität demnach ein kläglicher Rückschritt – zumal auch sonst keine neuen historischen Inhalte präsentiert werden.      

Was bleibt, ist ein schriftstellerisch kaum überragender Roman, der an Pornografie, Kitsch und altbekannten Versatzstücken nicht spart. Mag er in Frankreich und aller Prognose nach auch in Deutschland ein sowohl verkaufstechnischer als auch feuilletonistischer Bestseller werden - ihn weiter zu empfehlen könnte, lediglich aus der generellen Aufregung um das Buch gerechtfertigt werden. Inhaltlich ist es nicht unbedingt lesenswert. 

Jonathan Littell (2008): Die Wohlgesinnten. Berlin: Berlin Verlag.

Übersetzt von Hainer Kober. Ca. 1.400 Seiten. ISBN 9783837007384




Für eine Hand voll Gitanes : Das Leben von Serge Gainsbourg


von Sandra Wickert, erschienen am 01.04.2008 

Sänger, Texter, Komponist, Schauspieler, Regisseur, Schriftsteller, Provokateur: Auch mehr als anderthalb Jahrzehnte nach seinem Tod sehen die Franzosen Serge Gainsbourg als das Genie der französischen Popkultur und des französischen Chansons. Trotzdem verbindet man außerhalb Frankreichs mit seinem Namen oft nur den Hit »Je t'aime (moi non plus)« und vielleicht noch einige Skandale und Frauengeschichten. Dass sein musikalisches Werk aber vielschichtig und genreübergreifend war und sich ständig  wandelte, erfährt man, wenn man die Gainsbourg-Biografie Für eine Handvoll Gitanes von Sylvie Simmons in die Hand nimmt.

Biografien des französischen  »Volkshelden« gibt es einige. Die Spanne reicht von trockenen Monografien über fast schon abenteuerliche Legendenbildungen und liest sich mitunter nicht einfach – vor allem, wenn man nicht der französischen Sprache mächtig ist. Nun hat sich eine Engländerin vorgenommen, den Künstler »von außen«, also ohne die französische Brille, zu beleuchten und ihn einem unkundigen, neuen Publikum vorzustellen. Um es vorwegzunehmen: es ist ihr gelungen. 

Für eine Hand voll Gitanes liest sich gut, schnell, rasant und vergnüglich. Für einen intellektuellen Verehrer mag es zunächst ein milder Schock sein, dass die Sprache doch sehr populär daherkommt und man mitunter das Gefühl hat, man sitzt im Friseursalon und liest eine Klatschzeitung, die man zu Hause natürlich niemals in die Hand nehmen würde. Dieses Gefühl kommt nicht von ungefähr, die Autorin ist Musikjournalistin und ihrer Schreibe merkt man an, dass sie gewöhnlich für Magazine und Zeitschriften arbeitet, allerdings nur für solche mit untadeliger Reputation wie Sounds oder Rolling Stone

All das trägt zur Glaubwürdigkeit dieser Autobiografie bei. Statt trockener Beschreibungen hat der Leser das Gefühl, von Simmons an die Hand genommen zu werden und mittels einer Zeitmaschine direkt zu den verschiedenen Lebensabschnitten  Gainsbourgs gebracht zu werden. In grob chronologischer Reihenfolge begleiten wir den kleinen »Lulu«, wie Serge, der eigentlich Lucien hieß, von seiner Mutter genannt wurde, durch prägende Kindheitsjahre. Wir erfahren, wie er als Kind jüdisch-ukrainischer Einwanderer zunächst in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs und wohnen dem magischen Schlüsselmoment bei, als der achtjährige Knirps zum ersten Mal durch die Schönheit einer Frau wie vom Blitz getroffen ist.  

Auch prägende Ereignisse wie das Aufwachsen mit dem gelben Judenstern am Revers und seine daraufhin folgende Flucht in die Kunst und Literatur werden von der Autorin aufgegriffen.  

Die Gewichtung des Buches liegt auf den beiden Hauptaspekten aus Gainsbourgs Leben: die Musik und die Frauen. So wie diese beiden Pole untrennbar miteinander verbunden sind, versteht es auch die Autorin, diese beiden Phänomene nicht isoliert zu betrachten, sondern die zahlreichen Zusammenhänge und Überschneidungen aufzuführen. Um aus der Routine seiner ersten Ehe zu entfliehen, gelangte er über die Kunst zu einem Job als Barpianist, bis er schließlich sein erstes eigenes Album veröffentlichte.  

Die Eifersucht seiner zweiten Frau war für einen großartigen Arbeitsschub und daraus resultierende weitere Platten verantwortlich: Weil sie nicht wollte, dass er sich nachts in obskuren Bars herumtrieb, schenkte sie ihm einen Klavier-Flügel und Gainsbourg komponierte von nun an wie ein Besessener. Es gab sogar Frauen, mit denen der »Erotomane« nur platonisch befreundet war, wie Marianne Faithful; Frauen, die seinen Ruhm als Womanizer bildeten wie Brigitte Bardot, Frauen, die seine Lieder sangen wie Catherine Deneuve oder Juliette Greco. Und Frauen, die ihn ein ganzes Leben begleiteten, und die dafür sorgten, dass er in seinen letzten Lebensjahren regelmäßig Nahrung zu sich nahm, wie seine große Liebe Jane Birkin. 

Sie ist es auch, die diesem Buch durch ihre vielen Erinnerungen, Anekdoten und kleinen Geheimnisse die besondere Würze gibt. Sie erhebt Gainsbourg weder in den Himmel noch dämonisiert sie ihn, sondern gibt dem Leser zumindest einen kleinen Einblick in das schwierig-schöne Leben mit einem französischen Nationalhelden. 

Sylvie Simmons hat es geschafft, auf 320 Seiten ein ehrliches, umfassendes Bild der komplexen Identität Serge Gainsbourgs wiederzugeben. Ihr Anliegen, den Künstler auch  international von seinem reduzierten Image als Urheber von »Je t’aime« zu befreien, wird auch durch das Übersetzen seiner Songtexte und vieler Originalzitate bestärkt.

Eine Hand voll Gitanes ist ein Stück Zeitgeschichte und auch für Serge-Gainsbourg-Nichtkenner zu empfehlen, denn es ist, mit den Worten der Musiklegende Lou Reed »an excellent piece of writing.«

Sylvie Simmons, Serge Gainsbourg - für eine Hand voll Gitanes, Frankfurt 2007, Seeling Verlag

Photo: Seeling Verlag 


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Ein Franzose schreibt sich in die Herzen der Deutschen: »Le Voyage d’Hector ou la recherche du bonheur« von François Lelord


von Nina Reichow, erschienen am 15.12.2007

Über kaum ein anderes Thema ist so viel geschrieben worden wie über das Glück – und ein Blick auf die Neuerscheinungen der vergangenen Jahre zeigt, dass Bücher über das Glück nach wie vor Konjunktur haben. Mehr denn je suchen Autoren also heute Antworten auf die Frage, was Glück ist und wie es sich erreichen lässt. Einen ungewöhnlichen Zugang zu dem Thema bietet das Buch eines französischen Autors: Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück von François Lelord. Das Werk erschien 2002 in Frankreich und wurde in 14 Länder verkauft. Es eroberte die deutschen Bestsellerlisten im Sturm und hielt sich über 120 Wochen auf den vorderen Plätzen. 

Vor kurzem ist der Text in Reclams Roter Reihe in französischer Sprache erschienen. Die Fremdsprachenedition mit dem Titel Le Voyage d'Hector ou la recherche du bonheur ist preiswerter als die deutsche Übersetzung in der Taschenbuchausgabe und erleichtert die Lektüre dank zahlreicher  Vokabelerläuterungen. Ein Nachwort und umfangreiche Literaturhinweise bieten interessierten Lesern zudem weiterführende Informationen.

»Il était une fois un jeune psychiatre qui s'appelait Hector et qui n'était pas content de lui.« Bereits die ersten Zeilen verraten, dass der Leser in ein Märchen eintaucht. Er liest von Hector, der mit seiner Arbeit als Psychiater unzufrieden ist, weil er seinen Patienten nicht immer helfen kann – insbesondere den Menschen, die nicht wirklich krank sind, sondern einfach unzufrieden mit ihrem Leben. Er möchte verstehen, was die Menschen glücklich oder unglücklich macht. Deshalb nimmt er den Leser mit auf eine Reise um die Welt. Hector begegnet alten Freunden, macht neue Bekanntschaften und kehrt schließlich nach Hause zurück. Unterwegs hat er 22 Lektionen über das Glück notiert und zahlreiche Geschichten erlebt, die er fortan in seine Praxisgespräche einfließen lässt. Und am Ende scheint alles gut, wie es sich ja für ein Märchen gehört, denn Hector heiratet seine langjährige Freundin: »Alors ils se marièrent, ils vécurent heureux et ils eurent un petit garçon qui devint psychiatre comme son papa.«

Das Buch  richtet sich an Erwachsene, weil sich zwischen den ersten und letzten Zeilen viele Probleme ihres Alltags wiederfinden. Die stilisierte Welt erzählt von zahlreichen Hindernissen auf dem Weg zum Glück – vom Burnout-Syndrom über Depressionen bis hin zur Bindungsunfähigkeit. Diese Phänomene werden allerdings ebenso wie die Stationen von Hectors Reise nicht konkret benannt. Aber auch so kann der Leser hinter den Beschreibungen Schauplätze in Europa, Asien, Afrika und den USA ausmachen. Lelord bezaubert seine Leser durch eine einfache, kindlich-naive Sprache. Er lenkt den Blick auf typische Alltagssituationen und verzichtet auf detailreiche Beschreibungen und komplexe Handlungen. An die Stelle wissenschaftlicher oder philosophischer Exkurse treten persönliche Erlebnisse und Begegnungen Hectors mit anderen Menschen.

Man merkt dem Buch an, dass es aus der Feder eines Psychiaters stammt. Und doch versteht es sich nicht in erster Linie als Glücksratgeber oder als Lebenshilfe, sondern es ist eine fiktive Geschichte, die großes Lesevergnügen bereitet. Kleine Erkenntnisse in Sachen Glück finden dabei wie von selbst statt. Als Psychiater und aufmerksamer Beobachter und Zuhörer versteht es Hector, seine Erlebnisse auszuwerten. Seine Sichtweise fördert Gefühle und Wahrnehmungen zutage, die in der Erwachsenenwelt häufig unausgesprochen bleiben.

Mit einigen Erfahrungen, die Lelords Figur macht, identifiziert sich der Leser, anderen ist er noch nie begegnet. Jede Lektion, die Hector im Laufe seiner Reise notiert, ist für den Leser Anlass, sich der Vielzahl von Möglichkeiten bewusst zu werden, die zum Glück führen können. Das zeichnet diesen Text aus: Lelord unternimmt nicht den Versuch, das Glück festzulegen oder einen Weg vorzugeben, den allein es zu beschreiten gilt. Der Leser dankt es dem Autor und nimmt aus der Lektüre eine 23. Lektion mit: Glück ist für jeden etwas anderes.

François Lelord, Le Voyage d'Hector ou la recherche du bonheur. Reclam € 5,60, ISBN 978-3-15-019721-9

Foto: Reclam


Infokasten: François Lelord


François Lelord, geboren am 22. Juni 1953 in Paris, ist Psychiater wie sein Vater. Nach seiner Promotion arbeitete er für ein Jahr in Kalifornien, anschließend in Paris – zunächst als Oberarzt, dann mehrere Jahre mit eigener Praxis. 1996 schloss er sie, reiste viel und war bis 2004 als Berater für Personalabteilungen tätig. Nach Auslandsjahren in Vietnam und Kalifornien lebt er als freier Autor in Paris. Neben den Hector-Bänden, mit denen der Autor international bekannt geworden ist, hat Lelord einige fachwissenschaftliche Bücher veröffentlicht.

Die Hector-Trilogie:

François Lelord, Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück. Piper 8,50 €, ISBN 978-3-492-24828-0

François Lelord, Hector und die Geheimnisse der Liebe. Piper 8,50 €, ISBN 978-3-492-24991-1

François Lelord, Hector und die Entdeckung der Zeit. Piper. 16,90 €, ISBN 978-3-492-04741-8

Foto: reclam




Marissal Bücher – eine deutsche Buchhandlung in Paris


von Barbara Hilz, erschienen am 15.09.2007

Eine andere Welt betritt, wer die Pariser Buchhandlung Marissal Bücher besucht. Nicht nur weil man dort die deutsche Sprache hört, sondern auch weil sich die Stimmung ändert. Es ist ruhig, die Menschen sprechen mit gedämpfter Stimme, und man kann den Geruch von Büchern wahrnehmen. Diese sind bis unter die Decke gestapelt. Von oben blickt Kafka von einem Poster auf das Treiben in der Buchhandlung, der Holzperlenvorhang der die hinteren Räume vom Geschäft abtrennt, klackt von Zeit zu Zeit.  

Die Buchhandlung ist wie eine kleine, exotische Insel mitten im munteren und oft hektischen Treiben von Paris. Sie befindet sich in der rue Rambuteau, direkt neben dem Centre Georges Pompidou, inmitten von Brasserien und Schreibwarengeschäften, die Postkarten verkaufen, auf denen man den Eiffelturm in allen Variationen sehen kann. Debora Baptiste, die in der Buchhandlung arbeitet, erzählt, dass es das Geschäft schon seit 25 Jahren in Paris gibt. In Deutschland ist die Familie Marissal schon seit mehreren Generationen im Buchhandel tätig; das Mutterhaus befindet sich in Hamburg.  

Es gibt viele Stammkunden, Franzosen und in Paris lebende Deutsche, die die Buchhandlung schon seit Jahren kennen und sich dort mit den neuesten Werken der deutschen Literatur und Klassikern eindecken. Es kommen Deutschlehrer, Studenten und Schüler, aber auch Menschen, die Lust haben, die deutsche Literatur näher kennen zu lernen, die Sprache lernen wollen oder eine Reise nach Deutschland planen und einen guten Reiseführer oder Tipps brauchen. Aber auch deutsche Touristen, die in diesem Viertel von Paris einen Spaziergang machen oder sich eine Ausstellung im Centre Georges Pompidou angesehen haben, zieht es oft in die Buchhandlung. Sie ist das plötzlich Vertraute in der fremden Stadt. 


Die Buchhandlung erscheint auf den ersten Blick nicht groß, aber hat mehrere Tausend Bücher auf Lager. Das Angebot umfasst die Rubriken Literatur, Philosophie, Geschichte, Landeskunde, Reiseführer über Deutschland, Frankreich und Österreich, Kunst, Kinder- und Wörterbücher sowie Material zum Sprachenlernen. Auch antiquarische Bücher sind bestellbar. Etwa 750.000 Titel stehen zur Verfügbarkeit und man kann die meisten davon innerhalb einer Woche in der Buchhandlung abholen.  

Debora Baptiste erzählt, dass oft Kunden von großen Geschäften wie der FNAC an Marissal Bücher weiterverwiesen würden, da diese fast keine deutschen Bücher im Sortiment hätten: »Deshalb freuen die sich dann, wenn sie bei uns die Qual der Wahl haben.« Abgesehen davon hat man bei Marissal Bücher auch die Möglichkeit, mit den vier Mitarbeitern auf Deutsch und Französisch zu fachsimpeln.  

Man hört also ständig beide Sprachen, wenn die Kunden nach Goethes Wahlverwandtschaften, Günter Grass' Im Krebsgang oder einem der vielen anderen Werke der deutschen Literatur fragen. Vielleicht verschlägt es ja mal den einen oder anderen zu Kafka und Co: bei Marissal Bücher in Paris.

www.marissal.com




Heitere Himmel, schweigende Steine – Paul Celan in der Bretagne


von Sophie Rudolph, erschienen am 15.06.2007

Trébabu – ein Name, den man auf den meisten Landkarten von Frankreich vergeblich sucht. Klingt nach einem geheimnisvollen Ort, den man mit Märchengestalten wie dem Zauberer Merlin oder der guten Fee Melusine verbindet. Aber der Ort ist eher mit einer sehr realen Gestalt verbunden: dem Dichter Paul Celan, der als der bekannteste jüdische Nachkriegsdichter deutscher Sprache gilt. Er übersetzte das Grauen der Konzentrationslager in rätselhafte Poesie, die bei seinen Zeitgenossen nicht immer auf Verständnis stieß. Zu seinen berühmten Werken zählen die frühen Gedichte Der Sand aus den Urnen (1947), Todesfuge (1952), später die Niemandsrose (1963) und Atemkristall (1965).

Der Literaturkritiker und Autor Helmut Böttiger ist auf Celans Spuren nach Trébabu gereist, in eine Bretagne, in der die Zeit fast still zu stehen scheint. Celan reist im Sommer 1960 an Frankreichs Westküste. In einem Brief an Nelly Sachs schreibt er: »Wir sind seit acht Tagen in der Bretagne, unter heiteren Himmeln, in einem kleinen Häuschen am Rande eines riesigen und auf das menschen- weil hasenfreundlichste verwilderten Parks. Das Meer ist nahe, die Menschen, denen wir begegnen, einfach und freundlich.«

Ungewohnt fröhlich klingen diese Worte des Dichters, dessen Verse oft von Schwermut sprechen. Versteht man Gedichte besser, wenn man das Leben und die Wege ihres Schöpfers kennt? Der Titel des Buches Wie man Gedichte und Landschaften liest. Celan am Meer deutet das an. Aber Böttigers literarischer Essay ist alles andere als eine akademische Anleitung zur Interpretation. Vielmehr verflechtet er seine eigene Reise durch die heutige Bretagne mit der vergangenen Zeit, die Paul Celan hier verbracht hat, zu einer poetisch anmutenden Erzählung.


Ausgehend von realen Orten entwirft Böttiger eine imaginäre Kartographie der Sprache Celans. »Wir sind im Celan-Land, aber wir wissen nicht, wo es beginnt, wo es endet, wo es existiert, es ist ein Wörterland – eine entlegene, stille, wild bewachsene Landschaft«, schreibt er in Celan am Meer. Es ist Helmut Böttigers zweites Buch über Celan.

Bereits für Orte Paul Celans ist er der Fährte des Dichters gefolgt und hat eine Reise mit vielen Stationen quer durch Europa unternommen. Beginnend an Celans Geburtsort Czernowitz, der damals in Rumänien lag, heute aber zur Ukraine gehört, wo Celan 1920 in einer deutschsprachigen, jüdischen Familie als Paul Antschel zur Welt kam. Weiter geht es über Bukarest und Wien bis nach Paris, wo Celan von 1948 bis zu seinem Freitod 1970 lebte.

Paul Celan reiste mit seiner Frau, der Künstlerin Gisèle de Lestrange, die er 1951 in Paris kennen gelernt hatte, mehrere Male in den Nordwesten Frankreichs. In der Bretagne, die Böttiger in Celan am Meer beschreibt, hat der Reisende das Gefühl, am Ende der Welt angekommen zu sein. Auch wenn er weiß, dass die Erde keine Scheibe ist.

Das Département Finistère, in dem Trébabu liegt, ist der westlichste Zipfel Frankreichs, der in den Atlantik hineinragt. Daher bekam es auch den Namen Finis Terrae (Ende der Welt), obwohl der ursprüngliche bretonische Name Penn ar Bed (Anfang, Spitze oder auch Haupt der Welt) lautete. Le-Pen-Ar-Bed heißt auch die ländlich urige Kneipe im nächstgelegenen Ort Le Conquet, die Böttiger in seinem Buch beschreibt.

Im Mittelpunkt von Böttigers Erzählung stehen zwei längere Aufenthalte Celans in den Sommern 1960 und 1961. Es waren spannungsreiche Jahre im Leben des Lyrikers. 1960 erhielt er den Büchner-Preis, die bedeutendste literarische Auszeichnung in Deutschland. Gleichzeitig warf ihm die Witwe des Dichters Yvan Goll vor, bei ihrem Mann abgeschrieben zu haben. Die Feuilletons machten daraus einen Skandal.

Erst mit der Zeit stellte sich heraus, dass Celan nicht bei Goll, sondern Goll bei Celan abgeschrieben hatte. Diese so genannte »Goll-Affäre« sollte Celan bis ans Ende seines Lebens verfolgen. In seinen Augen verband sich die Affäre mit antisemitischen Tendenzen, denen er bei seinen Besuchen in Deutschland begegnete.


Fernab des Literaturbetriebs, in einem Nebenhaus des Schlosses Kermorvan bei Trébabu hoffte das Ehepaar Celan, zu sich selbst zu finden. Helmut Böttiger macht deutlich, dass in dieser Zeit der Rückzug in eine künstliche Sprache symptomatisch für Celans Poesie wird, eine Sprache, die einen Raum schafft, der nur noch dem Dichter allein gehört und sich der Interpretation entzieht. Er stellt zunehmend Fachbegriffe aus der Botanik, Zoologie und vor allem der Geologie in einen poetischen Zusammenhang, um sich mit diesen unbesetzten Worten in seiner durch die Nazis korrumpierten deutschen Muttersprache wieder zu Hause fühlen zu können.

Die felsige Landschaft in Finistère findet in Celans Sprache ihren Widerhall. In die Landschaft hineingewachsen erscheinende Megalithen sind überall in der Bretagne zu finden, verweisen auf Jahrtausende alte Kulturen und bleiben von Geheimnissen umwoben. Der berühmte Menhir von Kerloas bei Saint-Renan hat Celan zu seinem Gedicht Der Menhir inspiriert, dem Böttiger ein ganzes Kapitel widmet.

Der im Deutschen und Französischen verwendete Begriff Menhir, welcher der Wissenschaftssprache entstammt, ist pseudobretonisch. Die bretonischen Wörter maen für Stein und hir für lang sind nicht so zusammengesetzt, wie es der bretonischen Grammatik entspricht. Die Steingebilde heißen in der Landessprache eigentlich peulven. Diese Wortkonstruktion spiegelt auf eigentümliche Weise das Sprachgemisch, das sich in Celans Dichtung manifestiert. »Der Menhir steht an der Stelle des Herzens« und kann, glaubt man Böttiger, auch als Metapher für die Gedichte Celans gelesen werden, schreibt er doch in Orte Paul Celans, dessen Gedichte stünden im zwanzigsten Jahrhundert da wie ein Monolith.

Helmut Böttigers Herangehensweise erweist sich als gelungener Brückenschlag zwischen der Biographie Paul Celans, seinen auf den ersten Blick schwer zugänglichen Gedichten und der spröden aber auf den zweiten Blick wunderschönen Landschaft der Bretagne. Wer noch nicht dort war, findet hier eine lebendige Einladung zur Reise in Celans Wörterland. Und wer die Bretagne zu kennen glaubt, kann sie mit diesem Buch durch die Augen des Dichters vielleicht sogar neu entdecken.


Die Gedichte, die 1961 in der Bretagne entstanden, bilden den dritten Zyklus des Gedichtbandes Die Niemandsrose und wurden, so Böttiger, »von den Heerscharen akademischer Interpreten eher ratlos links liegen gelassen«. Der bretonische Dichter Koulizh Kedez übersetzte Paul Celan ins Bretonische und schrieb eine Hommage an den Dichter, dessen Sprache dem Bretonischen näher sei als die französische Lyrik. Diese bretonische Hommage hat Raoul Schrott wiederum ins Deutsche übertragen, und so kehren die Worte auf verschlungenen Pfaden zurück in die deutsche Sprache. Die Hoffnung Celans, seine Gedichte könnten wie eine Flaschenpost »irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht«, scheint sich hier zu erfüllen – in Finis Terrae, dem Ende, oder auf bretonisch: dem Anfang der Welt.


Zum Weiterlesen:

Helmut Böttiger: Orte Paul Celans, Wien: Peter Zsolnay Verlag, 1996

Helmut Böttiger: Wie man Gedichte und Landschaften liest. Celan am Meer, Hamburg: marebuchverlag, 2006

Paul Celan: Gedichte in zwei Bänden, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975

www.engeler.de/hommageancelan.html

www.engeler.de/bretonischerdichter.html

Fotos: Wolfgang Oschatz,Renate von Mangoldt, Flickr.com, Sophie Rudolph


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Über Paul Celan
Paul Celan ist nicht nur der bekannteste deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts. Er war vor allem auch als Übersetzer tätig und hatte von 1959 bis zu seinem Freitod 1970 eine Stelle als Deutschlektor an der École normale supérieure in der rue d'Ulm in Paris. Dort befindet sich heute auch die von seinem ehemaligen Schüler Jean-Pierre Lefebvre gegründete Forschungseinheit (UFR) Paul Celan, die sich um die Veröffentlichung von Celans Werken in Frankreich kümmert und jedem, der eine universitäre oder auch freie Forschungsarbeit zu Celan unternimmt, Unterstützung bietet.

Celan übersetzte viele bedeutende französische Autoren ins Deutsche, darunter Guillaume Apollinaire, Antonin Artaud, Charles Baudelaire, André Breton, Jean Cayrol, Paul Éluard, Stéphane Mallarmé, Arthur Rimbaud, Georges Simenon und Paul Valéry.

Seit 1988 stiftet der Deutsche Literaturfonds den Paul-Celan-Preis für herausragende Übersetzerleistungen aus dem Französischen. Seit 1995 können auch Übersetzungen aus anderen Sprachen ausgezeichnet werden.

Jean-Pierre Lefebvre über Paul Celan: www.monumenta.com/2007

Helmut Böttiger
Helmut Böttiger, geboren 1956, war lange Jahre Literaturredakteur, wurde mit dem Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik ausgezeichnet und gilt als einer der besten Kenner Paul Celans. Helmut Böttiger ist der Autor von Ostzeit – Westzeit, Orte Paul Celans und Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Er lebt in Berlin.




»Wäre die französische Sprache eine Frau, ich würde sie heiraten«


Ein Interview mit dem algerischen Autor Mohammed Moulessehoul alias Yasmina Khadra. Von Sina Tschacher, Übersetzung Sina Tschacher, erschienen am 01.04.2007.

Sprechen wir zunächst über Ihren Roman Die Attentäterin. Darin erzählen Sie die Geschichte von Amine, einem palästinensischen Chirurgen, der perfekt in die israelische Gesellschaft integriert ist. Doch mit einem Mal verändert sich sein Leben schlagartig. Er erfährt, dass seine eigene Frau Sihem sich als Selbstmordattentäterin in einem Restaurant in Tel Aviv in die Luft gesprengt hat. Warum haben Sie sich für ein so komplexes Thema wie den Nahostkonflikt entschieden?

Die Situation in Palästina wird immer absurder und unerträglicher. Es musste gehandelt werden und zwar auf eine intelligente Art und Weise. Ich wollte kein Öl ins Feuer gießen, also habe ich mich dafür entschieden, ein Buch zu schreiben, das den Menschen die Sackgasse vor Augen führt, in der sie sich alle befinden. Ich wollte in erster Linie als Mensch reagieren, der es satt hat, dieses entehrende Schauspiel im Fernsehen zu sehen, die schrecklichen Dinge im Radio zu hören und in der Presse über diese furchtbare Situation zu lesen. Ich wollte als Bewohner dieser Welt reagieren. Natürlich ist es ein sehr polemisches Thema, das viele Emotionen auslöst. Man braucht viel Mut, um es zu behandeln. Aber ich bin der Meinung, dass es heutzutage in der Welt an Mut mangelt. Man ist immer auf der Seite des Stärksten, nie auf der Seite des Schwächsten.

Im Gegensatz zu Ihrem Roman Wovon die Wölfe träumen zeigt der Roman Die Attentäterin nicht direkt, was sich im Kopf der Selbstmordattentäterin Sihem abspielt, warum sie sich für diesen brutalen Weg entschieden hat. Der Leser erfährt dadurch nicht mehr als Amine. Weshalb haben Sie diese Vorgehensweise gewählt?

Der Blick von Amine entspricht genau dem, den der Westen auf das Palästinenser-Problem wirft. Der Westen bleibt bei all dem immer außen vor. Und das einzige Mittel, um ihn, also den westlichen Leser, zu erreichen, ist, seine Position, seine Haltung einzunehmen und ihm ausgehend von seiner eigenen Mentalität zu erklären, was sich in anderen Mentalitäten abspielt. Amines Reise durch Palästina ist genau die gleiche Reise, die einem westlichen Menschen helfen könnte, zu verstehen, was im Nahen Osten passiert.

Nun gibt es Menschen, die Ihrem Roman vorwerfen, zu viel Verständnis gegenüber Terroristen zu zeigen. Was antworten Sie solchen Kritikern?

Zunächst einmal halte ich die Palästinenser nicht für Terroristen. Es sind Widerstandskämpfer und sie kämpfen mit den Mitteln, über die sie verfügen. Sie haben nur ihren Körper, um sich irgendwo in die Luft zu sprengen. Und für mich gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen einem Jugendlichen, der sich mit Sprengstoff belädt, um sich dann in einem Bus in die Luft zu jagen und einem israelischen Kampfpiloten, der eine Rakete auf ein Haus wirft, in dem ein Feind lebt. Die Leute, die denken, dass ich auf der Seite von Terroristen bin, die haben nichts verstanden. Folglich finden sie auch keinen Zugang zu meinem Buch. Auf der anderen Seite ist es die Berufung eines Schriftstellers zu erzählen. Dieser Erzählung habe ich eine Dimension hinzugefügt, die des Verständnisses. Eine Sache verständlich zu machen und sie zu verstehen, das bedeutet nicht, sie auch gutzuheißen. Es heißt nur, in einer intelligenten Weise an das Absurde zu gelangen. Nicht, um es zu beklatschen. Sondern um zu versuchen, es zu bremsen, damit umzugehen. Solange man ein Problem nicht begriffen hat, solange kann man dafür keine Lösung finden.

Also sind Sie der Meinung, dass die Literatur ein Vermittler zwischen den Völkern, zwischen den Kulturen sein kann?

Nicht nur die Literatur. Es sind der gute Wille und die guten Absichten, die eine Lösung finden. Und diese guten Absichten kann man überall finden: In der Literatur, in der Musik, in der Politik …


Sie schreiben Ihre Romane auf Französisch. Warum nicht auf Arabisch?

Ich liebe die französische Sprache. Das ist ganz einfach eine Liebesgeschichte. Wäre die französische Sprache eine Frau, ich würde sie auf der Stelle heiraten, mit geschlossenen Augen. Vorausgesetzt, dass sie mich will. Dennoch schreibe ich auch mit den Gefühlen eines Algeriers und eines Mannes aus der Sahara. Vor etwa zwanzig Jahren gab es in Algerien eine Kampagne gegen Frankophone. Das hat mich sehr verletzt. Damals habe ich mir geschworen, nie mehr ein Buch auf Arabisch zu veröffentlichen.

In einem Interview mit der algerischen Zeitung Liberté sagten Sie einmal, dass Sie sich vor dem Erscheinen von Die Attentäterin von der französischen Presse übergangen fühlten. Dabei waren Ihre Romane in anderen europäischen Staaten Bestseller. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Ich wurde übergangen, weil ich ein ehemaliges Mitglied der algerischen Armee bin. Vor ein paar Jahren gab es in Frankreich eine Diskussion um die Frage, welche Rolle die algerische Armee bei den Massakern in Algerien spielte. Ich verurteilte diese Polemik und das hat man mir nicht verziehen. Nach dem Erfolg von Die Attentäterin wurde es besser, doch noch immer stehe ich in manchen Kreisen in Frankreich in Ungnade.

Wie schätzen Sie die Zukunft der algerischen Literatur ein?

Ich denke, der Westen sollte sich etwas mehr für unsere Werke interessieren. Wir haben viel zu sagen. Es liegt nicht an unserem Talent. Talent besitzen wir, das haben wir bewiesen. Doch alles hängt vom Empfang ab, den man uns bietet. Ich glaube, dieser Empfang entspricht bis jetzt noch nicht unseren Erwartungen.

Yasmina Khadra, Die Attentäterin, ISBN 3312003806 EUR 19,90

Foto von Sina Tschacher


Info

Am 10. Januar 1955 wird Mohammed Moulessehoul im algerischen Wüstenort Kenadza geboren. Sein Vater ist Mitglied in der Nationalen Befreiungsarmee (ALN). Im Alter von neun Jahren wird Moulessehoul von seinem Vater an eine militärische Kadettenschule (Ecole Nationale des Cadets de la Révolution) geschickt, um aus ihm einen Offizier zu machen. An der Académie Militaire Inter-armes erhält er seine weitere militärische Ausbildung.

Nach drei Jahren wird er dort im Jahr 1975 im Rang eines Unterleutnants entlassen und tritt den kämpfenden Einheiten an der westlichen Front bei. In dieser Zeit schreibt er seine ersten Prosastücke, die auch veröffentlicht werden. 1989 erlässt das algerische Militär, dass Armeeangehörige schriftliche Erzeugnisse vor der Veröffentlichung einer Zensurbehörde vorlegen müssen.

Um dem zu entgehen, schreibt Mohammed Moulessehoul von nun an unter Pseudonym, zunächst als Commissaire Llob, eine seiner Romanfiguren, dann unter den beiden Vornamen seiner Frau: Yasmina Khadra (»grüne Jasminblüte«). International bekannt machten ihn die Ende der Neunzigerjahre erschienenen Kriminalromane Morituri, Doppelweiß und Herbst der Chimären. Darin beschreibt er das Drama des postkolonialen Algeriens, das in Terror und Bürgerkrieg zu versinken droht.

Nach fast 36 Jahren Militärzugehörigkeit verlässt Moulessehoul im Jahr 2000  die algerische Armee und geht mit seiner Frau und seinen drei Kindern ins Exil nach Frankreich, nach Aix-en-Provence.

In einem Interview mit Le Monde enthüllt er im Dezember 2000 die wahre Identität von Yasmina Khadra. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt Die Attentäterin. Der vielfach ausgezeichnete Roman erhielt unter anderem den französischen Buchhändlerpreis 2006 und wird derzeit in den USA verfilmt. 

Werke:

Les Sirènes de Bagdad, 2006 

L'Attentat 2005, dt. Die Attentäterin, 2006. 

La Part du mort 2004; dt. Nacht über Algier 2006 

Cousine K. 2003 

Les Hirondelles de Kaboul 2002; dt. Die Schwalben von Kabul 2003 

L'Imposture des mots 2002

L'Écrivain 2001 

À quoi rêvent les loups 1999; dt. Wovon die Wölfe träumen 2002 

Les Agneaux du Seigneur 1998; dt. Die Lämmer des Herrn 2004 

Morituri 1997; dt. 1999  

Double Blanc 1997; dt. Doppelweiß 2000

Automne des chimères 1998; dt. Herbst der Chimären, 2001

La Foire des enfoirés 1993

Le Dingue au bistouri 1990

Le Privilège du phénix 1989

De l'autre côté de la ville 1988

El Kahira 1986

La Fille du pont 1985

Houria 1984

Amen 1984




»Ich mag keine Bücher«


Interview mit dem Schriftsteller Thierry Crifo

von Sandra Wickert, erschienen am 15.10.2006

Mann mittleren Alters, gerade aus vierjähriger Haft entlassen. Während dieser Zeit hat er sich den inoffiziellen Regeln des Knasts widersetzt, ist weder tätowiert noch hingen in seiner Zelle die Poster barbusiger Mädchen an der Wand: Denn diese vier Jahre hat er damit verbracht, von »ihr« zu träumen, von Eléonore, seiner großen Liebe, seiner Obsession, für die er schließlich mit dem Gefängnis bezahlen musste. Jetzt ist er frei und er macht sich auf, diese eine, große Liebe zu suchen. So beginnt der neue Roman Obsession Elle von Thierry Crifo, den der französische Autor Ende Mai im Rahmen der Genshagener Schriftstellerwochen in Berlin vorgestellt hat.

Seit seinem Werk Pigalle et la fourmi, das er im Jahr 2001 veröffentlichte, ist Crifo in seinem Heimatland kein Unbekannter mehr. Obwohl keines seiner Bücher bisher auf Deutsch erschienen ist, ist Crifo auch für die deutsche Leserschaft, die der französischen Sprache mächtig ist, sehr interessant. Er lässt sich stets von den Orten beeinflussen, an denen er sich aufhält. So kann man in seinem Werk Paris Parias, erschienen 2005, das Paris der Nacht fast schon fühlen und wartet nur darauf, zu lesen, was er aus seiner Zeit in Berlin und Genshagen mit in seine zukünftige Literatur einfließen lassen wird.

Aus diesem Grund hat rencontres den Autor in Berlin getroffen, um mehr über ihn und sein Schaffen zu erfahren, und zwar im Kant-Cafe in Charlottenburg, wo er gleich zum Stammgast geworden ist. Thierry Crifo sieht nicht gerade so aus, wie man sich den typischen französischen Intellektuellen vorstellt: Armeehosen mit unzähligen Taschen und auf dem Kopf eine Strickmütze, die sein wild gelocktes, graumeliertes Haar nur unzulänglich bedeckt. Eher französisch wirken dann doch sein edles, abgegriffenes Sakko, der ständige Zug an einer Zigarette und eine zugleich schüchterne und charmante Art, die den Zuhörer sofort in seinen Bann zieht, wenn er zu erzählen beginnt.

Der 1954 in Tunis geborene Autor nahm einige Umwege in Kauf, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Ein Tag am Meer hat für den jungen Crifo im Alter von 22 Jahren das Leben verändert – als ihm urplötzlich Worte in den Sinn kamen, die er zu einem Gedicht formte, das er nicht mehr vergessen konnte und woraus sich schließlich die erste Seite seines Debütromans Toile de Fond entwickelte, der 1984 bei dem Verlag Librairie des Champs-Élysées erschien.

Zuvor hatte er Jura studiert. Aber er wurde nicht Anwalt, sondern Kameramann. Erst seit 13 Jahren ist Crifo Vollzeitautor. Seine Gefühle überträgt der Autor auf andere, fiktive Personen, die ihm somit helfen, Erlebtes zu verarbeiten. Nach einem durchaus erfolgreichen Ausflug als Drehbuchschreiber für Fernsehserien, wohin es ihn mehr oder weniger per Zufall verschlagen hatte, entscheidet sich Crifo schließlich im Jahr 1993, nur noch Romane zu schreiben.

Die Protagonisten sind dabei fast ausschließlich Personen, die sich in der Krise befinden, Randfiguren auf der ständigen Suche nach Zuwendung, Menschlichkeit, Verständnis. Im Gespräch mit dem Autor wird klar, warum dies so ist: Er selbst fühle sich als Teil dieser Randfiguren, sei sogar »der Erste unter ihnen«, ein Nachtschwärmer und Einzelgänger. Und da ist es kein Zufall, dass Marc Voisin, die Hauptfigur seines neuen Romans, dieser Beschreibung sehr ähnelt: Ein Mann, der zu sehr geliebt hat und keinen Schlussstrich unter die verflossene Liebesbeziehung ziehen kann.


Dass die Geschichte von Obsession Elle seine sei, gibt Thierry Crifo dann auch freimütig zu. »Ohne die Gewalt, ohne das Krankhafte, das im Roman vorkommt. Aber den Rest habe ich erlebt.« Die zwei Jahre, die er brauchte, bevor er durch das Schreiben des Romans das Geschehene reflektieren und verarbeiten konnte, waren eine Art innere Gefangenschaft, in der er nicht vorangekommen ist.

Als er dann veröffentlicht wurde, hat er kurz überlegt, es ihr zu schicken, hat diesen Gedanken jedoch schnell wieder verworfen. Das Buch, ein klassischer Roman Noir, lässt gleich von Anfang an nichts Gutes erahnen. Es entsteht schnell das Gefühl, dass die Geschichte nicht gut enden kann, dass sie unweigerlich zum Untergang führen wird. Dies erinnert ein wenig an Betty Blue, ein Roman, den Philippe Djian 1985 veröffentlichte. Dort ist das Unglück auch gleich schon zu Beginn fühlbar, auch wenn zunächst die Beweise fehlen.

Nein, Djian sei kein Vorbild für ihn, so Crifo, er fühle sich aber sehr geschmeichelt, mit ihm verglichen zu werden. Er lese überhaupt nicht viel, er möge keine Bücher, sondern das geschriebene Wort an sich, und als Intellektuellen sehe er sich schon gar nicht.Deutschland war für den Autor bisher ein fast weißer Fleck auf der Landkarte. Abgesehen von einem Praktikum beim Hannoveraner Keksfabrikanten Bahlsen in jungen Jahren hat er noch nicht viel von diesem Land gesehen.

In Berlin war er jetzt erstmals im Rahmen der Genshagener Schriftstellerwochen. Die deutsche Hauptstadt hat ihn dabei sehr überrascht: »In meiner Klischeevorstellung war Berlin eine Stadt der Exzesse, ein elektrisierender, hektischer Ort mit Sex, Drugs und Rock’n’Roll.« Seine Erfahrung hier sei aber eine ganz andere. Es sei ruhig, es gebe keine Staus, die Architektur der viergeschossigen Altbauten sei sehr angenehm, es sei schick, ruhig, und die Lebensqualität äußerst hoch.

Das mag wahrscheinlich daran liegen, dass Crifo im bürgerlichen Westberliner Stadtteil Charlottenburg gewohnt hat. Inzwischen hat er aber sicherlich auch das »andere« Berlin kennen gelernt – denn sein nächstes Buch, La romance de Berlin, ist schon in Arbeit.

Thierry Crifo, Obsession Elle, Paris, 2004, Éditions La Vie du Rail




Mann gegen Mann: Die Kontroverse um die Aufgaben der literarischen Kunst im Ersten Weltkrieg


von Simone Brink, erschienen am 01.06.2006

»Das Bruderproblem ist das eigentliche, jedenfalls das größte Problem meines Lebens. So große Nähe und so heftige innere Abstoßung ist qualvoll. Alles zugleich Verwandtschaft und Affront.« So schrieb der spätere Nobelpreisträger Thomas Mann während des Ersten Weltkrieges über die Beziehung zu seinem älteren Bruder Heinrich. Diese Aussage ist umso erstaunlicher als die Brüder auf eine traute gemeinsame Kindheit in bürgerlich-gefestigten Verhältnissen zurückblicken konnten, die trotz des relativ frühen Todes des Vaters – Thomas Mann war sechzehn Jahre alt, Heinrich bereits zwanzig – weder von finanziellen Nöten noch von fehlenden Bildungsmöglichkeiten geprägt war. So entwickelten beide Brüder schon früh ihre schriftstellerischen Neigungen und hatten mit ihren Publikationen auch rasch Erfolg. Thomas Mann war mit seinem 1901 erschienenen Roman Buddenbrooks schlagartig berühmt geworden und folgte damit seinem Bruder Heinrich, der bereits ein Jahr zuvor mit dem Roman Schlaraffenland zu Bekanntheit gelangt war. Obwohl beide also in gleichem Maße von gesellschaftlicher Anerkennung verwöhnt waren und daher Neid ein nur sekundäres Motiv für dieses »Bruderproblem« darstellte, empfanden sie doch eine intensive Hassliebe füreinander. Woher stammte folglich die »innere Abstoßung« von Thomas und von Heinrich Mann?

Sie ist auf die konträren intellektuellen Denkkonstrukte und die völlig verschiedenen Selbstbilder zurückzuführen: Während sich Thomas Mann als Vertreter deutscher Kultur in der Tradition von Wagner, Schopenhauer und Nietzsche sieht, entdeckt Heinrich Mann seine Vorbilder in Frankreich in Voltaire, Hugo und Zola. Die Gebrüder Mann finden ihre geistigen Väter – obwohl schließlich beide deutscher Herkunft – also einerseits in der französischen, andererseits in der deutschen Kultur. Da der Krieg diese konträren Auffassungen zur Kunst betonte, ja sie gar radikalisierte, bedeutete gerade die Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges für ihr bis dahin annehmbares Verhältnis einen herben Einschnitt. Denn trotz vieler Gemeinsamkeiten der Brüder wie zum Beispiel ihrer Liebe zu Deutschland und ihres Daseins als Schriftsteller weisen Thomas und Heinrich Mann der Kunst konträre Aufgaben zu. Zwar erkennen beide die Grenzen der Kunst an, indem sie ihr die Fähigkeit absprechen, zur Veränderung von politischen oder gesellschaftlichen Begebenheiten beitragen zu können, jedoch ziehen die Brüder verschiedene Schlussfolgerungen daraus. Während Thomas Mann davon ableitet, dass die Kunst gerade wegen ihrer partiellen Ohnmacht apolitisch sein müsse und dass sie nichts weiter als « l’art pour l’art » sein soll, meint Heinrich Mann, dass sie trotz ihrer Begrenztheit vom politischen Drang getrieben sein müsse.

Dieser so genannte Bruderzwist manifestiert sich in den beiden Essays Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) von Thomas Mann und Macht und Mensch (aus demselben Jahr) von Heinrich Mann. In diesen beiden Werken zeigt sich der Grundkonflikt der Intellektuellen zu jener Zeit: Wie soll sich die Kunst hinsichtlich der Politik und ihrer Fortsetzung mit anderen Mitteln, wie Clausewitz den Krieg einstufte, verhalten? Die Antworten könnten kaum gegensätzlicher ausfallen. Im Sinne Heinrich Manns soll die Kunst just das schelten, was sie liebt, und damit eben eine wie in Frankreich vertretene « littérature engagée » zum Wohle des Volkes sein. Die Kunst hat die vornehmliche Funktion, das Volk zu demokratisieren, indem sie ihm Vorbilder wie zum Beispiel Rousseau an die Hand gibt. Heinrich Manns naiver Kulturidealismus trifft an dieser Stelle auf Thomas Manns eitlen Kulturelitismus: Gerade diesen kollektiven Erziehungsauftrag nämlich weist Thomas Mann als Bestimmung der Kunst von sich.

Bei diesen konträren Geisteshaltungen verwundert es denn auch kaum, wie unterschiedlich die Gebrüder Mann auf den Ersten Weltkrieg blickten. Thomas Mann und andere leidenschaftliche Kriegsbefürworter sahen in diesem Krieg eine Möglichkeit zur Selbstbefreiung und zur Entblößung des Unrechts anderer (auch wenn dafür selbst Unrecht begangen werden muss), ja sogar eine natürliche Ausprägung der Kultur, während Heinrich Mann den Krieg als bloßen Leidensbringer deklarierte, ihn jedoch mit der Perspektive auf eine verbesserte Gesellschaft akzeptierte.

Diese Gegensätzlichkeit der Brüder Mann, die vor und während des Ersten Weltkrieges trotz ihrer deklarierten Bruderliebe weder private noch geistige Annäherungen zuließ, war nicht nur das Schicksal der beiden, sondern kann auch auf die zwei vorherrschenden europäischen Kunstauffassungen im Kontext des Ersten Weltkrieges übertragen werden: Diese stießen sich genauso heftig ab wie die individuellen Einstellungen von Thomas und Heinrich Mann. Dabei wurden – und das ist das Besondere – die intellektuellen Grabenkämpfe um die Aufgaben der Kunst innerhalb der Kriegsparteien, also innerhalb Frankreichs und Deutschlands ausgetragen. Sie lassen sich daher nicht – wie man leicht meinen könnte – den jeweiligen Nationen zuordnen, so dass man Thomas Mann als Vertreter einer deutschen und Heinrich Mann als Vertreter einer französischen Kunstauffassung sehen könnte oder generell von einer nachgeraden französischen oder deutschen Haltung der Intellektuellen gegenüber der Kriegssituation sprechen könnte. Nein, die Positionierung der Intellektuellen war nicht an nationale Grenzen gebunden, sondern an einer der zwei beschriebenen Kunstauffassungen ausgerichtet, die eben zur Kriegszeit in Europa vorherrschend waren. So war es möglich, dass sich zwei deutsche Brüder zerstritten, indem sie eben konträr die zwei verschiedenen Denkhaltungen vertraten, – und das auch noch im selben Land. Die Gebrüder Mann versinnbildlichen also eine geistige Dekonstruktion nationaler Grenzen, die das vorläufige Ende des Unheil bringenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts bedeutete und den Weg für eine Annäherung der europäischen Staaten ebnete.


Zur weiterführenden Lektüre

Mann, Thomas (2004): Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt: Fischer. ISBN: 3596150523. Preis: 13,90 Euro.
Mann, Heinrich (1988): Macht und Mensch. Frankfurt: Fischer. ISBN: 3596259339. Preis: 8,95 Euro.
Jasper, Willi (1994): Heinrich und Thomas Mann. In: Karlauf, T. (Hrsg.): Deutsche Brüder. Zwölf Doppelportraits. Berlin: Rowohlt. ISBN: 349960128
Keller, Ernst (1965): Der unpolitische Deutsche. Eine Studie zu den Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann. Bern: Francke Verlag.
Kurzke, Hermann (1991): Thomas Mann. Epoche, Werk, Wirkung. O.O.: C.H. Beck Verlag.
Müller, Harro (1981): Heinrich Manns Konzeption des Art Social. In: Vermittler: H.Mann, Benjamin, Groethuysen, Kojève, Szondi, Heidegger in Frankreich. Deutsch-französisches Jahrbuch. Frankfurt: Syndikat.
Werner, Renate (1989): Nachwort zu Macht und Mensch. Frankfurt: Fischer.


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Zadig bleibt Optimist, die Galeries Lafayettes versuchen es: Französische Buchhandlungen in Berlin


von André Glasmacher, erschienen am 15.05.2006

Einen Stadtplan der nordfranzösischen Stadt Lille, den der ältere Herr in der französischen Buchhandlung Zadig in Berlin sucht, hat Besitzer Patrick Suel gerade nicht im Angebot. Dafür aber die neusten Erscheinungen aus Paris sowie Klassiker der französischen Literatur, die an Gymnasien gerne für den Französischunterricht benutzt werden. Der nächste Kunde ist ein Deutscher und möchte nur etwas Französisch sprechen, vielleicht auch ein Buch kaufen. »Wir sind eben auch ein kultureller Begegnungsort«, sagt Patrick Suel. »Die Leute suchen den Kontakt zu uns, zur französischen Sprache. Und ab und zu legen sie auch ein Buch zu.«

Aktuell gibt es zwei Buchhandlungen in Berlin, die ausschließlich französische Bücher verkaufen: das Geschäft von Patrick Suel im schicken Stadtbezirk Mitte und die Bücherabteilung im Kaufhaus Galeries Lafayettes, ebenfalls in Mitte. Vor einigen Jahren waren es noch mehr. Zuerst schloss vor drei Jahren die Romanische Buchhandlung und auch das leer stehende Erdgeschoss im Institut Français auf dem Kurfürstendamm, der Berliner Prachtstraße im Westen der Stadt, erinnert noch daran, dass es hier einmal eine Buchhandlung gab. Doch Zadig behauptet sich seit Herbst 2003 in Mitte. »Das Geschäft läuft ganz gut. Wir verkaufen so um die 30 Bücher pro Tag«, sagt Patrick Suel. Kunden seien nicht nur Deutsche, sondern auch Franzosen und viele Französischsprachige wie Afrikaner, Schweizer und Kanadier.

2003 zog der erklärte »französische Berliner« mit seiner Frau von Paris nach Berlin, um hier ein Geschäft aufzumachen. Von der Seine-Stadt hatte er damals genug: »Zu versnobt, zu glatt.« Auf die Idee, einen französischen Buchladen gerade in Berlin zu gründen, kam er, weil er den Eindruck hatte, dass es im »Spree-Athen eine echte Nachfrage« gab. Dass die bisherigen Buchhandlungen dennoch scheiterten, führt Suel auf andere Gründe zurück als etwa auf eine mangelnde Nachfrage: So habe die Romanische Buchhandlung zu abseits gelegen, nach dem Fall der Mauer sei sie an den Rand gedrückt worden und der Buchhandlung im Institut Français sei nach dem Abzug des Militärs aus dem ehemaligen französischem Sektor die Kundschaft weg gebrochen: »Die hatten sich auf ein zu altes Publikum eingestellt.«

Nicht zuletzt möchte Suel mit Zadig aber vor allem »die französische Sprache in Berlin bekannter machen und neue französische Literatur sowie Autoren vorstellen.« Dass dies weiter gelingen wird, davon ist der studierte Philosoph überzeugt. Nicht umsonst verweise der Name der Buchhandlung ja auf die Hauptfigur des bekannten Romans von Voltaire, auf Zadig eben, der vom Schicksal arg gebeutelt wird und dennoch immer Optimist bleibt.


Im Untergeschoss der Galeries Lafayettes wartet Monsieur Laitier auf Kundschaft und stellt Bücher in die Regale. Er ist zwar nicht der Besitzer, aber einziger Angestellter der Buchabteilung des großen Kaufhauses. Der 51-Jährige Pariser vermag nicht zu sagen, ob er Optimist oder Pessimist ist: »Wir haben finanzielle Schwierigkeiten gehabt und haben noch immer welche. Aber die Galeries Lafayettes haben die Buchhandlung hier, wenn Sie so wollen, subventioniert.« Er verkauft vor allem an deutsche Kunden.

Immer wieder schauen diese aus der belebten Einkaufspassage im Quartier 205 und aus dem Bistro des Kaufhauses herein, blättern in den Bildbänden und den ausgelegten Neuerscheinungen. Zuweilen kämen aber auch Franzosen, Touristen und langjährige Berliner Franzosen, die ein bestimmtes Buch suchten, so Laitier. Zu diesen gehört auch David, der regelmäßig nach Lektüre sucht. Für den 30-jährigen Webdesigner ist die Buchhandlung vor allem wichtig, »um mit meiner Muttersprache in Berlin in Kontakt zu bleiben«. Monsieur Laitier mag seinen Beruf, ist mit Leib und Seele Buchhändler denkt aber auch: »Eine französische Buchhandlung in Berlin ist wohl nicht dazu da, um Geld zu verdienen.«

Die bisherige Entwicklung in Berlin scheint den Trend zu bestätigen, wenn auch die Gründe für das Scheitern im Einzelnen unterschiedlich gewesen sein mögen. Dass Zadig sich bisher erfolgreich behaupten konnte, könnte sich zum einen durch die zentrale Lage im »angesagten« Szenebezirk erklären lassen, als auch durch das Konzept von Besitzer Patrick Suel: So verkauft der ja nicht nur Bücher, sondern pflegt einen engen Kontakt zur Kundschaft und veranstaltet Lesungen französischer Autoren, um so dem kulturellen Bedürfnis von Exilfranzosen und frankophilen Berlinern nach Französischer Kultur nachzukommen. Für französische Mode und « La bonne chère » wären dann eher die Galeries Lafayettes zuständig – und auf diesem Gebiet ist das französische Kaufhaus in Mitte unschlagbar.

Links zu den französischen Buchhandlungen in Berlin im Adressbuch

Foto Zadig von André Glasmacher, Lafayette Livres © Galeries Lafayette




Farce und Tragödie zugleich: Jean Egens Autobiographie Die Linden von Lautenbach


von André Glasmacher, erschienen am 01.01.2006

Vor zehn Jahren starb der elsässische Journalist und Schriftsteller Jean Egen. Seine Autobiographie Die Linden von Lautenbach, die 1979 zunächst in Frankreich erschienen ist, kennt man in Deutschland nicht zuletzt durch den Fernsehfilm mit Mario Adorf (1985). Inzwischen liegt die 15. Auflage des Buches vor, während es in Frankreich längst vergriffen ist und nur noch in Antiquariaten im Elsass zu bekommen ist. Egen selbst hat lange Jahre vor allem als Journalist in Paris gearbeitet und sich einmal ironisch als  einen »Elsässer von der Butte Montmartre&« bezeichnet. Neben seiner Tätigkeit für das Pariser Satireblatt Le Canard enchaîné und als Reporter für die Monatszeitung Le Monde diplomatique betätigte er sich immer wieder auch schriftstellerisch.

Die Autobiographie behandelt vor allem Egens Jugendjahre. Prägend für diese Zeit ist das Gefühl, in einem »Niemandsland« zwischen zwei Kulturen und drei verschiedenen Sprachen zu leben. Diese kulturelle und sprachliche Mehrschichtigkeit ergibt sich aus der Geschichte der Region: Zunächst Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches kam das Elsass infolge des Dreißigjährigen Krieges teilweise an Frankreich. 1681 annektierte Ludwig der XIV. auch den übrigen Teil. Durch den für Frankreich verlorenen Deutsch-Französischen Krieg ging es 1871 zum neu gegründeten Deutschen Reich über – bis 1918. Dann gewann Frankreich es erneut zurück. Die Elsässer sind jetzt wieder Franzosen, doch sprechen sie schlecht oder überhaupt kein Französisch, und durch ihren alemannischen Dialekt sind sie als »Boches« suspekt.

Jean Egen wächst allerdings nicht im Elsass auf, wo er 1920 geboren wurde, sondern in Audincourt, im französischen Department Franche-Comté. Durch seinen Nachnamen ist er eindeutig als Elsässer erkennbar und versucht diesen »Makel« durch ein Doppeltes an französischem Patriotismus wettzumachen. Für Jean-Paul Sorg, Philosophieprofessor an der Université de Haute-Alsace in Mulhouse ist der von den Elsässern zur Schau gestellte Patriotismus eine »merkwürdige Leidenschaft, die sich vielleicht durch Widerstandsgeist geformt hat, um sich über die Deutschen und über die Preußen lustig zu machen, die oft genug als Unterdrücker gekommen sind. Sie schließt aber nicht die deutsche Kultur aus, wie die Sprache, die Lieder und die Gedichte von Goethe und Lenau.«

Die Autobiographie hat aber auch »viele Elsässer glücklich gemacht, indem sie ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen hat und indem sie ihre komplizierte Geschichte erzählt hat, die Farce und Tragödie zugleich ist«, so Sorg weiter. Die eigentliche Tragödie des Elsässers ist dabei, dass er zutiefst verliebt in Frankreich ist – auch wenn er dort mit seinem Dialekt schief angesehen wird: »Wenn die Franzosen wüssten, wie sehr wir sie lieben, dann würden sie sich schämen, sich über uns lustig zu machen«, schreibt Egen in den Linden.

In Deutschland hat man durch das Buch vor allem auch die jüngste Geschichte des Elsass erfahren: Da sind die dunklen Jahre der deutschen Besetzung von 1940 bis 1944, das Schicksal der 140 000 Zwangseingezogenen, die in der Wehrmacht dienen mussten und von denen etwa 32 000 nicht mehr zurückkehrten. In diesem Sinne sind die Linden von Lautenbach ein wichtiges Dokument, das dadurch, dass es unmittelbar aus der Erfahrung schöpft, einen höheren Erkenntnisgewinn verschafft als so manche trockene Geschichtsschreibung. Die Bedeutung von Egens Werk liegt auch darin begründet, »dass er auf die elsässische Identität überhaupt erst hingewiesen hat. Viele französische Journalisten haben frank und frei zugeben, dass sie bis zu den Linden von Lautenbach vom Elsass überhaupt keine Ahnung hatten«, so Michel Wagner, Präsident des Heimatvereins S´Lindeblätt, der sich um das Andenken des Schriftstellers kümmert.

Die Linden von Lautenbach beschwören aber auch die Landschaft des Elsass und vor allem die elsässische Esskultur. Hier geht es durchweg deftig zu – sowohl auf dem Tisch, wo der streng riechende Minschterkäse die Gäste verzückt, »mit deutschem Geruch, französischem Geschmack und daher typisch elsässisch«, als auch unter dem Tisch, wo häufig die Beine der Nachbarin getätschelt werden. Und schon mit zehn Jahren hat der Elsässer nichts anderes im Sinn, als die Nachbarstochter in ein leer stehendes Haus zu locken, um dort »Doktor zu spielen.« Der Elsässer ist wohl auch deshalb ein Genussmensch, weil er ständig davon bedroht ist, einer der zahlreichen Invasionen zu erliegen, die das Land im Lauf seiner Geschichte schon erlitten hat. Bei Jean Egen wird das Elsass so zu einer universellen Allegorie der Grenzgängervölker, die zwischen den Kulturen hin- und hergerissen werden – wie das Kind in Brechts Parabel Der kaukasische Kreidekreis. Der wichtigste Satz steht dabei gleich zu Beginn des Buches: »Deutsche und Franzosen sind nicht dazu bestimmt, einander bei der Gurgel zu packen, sondern einander die Hand zu reichen.«

Jean Egen, Die Linden von Lautenbach. Eine deutsch-französische Lebensgeschichte, Rowohlt, 7, 90 €, ISBN 3-499-15767-5 




Zeugnis für die Zukunft – Geneviève de Gaulle Anthonioz’ Buch La Traversée de la nuit


von André Glasmacher, erschienen am 15.11.2005

»Parlez-moi d'amour, dites-moi des choses tendres«  – diese Worte schreibt Geneviève de Gaulle Anthonioz im Februar 1945 in ein Poesiealbum, das ihr eine SS-Sekretärin hinhält, als sie aus dem Konzentrationslager Ravensbrück entlassen wird. Eine surreale Szene, mit der das Buch eröffnet und die Zeile des populären Schlagers von Lucienne Boyer aus den 30er-Jahren wirkt besonders zynisch vor dem Hintergrund dessen, was die Autorin gerade erlebt hat. Ein knappes Jahr KZ-Haft, in dessen Verlauf sie in einen Abgrund menschlicher Grausamkeit blickt: durch medizinische Versuche verstümmelte Frauen, von Hunden zerrissene oder zu Tode geprügelte und mit dem Spaten geköpfte Menschen, am Rande des Hungertodes lebend und stetig den Schikanen der SS ausgesetzt.

Das Buch, bereits 1988 in Frankreich publiziert, ist nun in der Reihe Fremdsprachentexte bei Reclam herausgekommen. Hier werden Texte in Originalsprache veröffentlicht, am Ende jeder Seite befindet sich ein Glossar, das fortlaufend all jene Wörter übersetzt, die über den Mindestwortschatz hinausgehen – somit eignet sich der Text auch gut für den Französisch-Unterricht. Zudem ist der Edition von Reclam ein Dossier beigegeben, das Hintergründe erhellt und einen Kontext zur Zeitgeschichte herstellt.

Am 20. Juli 1943 wird die Autorin, Nichte Charles de Gaulles, als Wiederstandskämpferin in Paris verhaftet und für sechs Monate in Frèsnes (bei Paris) von der Gestapo inhaftiert. Von dort wird sie in das KZ Compiègne gebracht und anschließend nach Ravensbrück deportiert. In diesem Dorf, das 90 Kilometer nördlich von Berlin liegt, unterhält die SS seit 1939 ein Konzentrationslager für Frauen. Zeitweise werden dort bis zu 152.000 Frauen und Kinder aus 40 verschiedenen Nationen interniert; etwa 7000 davon sind Französinnen. Nach einer mehrtätigen Fahrt trifft Geneviève de Gaulle hier am 3. Februar 1944 zusammen mit 958 Häftlingen ein und bekommt die Nummer 27372 auf den Arm tätowiert.  

Zuerst muss die Autorin Zwangsarbeit leisten, dann kommt sie in einen »Bunker«  in Einzelhaft. »Es gibt keine Decke, keinen Strohsack, das Brot wird alle drei Tage verteilt, die Suppe alle fünf Tage. Die Verurteilung zum Bunker wird von einer Bastonade begleitet: 25, 50 oder 60 Schläge, die mancher schwer überlebt.«  Um in der Einsamkeit nicht den Verstand zu verlieren, rezitiert die Autorin Gedichte und veranstaltet Wettrennen mit Kakerlaken, die sie Viktor und Félix nennt. Ihre »privilegierte«  Behandlung – sie erhält bald bessere Nahrung und Vitamintabletten – ist wohl der sich verschlechterten Kriegssituation Nazi-Deutschlands geschuldet: SS-Führer Heinrich Himmler versucht Anfang 1945 mit General de Gaulle in Kontakt zu treten, um ohne Hitlers Wissen einen Sonderfrieden auszuhandeln, doch der General antwortet nicht auf das Schreiben Himmlers.

Nachdem Geneviève de Gaulle im Februar aus der KZ-Haft entlassen worden war, verbringt sie zunächst zwei weitere Monate in einem Internierungslager in Baden-Württemberg, um dann, kurz vor der Kapitulation Deutschlands, in die Schweiz ausgeliefert zu werden. Sie braucht ein Jahr, um wieder zu Kräften zu kommen, noch im KZ hatte sie konstatiert: »Man muss dennoch versuchen zu leben, der Geschmack daran kommt schnell zurück.« 

In den 50er-Jahren arbeitet Geneviève de Gaulle im Kulturministerium unter André Malraux und engagiert sich in vielfältiger Weise: Sie wird Präsidentin von ATD (Aide à toute détresse) Quart Monde, einer Organisation, die sich dem Kampf gegen die Großstadtarmut verschrieben hat, und engagiert sich bei der L'Association Nationale des Anciennes Déportées et Internées de la Résistance, einer Gruppe, die sich für Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich gerade dadurch einsetzt, dass sie Zeugnis von den Schrecken ablegt, die in Deutschlands Namen begangen wurden, »damit man nicht vergisst und sich niemals ein solcher Hass von neuem entfesselt.« 

Auch mit ihrem Buch möchte die Autorin vor allem Zeugnis ablegen. In einer unaufdringlichen, fast schon zu sachlichen Sprache entsteht das System KZ, dessen Ziel »die Zerstörung unserer Seele ist« . Eindringlich lässt La traversée de la nuit ahnen, was sich hinter einem administrativen Kürzel wie »KZ« , das immer wieder zu hören ist und mancher endlich nicht mehr hören, will in Wirklichkeit verbirgt: Aber auch 60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz muss man zuhören. 

Geneviève de Gaulle Anthonioz, La traversée de la nuit. Texte et dossier, Reclam € 3,20, ISBN 3-15-009130-6 




Auf den Spuren von Heinrich Heine. Deutsche Schriftsteller in Paris


von Ann-Dorit Boy, erschienen im Juni 2005

Mit Heinrich Heine fing sie an – die Liebe deutscher Schriftsteller zu Paris. Und das, obwohl der Weg des Dichters an die Ufer der Seine weder leicht noch freiwillig war. Als Heine im April 1831 als Zeitungskorrespondent ins liberale Paris kommt, flieht er vor der antijüdischen Stimmung und dem Nationalismus in der preußischen Heimat: »Minder die Lust des Wanderns als die Qual persönlicher Verhältnisse treibt mich von hinnen«, schreibt Heine in dieser für ihn schweren Zeit.

Mit Veröffentlichungen zur französischen Kultur und zur deutschen Literatur und Philosophie bemüht er sich in den folgenden Jahren vergeblich, zwischen Deutschland und Frankreich zu vermitteln. Der durch die Gedichtsammlung Buch der Lieder schon bekannte Dichter wird zwar in die Pariser Gesellschaft integriert und lebt bis zu seinem Tod im Jahr 1856  in der französischen Hauptstadt, den Schmerz über den Verlust der deutschen Heimat hat er aber nie verwinden können.

Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wird er zur Identifikationsfigur für viele deutsche Literaten, die nach ihm in Paris Freiheit, Inspiration oder Asyl suchen. Die kulturell und gesellschaftlich avantgardistische Stadt wird so zur »passage obligé« für eine ganze Generation und wer einmal Pariser Luft geschnuppert hat, ist tief beeindruckt und verleiht der Begeisterung meist schreibend Ausdruck.

Die Art dieser Faszination ist allerdings je nach Herkunft und Wesen der Literaten sehr unterschiedlich. Den jungen Dramatiker Frank Wedekind reizt Paris als die Stadt der freien Liebe. In seinen offenherzigen Tagebucheintragungen kann man intime Details über seine Besuche im Moulin Rouge und die Liebesabenteuer mit diversen Mädchen lesen: »Ich erwarte Katja im Café, wir dinieren zusammen mit Marguerite, fahren um 1 Uhr auf meine Stube, wo ich sie auffordere sich ins Bett zu legen« notiert er beispielsweise im Mai 1892. Nach drei Jahren des Pariser Rausches hat der Lebemann Wedekind aber genug und reist nach London ab.

Rainer Maria Rilke, der im August 1902 zum ersten Mal nach Paris kommt, um ein Buch über den Bildhauer und Künstler Auguste Rodin zu verfassen, erschreckt und verängstigt das Wirrwarr der Metropole: »Mir ist diese wirre Stadt schwer zu ertragen. Bei Arbeit und Einsamkeit geht es so irgendwie«, schreibt der 27-Jährige im Dezember 1902  in einem Brief. Obwohl das Buch über Rodin schnell geschrieben und veröffentlicht ist, bleibt Rilke noch zwölf Jahre in der französischen Hauptstadt: »Ich will vorläufig in Paris bleiben, eben weil es schwer ist.« Die Stadt, die ihn so verstört, inspiriert ihn aber auch zum Tagebuchroman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.

Wie Rilke kommen in den 20er-Jahren auch einige andere deutsche Publizisten und Literaten mit einem konkreten Arbeitsauftrag nach Paris: Joseph Roth, Kurt Tucholsky und Walter Hasenclever reisen als Zeitungskorrespondenten an die Seine. Mit teils heiter schwärmenden, aber auch  kritischen Feuilletontexten, setzen sie dem Paris der 20er-Jahre ein Denkmal.

Fast genau ein Jahrhundert nach Heine ist es dann wieder die deutsche Politik, die eine ganze Gruppe deutscher Intellektueller nach Paris treibt. Schriftsteller und Intellektuelle wie Anna Seghers, Alfred Döblin, Walter Benjamin und Stefan Zweig fliehen vor dem Nationalsozialismus nach Paris. Bis zum Einmarsch der Deutschen 1940 versuchen die meisten dieser Exilanten in der Seine-Metropole literarisch zu arbeiten; sie schließen sich zu Vereinen und Zirkeln zusammen, veröffentlichen Texte und organisieren Aufführungen, Lesungen und Kongresse.

Der Einmarsch der deutschen Truppen nach Paris im Jahr 1940 setzt diesem Schaffen jedoch ein jähes Ende. Stefan Zweig, der 30 Jahre nach seinem ersten Parisaufenthalt wieder als Exilant nach Paris kommt, beschreibt wie kaum ein anderer die Schrecken dieser Tage: »Hitlersoldaten als Garde vor dem Arc de Triomphe. Das Leben ist nicht mehr lebenswert. Ich bin fast 59 Jahre und die nächsten werden grauenhaft sein – Wozu alle diese Erniedrigungen noch durchmachen«, notiert er am 15. Juni 1940  in seinem Tagebuch. Wenige Tage später verlässt Zweig wie so viele andere deutsche Schriftsteller fluchtartig die Stadt und geht nach Brasilien, wo er Anfang 1942 Selbstmord begeht.

Mit den traumatischen Erfahrungen der Exilanten reißt jedoch die lange Reihe der deutschen Autoren in Paris nicht ab. 1956 kommt Günther Grass mit seiner Frau nach Paris. Dort, in der Seine-Metropole, in einem Heizungskeller und nicht etwa in Deutschland, schreibt der gelernte Bildhauer seinen größten Romanerfolg Die Blechtrommel. Nach der Geburt seiner Söhne kehrt Grass 1960 aber nach Berlin zurück.

Der wahrscheinlich bekannteste deutschsprachige Autor, der heute in Chaville bei Paris lebt, ist allerdings kein Deutscher, sondern Österreicher: Peter Handke verbringt erstmals in den 70er Jahren einige Zeit in Paris. In seinem Roman Die Stunde der wahren Empfindung, den er 1975 schreibt, lässt er zahlreiche, persönliche Beobachtungen aus der französischen Hauptstadt einfließen.

Die Stadt so vieler Gedichte, Bücher und Lieder ist also auch den deutschen und deutschsprachigen Autoren seit Heinrich Heine eine schier endlose Quelle der Inspiration. Wer ihren Zauber nachempfinden will, kann entweder in den zahlenlosen Texten genannter Autoren deren ganz persönliches Paris entdecken oder noch besser gleich selbst vor Ort auf ihren Spuren wandeln.

Jochanan C Trilse-Finkelstein, Heinrich Heine. Gelebter Widerspruch – Eine Biographie, Aufbau 2001,€ 10,00 ISBN:3746616972 


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Heinrich Heines Biographie

Heinrich Heine wird 1797 als Sohn eines Kaufmanns in Düsseldorf geboren. Nach einer kaufmännischen Lehre studiert er in Bonn, Göttingen und Berlin Jura. In diesen Jahren verkehrt Heine in den Berliner Salons und besucht auch Goethe in Weimar. 1825 tritt der inzwischen promovierte Jurist wegen der judenfeindlichen Atmosphäre vom Judentum zum Protestantismus über, um eine höhere Anstellung zu finden - vergeblich. Heine führt in den folgenden Jahren ein unstetes Wanderleben und versucht seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller und Journalist zu bestreiten. 1827 erscheint sein heute bedeutendster Lyrikband, das Buch der Lieder, das zum erfolgreichsten Gedichtband des 19. Jahrhunderts wird. Auf der Flucht vor den politischen Verhältnissen in Preußen, flieht Heine 1831 nach Paris. Vier Jahre später verbietet der Bundestag des Deutschen Bundes seine Schriften. In Paris arbeitet Heine als Korrespondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Er zählt zu den liberal-demokratischen Emigrantenkreisen, und kommentiert kritisch das sozialistische Gedankengut seiner Zeit. 1843 reist der Dichter noch einmal nach Deutschland, die Eindrücke der Reise hält er in dem Band Deutschland, ein Wintermärchen fest. Im Alter von 44 Jahren heiratet Heine Crescentia Eugenie Mirat. Aber nur drei Jahre später, 1845, verschlimmert sich seine Rückenmarkskrankheit, an dem er bereits länger leidet. Seit 1848 muss Heine zurückgezogen in seiner »Matratzengruft« leben, wie er es nennt und stirbt schließlich am 17 Februar 1856 in Paris. Heine gilt heute als einer der größten deutschen Dichter, Anerkennung finden seine Werke jedoch erst nach seinem Tod. Die Universität in Heines Geburtsstadt Düsseldorf, welche1965 gegründet wurde, trägt zu Ehren des Dichters den Namen Heinrich-Heine-Universität.




Der Werthereffekt


von André Glasmacher, erschienen im Juni 2005

Wenn die Zahl der Selbstmorde nach dem Freitod eines Prominenten ansteigt, spricht man von »medial vermittelten Nachahmungs-Suiziden« oder vom »Werthereffekt«. Der Begriff kam erstmals vor 30 Jahren auf, das Phänomen aber ist älter: 1775 verbietet der Leipziger Stadtrat den Handel und Verkauf eines Romans, der ein Jahr zuvor anonym erschienen ist, mit der Begründung, dass »itzo die Exempel des Selbstmordes frequenter werden.« Auch wird das Tragen blauer Jacken und gelber Hosen verboten, denn diese trägt der Held des Buches, als er den Selbstmord begeht.

Der Autor, ein junger Jurastudent mit dem Namen Goethe, erhält bald Briefe von erbitterten Vätern, die ihm die Schuld am Freitod ihrer Söhne geben: »Auch mein Sohn hatte mehrere Stellen im Werther angestrichen, von euch wird Gott Rechenschaft fordern über die Anwendung eurer Talente«, heißt es in einem dieser Briefe. Aber Goethe weist alle Schuld von sich, er schreibt: »Und nun wollt ihr einen Schriftsteller zur Rechenschaft ziehen und ein Werk verdammen, das, durch einige beschränkte Geister falsch aufgefasst, die Welt höchstens von einem Dutzend Dummköpfen und Taugenichtsen befreit hat, die gar nichts besseres tun konnten, als den schwachen Rest ihres bisschen Lichtes auszublasen.«

Der Roman, der all diese Selbstmorde ausgelöst haben soll, besteht aus fiktiven Briefen, die der junge Werther an einen Freund schreibt. Werther befindet sich in W., einer Stadt, in die er sich wegen der Reglung einer Erbschaft begeben hat. Hier macht er die Bekanntschaft Lottes, die er bald leidenschaftlich zu lieben beginnt. Doch Lotte ist schon verlobt, mit Albert, einem gemütlichen Biedermann. Bald wird Werther dessen Freund, aber ihr Verhältnis bleibt angespannt. Er ist sich der Hoffnungslosigkeit seiner Liebe zu Lotte bewusst, verlässt fluchtartig W. und tritt eine Stelle als Gesandter am Hof eines Herzogs an. Dort fühlt sich Werther  abgestoßen vom Dünkel der Ständegesellschaft und kehrt nach W. zurück.

Inzwischen haben Lotte und Albert geheiratet, eine Erfüllung seiner Liebe scheint unmöglicher denn je. Vor diesem Hintergrund wagt Werther eines Abends das Undenkbare und oft Erträumte: Während Albert abwesend ist, draußen ein Sturm wütet und Lotte Ossians Gedichte vorliest, umarmt und küsst er sie. Sie reißt sich jedoch los und sagt, dass sie ihn nie wieder sehen wolle. Nun hält Werther nichts mehr am Leben, er leiht sich von Albert Pistolen und erschießt sich. Der Roman endet mit den Worten: »Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben (…) Kein Geistlicher hat ihn begleitet.«

Goethe ist Werther, der Roman reflektiert und verarbeitet seine Liebe zu Charlotte Buff, die er in Wetzlar im Sommer 1772 kennenlernt und die ebenfalls schon vergeben ist. Zu Werthers tragischem Ende hat ihn Karl Wilhelm Jerusalem inspiriert, ein entfernter Bekannter Goethes, der im Oktober 1772 aus enttäuschter Liebe Selbstmord begeht. Der Erfolg des Buches lässt sich auch mit diesem Wirklichkeitsbezug erklären: Werther ist eine Figur, die direkt aus dem Leben geschöpft ist und in der sich eine ganze Generation wieder erkennt: Werther ist der moderne Mensch, hin und her gerissen zwischen der Gesellschaft mit ihren Einschränkungen und ihrer Enge, und seinem Inneren, dem »Herz«, das er immer wieder anruft und das für den Wunsch nach Selbstverwirklichung steht.

Dass Werther an diesem »Herz« scheitert, ist das Tragische, denn das, was er erlebt, ist eine Übergansphase, die jeder in jungen Jahren durchlaufen muss. Diese sollte jedoch nicht im Selbstmord enden, sondern zum nächsten Lebensabschnitt führen und ist aufgrund der Intensität der Gefühle neben allem Schmerz auch bereichernd. 1821 sagt Goethe zu seinem Sekretär Eckermann: »Es müsste schlimm sein, wenn nicht jeder einmal in seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der Werther käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben.«

 

Zur weiterführenden Lektüre:

Johann Wolfgang v. Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Reclam 2002, € 3,20 ISBN: 315000067X
Johann Wolfgang v. Goethe, Die Leiden des jungen Werther, dtv, 4,00 € ISBN 3423026022


Kurzbiographie Goethe

von Maja Langhammer, erschienen im Juni 2005

Johann Wolfgang von Goethe wurde am 28. August 1749 in Frankfurt am Main geboren. Als Kind erhält er vom Vater eine vielseitige Ausbildung und wird von Privatlehrern unterrichtet. Er beginnt ein Studium der Rechtswissenschaft und arbeitet danach als Anwalt in Frankfurt am Main. Schon während der Studienzeit widmet er sich der Dichtkunst. Sein 1774 erschienener Roman Die Leiden des jungen Werther erfährt großen Erfolg und macht ihn zu einem der bekanntesten Dichter Deutschlands. 1776 reist Goethe nach Weimar und tritt dort in den Staatsdienst ein. 1776 bis 1778 unternimmt er seine berühmte Italienreise, auf der er vermehrt naturwissenschaftliche Forschungen betreibt. 1782 erhält er das Weimarer Wohnhaus, in dem er bis zu seinem Tod am 22. März 1832 lebt. Goethes wohl berühmteste Werke sind – neben seinen Gedichten und Balladen - Die Leiden des jungen Werther, Faust und Iphigenie auf Tauris.




Der begabte Sohn. Jens Biskys Buch Geboren am 13. August – Der Sozialismus und ich


von Nadja Dumouchel, erschienen im März 2005

Die Biskys kennt man. Lothar Bisky, den PDS-Vorsitzenden, Norbert Bisky, der ein gefragter Künstler ist und sich vor Aufträgen kaum retten kann, und Jens Bisky, der Feuilletonredakteur bei der Süddeutschen Zeitung ist. Ein bisschen erinnern sie an die Familie Mann, in der fast jedes Mitglied prominent war, aber immer auch im Schatten des Übervaters Thomas stand. Dieser Vergleich, so Jens Bisky, sei »etwas dämlich« und dass die Familie etwa die typische DDR-Familie sei, würde er wohl auch weit von sich weisen. Nun hat er ein Buch über seine Kindheit in der DDR geschrieben: Geboren am 13. August – Der Sozialismus und ich.

Es ist sein erstes Buch, und es handelt von den 23 Jahren, die er in der DDR verbracht hat, aber auch darüber, was für ihn nach der Wende kam. Er erzählt unaufgeregt von seiner Kindheit und seiner Familie, von seiner Jungend zwischen »Kachelofen, Che-Guevara-Porträt und Goethe-Ausgabe«. Die ersten Kapitel sind noch voller Selbstlob, Jens ist der begabte Sohn der Familie Bisky, seine Eltern sind beide hoch angesehene Persönlichkeiten im anderen Deutschland: Der Vater als Akademiker und späterer Direktor der Filmhochschule Babelsberg, die Mutter als SED-Kulturbeamtin. Auch Jens engagiert sich früh, er ist Mitglied der verschiedenen Jugendorganisationen und stets beliebt, führend, korrekt und hilfsbereit. So steht es zumindest in seinen Zeugnissen. Bald wird jedoch klar, dass das Selbstlob im Grunde eine Selbstkritik ist, denn sein Erfolg in der DDR zeugt davon, wie weit Bisky an das System angepasst war.

In seinem Buch stellt Bisky sich die Frage nach der eigenen Blindheit und nach seiner Mitschuld: »Ich hatte die Mauer nicht gebaut, niemanden bespitzelt, keinen Flüchtling erschossen. Aber ich gehörte zu der Partei, die all das organisierte, gerechtfertigt und geleitet hatte.« Es ist eine Enttarnung, eine Aufarbeitung seiner Vergangenheit, in der er vieles von sich preisgibt: Sein Strebertum in der Schule, beispielsweise, oder die IM-Tätigkeit seiner Mutter und die politischen Ideale der Eltern überhaupt. Dadurch, dass Bisky seine Schwächen offen eingesteht, wirkt er natürlich sympathisch, aber die große Ehrlichkeit, mit der er da schreibt, hat einige Lücken. So fragt sich der Leser, was der Satz »Mauertote und Verbote haben meine Eltern nie gerechtfertigt, aber erklärt« zu bedeuten hat, aber hier folgt leider nicht wie die Biskys das genau erklärt haben, was durchaus interessiert hätte, sondern gleich das nächste Thema.

Obwohl viele kleine Details und Anekdoten das Lesen spannend machen, hat der Lebensbericht einige Längen. Mehrere Kapitel erzählen von seiner Zeit bei der NVA. Die vier Jahre, die Bisky bei der Armee verbracht hat, mögen ein ganz zentrales Erlebnis in seinem Leben gewesen sein, sind aber für den Durchschnittsleser nur von mäßigem Interesse. Abwechslung bringt dann wieder das Kapitel Novembersonne, in dem Bisky über seine Karriereanfänge als Journalist beim Jugendradio DT64 erzählt. Bisky scheint sich verändert zu haben und beginnt die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Er fängt an, die innere Unzufriedenheit in der Fehlentwicklung des Staates zu suchen, übernimmt eine kritische Rolle als Beobachter des Geschehens.

Die Zeit nach dem Mauerfall vergleicht Bisky mit einem seltsamen Vulkan, der »scheinbar jederzeit zu Eruptionen fähig und dennoch ohne inneres Feuer, ausgebrannt, bankrott« zu sein scheint. Erst in den Jahren nach der Wende, wird ihm die ganze Bedeutung und Dimension der DDR, wie er sie nicht kannte, bewusst. Er entdeckt ein Land, das verborgen hinter dem »sozialistischen Vaterland« lag, und von dem er in seiner Jugend kaum etwas mitbekommen hatte: Der überzeugte Marxist ist enttäuscht von diesem Staat, der ihm so lange etwas vorgemacht hat. Seine Enttäuschung ist um so größer, als er entdeckt, dass seine erste große Liebe, sein langjähriger Lebenspartner Wolfram, auch IM war: »Der Überwachungsapparat hat den Menschen, den ich am meisten mochte, zum Täter gemacht, der gegen seine und meine Freunde, gegen Bekannte agierte. Mit dieser Geschichte komme ich nicht ins Reine.«


Geht es ihm also darum, mit diesem Buch endlich mit sich ins Reine zu kommen? Möchte er stellvertretend und exemplarisch für andere sprechen, denen es so ähnlich in der DDR ging wie ihm? Ostalgie ist es natürlich nicht, denn von Ostbüchern wie Zonenkinder von Jana Hensel unterscheidet sich Geboren am 13. August erheblich. Es enttarnt und kritisiert nämlich unterschwellig das »schöne warme Wir-Gefühl«, von dem Hensel schwärmt. Jens Bisky geht einen anderen Weg, er möchte eine Gegenstimme zu dieser allzu nostalgischen DDR-Literatur sein, und zwar in einer präzisen und klaren Sprache, die nie pathetisch wirkt. Es geht Bisky mehr um Details als um Gefühle.

Als das Buch Ende September erscheint, versuchen Spiegel-Reporter vergeblich ein Statement von Lothar Bisky zu bekommen. Jens Bisky hat sich von seiner DDR-Vergangenheit abgewendet und sich von der politischen Tätigkeit seiner Eltern distanziert, sein Buch solle als eigenständige Einheit betrachtet werden. Jens Biskys letzte Botschaft ist, er lebe in einem freien Land, und, »als wolle die Geschichte uns ihren Witz überdeutlich zu verstehen geben, hat sie vier der fünf Biskys in den Westen versetzt. Allein der geborene Wessi, mein Vater, muss im Osten bleiben.« Jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigene Art mit der Vergangenheit umzugehen, das hat Jens Bisky verstanden und gibt es dem Leser auf seinem Weg mit.

 

Jens Bisky, Geboren am 13.August Rowohlt Berlin, € 17,90 ISBN 3871345075

Foto von Stephan Koal




Die Entdeckung Deutschlands – Madame de Staël und ihr Buch De l'Allemagne


von André Glasmacher, erschienen im März 2005

Als 1810 in Paris der erste Teil des Buches De l´Allemagne von Madame de Staël erscheint, lässt Napoleon Bonapartes Polizeiminister Fouché kurzerhand die 2000 gedruckten Exemplare konfiszieren und vernichten. In einer Zeit, da Frankreichs Armeen fast die Hälfte der deutschen Länder besetzt halten und Bonaparte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zu Grabe getragen hat, ist ein Buch, das Deutschland idealisiert nur bedingt erwünscht. Zudem ist Madame de Staël dem selbsternannten Empereur seit Jahren in inniger Abneigung verbunden, und so vermutet Bonaparte eine offene Kritik in ihrer Schrift. Madame de Staël wird nach Coppet am Genfer See verbannt und in ihrem Schloss unter Hausarrest gestellt. De l´Allemagne erscheint schließlich 1813 in London.

Madame de Staël wird 1766 als Tochter des Bankiers Jacques Necker in Paris geboren. Sie wächst in einem mondänen, aber auch von der Aufklärung geprägtem Milieu auf, brilliert im Salon ihrer Mutter und erwirbt sich den Ruf charmant und geistreich zu sein. Mit zwanzig Jahren heiratet sie den wesentlich älteren Baron de Staël-Holstein, hat bald eine Affäre, der viele folgen werden, schreibt Erzählungen und ein Drama. Die Revolution treibt die Anhängerin einer konstitutionellen Monarchie schließlich ins Exil: 1792 flieht sie vor dem Schrecken der Französischen Revolution in die Schweiz und wird dort, auf dem Schloss ihres Vaters Anziehungspunkt vieler europäischer Intellektueller wie Schlegel, Lord Byron und Chateaubriand.

Ab 1798 beginnt Madame de Staël sich für Deutschland zu interessieren, sie liest Goethe und Schiller in Übersetzungen und beginnt bald Deutsch zu lernen. Ende 1803 bereist sie das erste Mal den Norden Deutschlands und trifft in Berlin und Weimar auf Schlegel, Fichte, Schiller und besucht Goethe. Dieser schreibt im Januar 1804 über das Treffen an Schiller:

»Heute habe ich zum erstenmal Mad. de Stael bei mir gesehen es bleibt immer dieselbe Empfindung sie geriert sich mit aller Artigkeit noch immer grob genug als Reisende zu den Hyperboreern, deren kapitale alte Fichten und Eichen, deren Eisen und Berstein sich noch ganz wohl in Nutzen und Putz verwenden ließe, indessen nötigt sie einen doch die alten Teppiche als Gastgeschenk, und die verrosteten Waffen zur Verteidigung hervorzuholen.«

Madame de Staël ist eine anspruchvolle und unbequeme Gesprächspartnerin für den Dichterfürsten: Sie behaart auf ihren Ansichten, widerspricht, wann immer es ihr passt und hört in aller Regel nicht richtig zu. Schiller hat Goethe bereits vor der »ganz ungewöhnlichen Fertigkeit ihrer Zunge« gewarnt, die das einzig Lästige an dieser durch und durch charmanten Person sei. Goethe hingegen liebt es, die Staël herauszufordern und durch Widerrede zur Verzweiflung zu bringen. Sie widmet ihm dann einen großen Teil ihrer Schrift, da sie seinen Rang als Dichter vorbehaltlos anerkennt, aber als Mensch ist er ihr nicht sympathisch gewesen, schreibt sie 1805 in einem Brief an den langjährigen Freund Benjamin Constant.

1807 bereist Madame de Staël erneut Deutschland, diesmal den Süden und entdeckt München und Wien. Als Fazit dieser Reisen verfasst sie De l´Allemagne, dort beschreibt sie Deutschland und seine Sitten, Literatur und bildenden Künste, Philosophie und den in Frankreich weitgehend unbekannten Protestanimus. Sie empfindet einen Gegensatz zwischen dem ernsten, intellektuellen Norden mit seinem starken Naturgefühl und dem geselligen Süden mit seiner feineren Zivilisation. Oft zieht sie direkte Vergleiche zwischen deutscher und französischer Kultur und Lebensart: »Die Deutschen begehen oft den Fehler, all jenes in die Konservation einzubringen, was sich nur in den Büchern schickt; die Franzosen machen zuweilen diesen Fehler gleicherweise, indem sie das in die Bücher bringen, was eigentlich nur in der Konversation statthaft ist.«


Das Buch macht aber vor allem auch die deutsche Romantik in Frankreich bekannt, es prägt die Vorstellung von Deutschland als dem Land der Dichter und Denker und löst eine wechselseitige Inspiration deutscher und französischer Romantik aus, die über Heinrich Heine und das Junge Deutschland bis 1870 andauert. Diese stark idealisierte Vorstellung eines harmlosen Deutschlands, das sich ganz der Poesie hingibt, trägt dazu bei, das man in Frankreich nicht bemerkt, dass die deutschen Staaten nach dem Sieg von 1815 in der Völkerschlacht beginnen, demographisch, wirtschaftlich und militärisch aufzuholen. Als Frankreich dann 1870 Preußen mit fast schon gleichgültiger Siegeszuversicht den Krieg erklärt und dann mühelos besiegt wird, ändert sich das Bild, und Deutschland wird zu einem Land der säbelrasselnden Fridolins. Schließlich entsteht um Elsass-Lothringen, das Frankreich an das neugegründete Deutsche Reich abtreten muss, eine regelrechte Erzfeindschaft diesseits und jenseits des Rheines, die in den Ersten Weltkrieg führt und als eine Konsequenz in den Zweiten. Nach diesem beginnt, von De Gaulle, Schumann und Adenauer vorangetrieben, eine Phase der Annäherung, die immer noch andauert.

Es hat lange gedauert, eigentlich erstaunlich, denn im Grunde ergänzen sich die beiden Völker ja hervorragend. Madame de Staël schreibt: »Der Vorzug der Deutschen ist es, ihre Zeit recht  auszufüllen, die Begabung der Franzosen, ist es, diese zu vergessen.«

 

Madame de Staël, Über Deutschland, 858 S., 57 Abb., Insel-Verlag Frankfurt 1985, ISBN 34583323236, 16,50 €

Porträt Madame de Staël von Firmin Massot, Schloss Coppet (Schweiz), www.swisscastles.ch 




Schiffbruch mit Tiger


von Ursula Mayer, erschienen im Dezember 2004

Jetzt hat Yann Martel sogar das deutsche Publikum für sich erobert. Dieses Jahr ist der kanadische Autor, nachdem sich sein Roman Schiffbruch mit Tiger 2003 fünf Monate lang auf der Spiegelbestsellerliste gehalten hat und er bereits als Gastprofessor an die Freie Universität Berlin gerufen wurde, auf der Leipziger Buchmesse mit dem Bücher-Butt ausgezeichnet worden. So erhält Martel, der mit der englischen Orginalausgabe 2002 schon den renommierten britischen Bookerprize gewonnen und sich in Frankreich längst einen Namen gemacht hat, schließlich auch in Deutschland Anerkennung.

Yann Martels Geschichte von dem indischen Jungen, der als Schiffbrüchiger nach einem Frachterunfall das Rettungsboot mit einem bengalischen Tiger teilen muss, verströmt einen Hauch von Exotik und Abenteuer. Dass die beiden Hauptfiguren ihre Odyssee über den Pazifik, begleitet von Haifischen, Quallen, fliegenden Fischen, Schildkröten und Walen, heil überstehen, wirkt wie ein wahres Wunder.

Martel stellt die Gutgläubigkeit des Lesers in seinem Roman Schiffbruch mit Tiger in der Tat in mancherlei Hinsicht auf eine harte Probe. Seine Hauptfigur Piscine Molitor Patel, benannt nach einem Pariser Schwimmbad, wächst in Indien auf und wird als Sohn eines Zoodirektors jeden Morgen vom Gebrüll der Löwen geweckt. Später entdeckt Pi sein Interesse für den katholischen Glauben, den Islam und den Hinduismus. Weil er laut seines atheistischen Vaters "die Religionen anzieht wie Hunde die Läuse", entfacht er dadurch beinahe einen Religionsstreit. Die politisch begründete Emigration der Familie nach Kanada, bei welcher der gesamte Zoo mit umzieht, endet mit einem Schiffbruch auf hoher See. Während der japanische Frachter untergeht, findet sich Pi mit einer Hyäne, einem Zebra, einem Orang-Utan und Richard Parker – der Name des bengalischen Tigers beruht auf einem Verwaltungsfehler – auf einem Rettungsboot wieder. Außer Richard Parker überlebt letztendlich nur Pi. Seinem pazifistischen Vegetariertum zum Trotz lernt er Schildkröten und Fische töten, um sich und seinen Feind zu ernähren, damit er nicht selbst zur Beute wird. Schließlich stranden beide nach mehr als sieben Monaten in Mexiko.

Erzählt wird alles aus der Sicht des Inders. Der fiktive Schriftsteller im Roman war auf ihn bei seiner Suche nach außergewöhnlichen Geschichten gestoßen und bekommt nun eine erzählt, die ihn "an Gott glauben machen wird". Er übermittelt Pis Ausführungen in der ersten Person, obwohl sie ihm selbst manchmal zweifelhaft erscheinen. Pis Erzählfluss wird immer wieder unterbrochen durch Einschübe, in denen der Autor uns seine eigenen Beobachtungen bezüglich seines rätselhaften und mysteriösen Gesprächspartners zuteil werden lässt.

Nicht ohne eine Prise Selbstironie also, was seine Schriftstellertätigkeit angeht, beweist Yann Martel mit diesem Roman jedoch enorme Vorstellungskraft. Mit schlichten, aber präzisen Worten beschreibt der Autor aus Montreal in drei Teilen Pis Leben in Indien, seinen Überlebenskampf auf dem pazifischen Ozean und, im Anschluss an die Rettung, seinen Krankenhausaufenthalt in Mexiko. Leider weist gerade der zentrale Mittelteil Längen auf. Vielleicht liegt das daran, dass alle auch noch so unglaublichen Episoden, etwa die fleischfressende Algeninsel, im Endeffekt nichts an der aussichtslosen Grundsituation der beiden Leidensgefährten ändern.

Dagegen besticht Martel vor allem durch seine Beobachtungsgabe und seine originellen Vergleiche zwischen Tier- und Menschenwelt, besonders, wenn die Religion mit ins Spiel kommt. Das, was passiert, wenn ein gläubiger Junge mit einem Tiger auf kleinstem Raum zusammengepfercht ist, versinnbildlicht für Martel laut einem Interview für das Québecer Kulturmagazin voir "die menschliche Situation. Der Junge, der an Gott glaubt, ist das Beste in uns - so weit unsere menschliche Vorstellungsgabe reicht - und gleichzeitig ist er konditioniert durch seine Grundbedürfnisse, ähnlich wie die Tiere, anfällig für Angst und Hunger und bedürftig nach Liebe." Dass dieses Sinnbild der Realität sehr nahe kommt, stellt sich heraus, als Pi nach der Rettung auf dem Krankenbett Andeutungen macht, es könnte sich bei allem um eine Fabel gehandelt haben, in der die Tiere eigentlich für Menschen stehen. Und, dass der Tiger womöglich nur erfunden war, ein Hirngespinst, um eigenes Versagen verdrängen zu können. Damit lässt Pi die japanischen Beamten, die doch gekommen waren, das Schiffsunglück zu klären, ratlos. Und auch der Leser muss letztlich entscheiden, was er glauben mag und was nicht.

Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger, Übersetzung: Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, S. Fischer Verlag, Frankfurt 2003, ISBN 3100478258.


Yann Martels Biographie

Als Diplomatenkind und Sohn eines Montrealer Poeten ist Yann Martel französischsprachig aufgewachsen. Er beherrscht diese Sprache perfekt, schreibt aber auf Englisch, das er in der Schule gelernt hat und worin er seine nuancierte Denkweise am besten ausdrücken kann. Seit seiner Geburt 1963 in Spanien begleitet er seine Eltern auf ihren Reisen durch die ganze Welt, studiert schließlich Philosophie in Toronto und Montreal, wo er seit 1991 seinen festen Wohnsitz hat. Von seinem Roman Schiffbruch mit Tiger (2002), der von seinen Eltern ins Französische übersetzt wurde, existieren außerdem Übersetzungen in mehr als vierzig weiteren Sprachen. Und es ist sogar eine Kinoverfilmung in Arbeit.




Der wahre Don Juan. Über Peter Handkes neues Buch


von André Glasmacher, erschienen im Dezember 2004

Nahe den Ruinen der französischen Klosteranlage Port-Royal-des-Champs liegt eine Herberge, der die Gäste verloren gegangen sind. Der nun beschäftigungslose Koch kümmert sich um den Herbergsgarten, geht spazieren, liest und hängt seinen Gedanken nach, bis eines Tages ein vorn zugespitzter Haselstock in den Garten fliegt, gefolgt von Don Juan, der sich über die Mauer schwingt. Dieser ist auf der Flucht, natürlich vor den Frauen. Er quartiert sich beim Koch ein und erzählt diesem in der nun folgenden Woche, von den sieben Tagen, die er mit sieben Frauen im Kaukasus, im Nahen Orient, Nordafrika, Skandinavien und Holland verbracht hat.

Don Juan erzählt dem Koch immer nur abends, nach den Mahlzeiten. Tagsüber streifen die beiden durch die Gegend, durch bewaldete Bachtäler, zum Schloss von Rambouillet, zum Atomzentrum von Saclay, den Quellen des Flusses Bièvre und gehen in ein Kino in Trappes. Getreu dem Motto Handkes, Fragen stellen, Dinge in die Schwebe bringen und vom Rand aus beobachten, lernt der Leser nun einen Don Juan kennen, der mit dem Bild des altbekannten, zynischen Lüstlings wenig zu tun hat und so ist die größte Überraschung an Handkes Don Juan, dass er eben kein Verführer ist: "Er hatte noch nie eine Frau verführt" behauptet er da.

Don Juan hat vielmehr eine "Macht", vor der er Scheu empfindet, denn die Frauen erkennen in ihm ihren "Herrn", der ihrem Leben Bedeutung geben soll. Don Juan selbst dagegen ist ein Verwaister, dem der Lebenssinn abhanden gekommen ist. Vor Jahren hat er sein Kind verloren, das einzige Wesen, das er je geliebt hat. Ruhelos reist er nun in der Welt herum, ohne Ziel, nur Trauer und Untröstlichkeit treiben ihn an. Don Juan erscheint bei Handke als eine Art Graf Saint-Germain, der rastlos durch die Jahrhunderte streift. Er ist dabei die mediterrane Gegenfigur zum nordischen Faust: Molière, Da Ponte, Kirkegaard und Frisch haben ihm Zeilen gewidmet.

Der Unterschied zwischen den beiden könnte allerdings nicht größer sein: Während Don Juan den Augenblick endlos wiederholen möchte, weiß Faust, dass er dem Augenblick fliehen muss, weil er sonst im Stillstand verloren wäre. So ist denn auch die Zeit für Don Juan das Problem überhaupt. Sein ganzes Sinnen ist darauf gerichtet, "Herr seiner Zeit" zu sein, dies ist sein "Hauptberuf". Don Juan wird unruhig, wenn er nicht mehr Herr seiner Zeit ist, die Augenblicke springen um in Sekunden und er beginnt die Dinge um ihn herum zu zählen, das Gewicht der Welt gerät ins Wanken.

Peter Handke glaubt leidenschaftlich an die Kraft der Fiktion, deren Macht er als stärker empfindet, als die der bloßen Realität und so haftet seiner Erzählung ein Hauch Traumhaftigkeit an, die Grenzen zwischen den einzelnen Episoden sind fließend, Traum und Realität gehen ineinander über. Obwohl die Erzählung sehr bestimmt in der Gegenwart situiert ist, ist sie merkwürdig zeitlos, wie so viele seiner literarischen Landschaften. Handke sagt, dass er draußen schreibt, im Wald auf einer Lichtung oder im Garten seines Hauses in der Pariser Vorstadt Chaville, den Bleistift in der Hand, die Kladde aufgeschlagen und diese Umgebung schlägt sich in Handkes Sprache nieder: Er schreibt von Glimmersand, der in einem Rinnsal blitzt, sieht eine Schlangenhaut von einem Ast baumeln, hört von den Zedernästen das spezifische Zedernästesausen und sieht Lehmgelb und Mergelrot aufscheinen, er horcht in jedes Wort hinein und spürt deren feinsten Schwingungen nach.

Das neue Buch von Handke ist vom Umfang her ein schmales Vergnügen, nach knapp 160 Seiten endet seine Geschichte Don Juans, die den Anspruch erhebt das endgültig Wahre zu sein und doch auch die Legende weiter spinnt. Das Buch endet mit den Worten: "Don Juans Geschichte kann kein Ende haben, und das ist, sage und schreibe, die endgültige und wahre Geschichte Don Juans."

Peter Handke, Don Juan (erzählt von ihm selbst). Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 156  Seiten, 16,80 Euro, (ISBN 3–518 41636–7)



Neurosen total – Das neue Buch von Françoise Cactus


von André Glasmacher, erschienen im September 2004

Françoise Cactus ist eigentlich ein Allroundtalent: Zusammen mit Brezel Göring nennt sie sich Stereo Total, macht Musik und malt. Doch heutzutage reicht das noch nicht, um als Allroundtalent tituliert zu werden: Man muss auch Bücher schreiben. Um im Deutschen besser navigieren zu können und um den Lektor nicht in die Trunksucht zu stürzen, schreibt Cactus ihre Bücher mit einem Krückstock in Form eines Wörterbuches: Sag es treffender. Dank dieses Wunderwerkes wagt sich Cactus regelmäßig aufs Glatteis der deutschen Sprache.

Das neue Buch heißt Neurosen zum Valentinstag. Drin sind zwölf Geschichten, in denen es um ältere Mädchen bis Frauen geht, die sich irgendwie zu emanzipieren versuchen, eine Menge Neurosen haben und doch auch auf der Suche nach der Liebe sind: So wie Nicole, die nach ihrem Tod als Geist ihren Freund besucht, oder Julie, die sämtliche Höhen und Tiefen der Eifersucht durchläuft. Die erzählenden weiblichen Charaktere sind daneben auch Karikaturen Berliner Mitte-Girls, die zwischen den Hauptstadtbezirken Friedrichhain und Mitte, Rio de Janero und Burgund ihre Männerneurosen kultivieren und nach einer überstürzten Heirat feststellen: "Deutlich spürte ich in mir den Wunsch, intensiver zu leben. Das wiederum führte zum Ehebruch."

Und alles beginnt wieder von vorne im Berliner Egoclub. Im Interview mit dem Berliner Magazin Monomag versichert Cactus, dass immerhin manche Charakterzüge von ihr in den Protagonisten enthalten sind.  Ein Mädchen, das den Mitschülerinnen bei Problemen mit der eigenen Sexualität hilft, obwohl sie selbst noch Jungfrau ist, und einer Witwe, die über das gemeinsame Leben mit dem jüngst verstorbene Partner nachdenkt, dessen Ableben sie ein wenig beschleunigt hat: Ist das also die wahre Françoise Cactus?

Die Geschichten, die fast durchgehend in der Ichform geschrieben sind, ähneln italienischem Speiseeis, auf das man sich, kaum ist es wärmer geworden, stürzt. Das erste Kugel schmeckt köstlich, doch wenn man zuviel davon isst, bemerkt man schnell den vielen Zucker und die künstlichen Aromastoffe: Liest man Cactus' Geschichten also nur Stück für Stück in der U-Bahn oder während man wartet, dass die Nudeln al dente werden, entfalten sie einen gewissen Zauber des Komischen und Grotesken.

Da trifft es sich gut, dass Madame Cactus einen charmant französischen Akzent auf der Zunge trägt, den sie über die Jahre sozusagen für sich gepachtet hat, denn falls es mal eine Hörbuch-CD geben sollte und man die Wahl zwischen Buch und CD hätte, würde der Tonträger aufgrund des berüchtigten Cactus-Akzents sicher mehr Spaß machen. Aber Bücher sind Buchstaben und nicht Stereo Total.

Françoise Cactus, Neurosen zum Valentinstag, Rowohl Verlag Berlin, 14,90 Euro, ISBN 3.87134.499.0


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Kurzbiographie

Die Französin entstammt einem alten burgundischen Adelsgeschlecht. Mit zwölf Jahren belegt sie bei einem Vorlesewettbewerb in ihrer Heimatregion Burgund den ersten Platz und bekommt dafür einen silbernen Kugelschreiber. Zwei Jahre später schreibt sie damit ihren ersten Roman Photo-Souvenir und bekommt von den Kritikern das Signum Lolita-Literatur. 1985 gründet sie in Berlin ihre erste Band Lolitas und veröffentlicht in den folgenden Jahren die Romane Autobigophonie (1997), Abenteuer einer Provinzblume (1999) und Zitterparties (2000). Zusammen mit Brezel Göring gründet sie 1993 die Band Stereo Total, die mit einer Melange aus französischem Chanson, Punk und Elektro-Pop "Kultstatus" genießt.




Die Unzulänglichkeit des Glücks – Marc Levy und sein Roman Wo bist du?


von Nicole Schaar, erschienen im September 2004

"Ich schreibe, wie ich sehe!", auf diese Art definiert Marc Levy selbst seine Literatur und für seinen ersten Roman Solange du da bist hat sich Steven Spielberg bereits die Rechte gesichert. Mit seinem Debütroman hat er sich nicht nur in die Herzen der Franzosen geschrieben, sondern sein Werk wurde auch zu einem internationalen Bestseller. Mit dieser einfühlsamen Geschichte über Liebe, Freundschaft und grenzenloses Vertrauen hat der Autor sogleich 28 Länder erobert und das, obwohl er die Geschichte ursprünglich nur für seinen Sohn verfasst hatte. Er wollte ihm die "Geschichte eines Mannes erzählen, der sich in den Inhalt eines Menschen verliebt, und nicht in seine Verpackung." 

Nun versucht er es erneut. Der ehemalige Architekt widmet sich mittlerweile vollständig dem Schreiben. Marc Levy lebt jetzt nicht mehr in Frankreich, sondern pendelt zwischen London und New York hin und her. Ein erfolgreicher Autor eben, und was ist geblieben?  Er erzählt weiterhin Liebesgeschichten, so auch in seinem zweiten Werk Wo bist du? 

Zu Beginn des Buches besteht der Eindruck einer perfekten Idylle. Philip und Susan sind ein glückliches Paar, sie lieben sich und sind schon seit ihrer Kindheit wie durch magische Anziehung miteinander verbunden. Susan zieht es jedoch schon seit eh und je hinaus in die Welt, sie möchte kein normales Leben führen, nicht ständig von materiellem Erfolg träumen. Als es in Honduras zu schweren Wirbelstürmen kommt, möchte Susan  helfen, besonders den Kindern dort, die bei den Stürmen ihr Obdach verloren haben.  

Plötzlich steht alles Kopf, von nun an wird die Geschichte aus zwei völlig anderen Blickwinkeln erzählt. Während Susan ihr eigenes Leben aufgibt, um den Menschen in Honduras helfen zu können, beginnt Philip ein Studium und lebt in New York. Alles was die beiden zusammenhält, sind die Briefe, die dem Leser den einzigen Einblick geben, wie sie sich immer weiter voneinander zu entfernen scheinen. Susan hatte vor, zwei Jahre in Honduras zu bleiben und sie verabreden sich in einer Bar am Flughafen, wo sich ihre Wege einst trennten. Diese kleine Bar stellt den Angelpunkt der beiden dar, der einzige Ort, an dem sie sich treffen, an dem sie sich Vorwürfe machen und an dem sie sich aneinander klammern. Immer wieder erfolgt der Blick auf den kleinen Tisch an der Fensterfront, der im Laufe der Geschichte zum Symbol wird, zum Treffpunkt zwischen zwei Welten, zum Ort, an dem Zeit keine Rolle zu spielen scheint und doch die wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens Gestalt annehmen.

Doch Susan kehrt nicht zurück, Honduras steht für sie an erster Stelle. Die beiden rücken in den Jahren immer weiter auseinander, bis schließlich Philip eine andere heiratet. Alles scheint sich doch noch zum Guten zu wenden, auf ihre Art sind sie glücklich, bis die Nachricht kommt, dass Susan in einem Sturm ums Leben gekommen ist und sie Philip einen wichtigen Teil ihres Lebens überlässt: ihre Tochter. Plötzlich läuft abermals alles verquer und Philips Frau Mary fühlt sich von der Situation völlig überfordert. Nicht nur Susans Bilder sind demnach überall, sondern auch noch ihre Tochter dringt in ihr Leben ein und sie scheint sich nur weiter von ihrem Mann zu entfernen.

Marc Levy hat erneut einen wunderbaren Roman geschaffen, der auf einer einfach erscheinenden Liebesgeschichte basiert und doch gleichzeitig viel mehr als das in sich vereint. Faszinierend beschreibt er die Unterschiede zwischen zwei komplett gegensätzlichen Orten: Auf der einen Seite das noble und schnelllebige New York, in dem Philip sich seine Existenz aufbaut und auf der anderen das gegensätzliche Honduras: Ein Land, in dem es nicht darum geht seine Träume zu verwirklichen, sondern zu überleben und die Hoffnung zu bewahren. Levy beschreibt die Angst der Menschen einer Welt, in der andere Werte wichtiger sind als im machtbesessenen und hektischen New York. Der Autor verurteilt jedoch dabei niemanden und versucht einfühlsam zu erklären, wie es den beiden Hauptcharakteren dabei ergeht.

Susan, die über den plötzlichen Tod ihrer Eltern nie hinweg gekommen ist und nun versucht, der Welt etwas Gutes abzugewinnen. Philip, der auf die Rückkehr Susans hofft, bis er der Einsamkeit erliegt und die Liebe Marys in sich aufzusaugen scheint und dadurch langsam wieder zum Leben erwacht. Und dann noch Lisa, Susans Tochter, die plötzlich bei Philip lebt und ihr ganzes Leben auf den Erinnerungen ihrer Kindheit in Honduras aufbaut. Das Kind, das plötzlich unterwegs ist, zu "einer anderen Kindheit, die nicht mehr von Tod, Einsamkeit und Elend" gekennzeichnet ist.

Marc Levys Roman ist ein Buch, das die Missstände zwischen zwei Ländern verdeutlicht und dabei doch versucht, sie unter einen Hut zu bringen. Der Autor verwendet detaillierte Beschreibungen, sodass der Eindruck entsteht, man würde ihnen zusehen, wie sich die Charaktere unterhalten, wie die Gesichtsausdrücke plötzlich erstarren, wie Flugzeuge am Himmel fliegen oder wie Tonnen von Wassermassen über hilflose Menschen hinwegbrechen und nichts als Verwüstung zurücklassen. Dies ist sowohl faszinierend als auch erschreckend zu lesen.

Marc Levy zeigt uns das Leben am anderen Ende der Welt, er macht uns aufmerksam auf ein Land, dass von Naturkatastrophen überschattet zu sein scheint. Er fordert uns auf, zu schätzen, wie wir leben und "reif zu werden und die Dinge anzunehmen, statt gegen sie zu kämpfen".

Marc Levy, Wo bist du?, Droemersche Verlagsanstalt, 8,90 Euro, ISBN: 3.426.62660.8




Interview mit Jean-Philippe Toussaint


von Claudia Hennen, Übersetzung Hilka Dierker und Claudia Hennen, erschienen im Juni 2004

Ende September stellte Jean-Philippe Toussaint seinen neuen Roman Faire l’amour, zu Deutsch: Sich lieben im Literaturhaus Berlin-Charlottenburg vor. Toussaint, ein belgischer Schriftsteller mit französischem Pass, ist mittlerweile mit sieben Romanen ins Deutsche übersetzt worden. Als 1985 sein Debüt Das Badezimmer erschien, stand die internationale Kritik Kopf. Kritikerlob ist nun auch seinem siebten Roman zuteil geworden – vielleicht auch deshalb, weil sich der Autor erstmals mit einem wunderbar zeitlosen Thema auseinandergesetzt hat: Nämlich der Liebe. Claudia Hennen hat den Schriftsteller in Berlin getroffen um mit ihm über seinen neuen Roman zu sprechen.

Herr Toussaint, Sie haben Ihren neuen Roman Sich lieben in Berlin vorgestellt. Da Sie schon einmal ein Jahr in Berlin verbracht haben, würde ich gerne wissen: wie ist Ihr Verhältnis zu dieser Stadt?

Ich habe schon in einigen Städten der Welt gelebt, aber nicht alle tauchen in meinen Büchern auf. Außer Berlin, das im Mittelpunkt meines Buches Fernsehen steht, denn ich war fasziniert von dieser Stadt. Also habe ich mich entschlossen, daraus eines der Themen dieses Buches zu machen. Mit meinem neuesten Roman Sich lieben ist mir ungefähr das Gleiche passiert: Ich habe mich entschlossen, ihn in Japan spielen zu lassen, weil ich auch von Japan fasziniert bin.

Sie haben auch die Berliner Fußnoten geschrieben. Und die dritte Fußnote, die von einem Besuch in einer deutschen Fleischerei handelt, ist ziemlich zynisch. Wie ist Ihr Eindruck von den Deutschen?


Ich sehe das eher locker. Ich habe manchmal Reiseimpressionen geschrieben, weil man mich darum gebeten hatte. In diesem Fall war es Die Zeit, die mich gebeten hatte, über Berlin zu schreiben. Obwohl ich das normalerweise nicht tue, habe ich es geschafft, einen Ansatzpunkt zu finden, kleine Szenen zu schreiben, etwas sehr Leichtes, das vom alltäglichen Leben handelt. Es stimmt, es ist eine Art Rache, denn ich hatte Schwierigkeiten in einer deutschen Fleischerei, die dickste Wurstscheibe zu bekommen. Es sind also kleine autobiographische Erfahrungen, die ich zu Büchern mache. Aber das ist kein wirklich kritischer Blick auf Deutschland im Allgemeinen oder auf die Berliner. Im Gegenteil, ich glaube, die Tatsache, dass ein Roman wie Fernsehen in Berlin spielt, ist eine Hommage an die Stadt. Denn ich habe Berlin wirklich gemocht. Ja, manchmal kommt es vor, dass ich etwas kritisch bin, zum Beispiel habe ich die Nachbarn in Fernsehen etwas bloß gestellt, ich beobachte gerne Verschrobenheiten, aber das ist Teil der Literatur… Es gibt auch das Sprichwort: "Was sich liebt, das neckt sich!"

Ihr neuer Roman spielt also in Japan. Warum? Was fasziniert Sie an diesem Land?

Ich bin oft nach Japan gereist. Ich habe drei Monate in Kioto verbracht und habe mir die ganze Zeit gesagt: eines Tages mache ich etwas über Japan – vielleicht ein Buch, vielleicht einen Film, ich wusste es nicht. Aber ich wusste, dass es, abgesehen von kleinen Texten, die ich für eine Zeitschrift schrieb, einen stärkeren Text geben würde, der auch eine Hommage an Japan werden würde. Ich habe lange gewartet, bis es soweit war. Es sollte ein ernsteres Buch sein, ein Buch über eine Trennung. Japan ist ein Land, das mich wegen seines Wohnstils, seiner Atmosphäre und seines Lichts fasziniert. Das Thema des Buchs passt sehr gut mit der japanischen Landschaft und dem japanischen Wohnstil zusammen.

Warum schreibt man einen Roman über die Liebe oder über das Ende einer Liebe?

Es gibt keinen bestimmten Grund. Gegenfrage: Warum schreibt man überhaupt einen Roman? Es gibt manchmal Themen, die sich mir geradezu aufdrängen. Die Liebe ist selbstverständlich ein riesengroßes Thema, aber ich mag es gerne, mich mit ganz großen Themen zu konfrontieren. In Form eines Essays kann ich über die Liebe nicht viel sagen, aber mit einem Blick auf das Konkrete, das Intime, das Alltägliche kann ich viel mehr sagen. Es hat mich also sehr interessiert – und das habe ich in meinen vorherigen Büchern nicht wirklich behandelt – die Frage der Liebe, aber auch der Sexualität. Denn der Roman Sich lieben handelt von der Liebe, aber auch von der Sexualität.

Es scheint mir so, als gäbe es eine Doppeldeutigkeit im Bezug auf den Titel Ihres neuen Romans. Für mich bedeutet Sich lieben eher ein gegenwärtiges Gefühl, während Sie das Ende einer Liebe erzählen.

Es stimmt, es gibt diese Doppeldeutigkeit. Ich würde sogar sagen, dass ich das bewusst ausdrücken wollte. Es ist ein Buch über Trennung, aber auch über Liebe. Ganz am Anfang hatte ich die Idee, die erste und die letzte Liebesnacht eines Paares zu erzählen. Ich wollte zeigen, dass es vielleicht die Liebe in der letzten Liebesnacht größer ist als in der ersten, wenn die Personen sich gerade erst kennen gelernt haben, denn in der letzten Nacht kennen sie sich viel besser und das Gefühl der Liebe und die Intensität sind sehr viel stärker! Das ist paradox, aber gerade deshalb sehr interessant.

Gab es Vorbilder für Sie, wie zum Beispiel Goethes Die Leiden des jungen Werther, der deutsche Klassiker zum Thema Liebeskummer?

Das war nicht speziell Goethe, denn ich habe sein Werk lange Zeit nicht mehr gelesen. Das war auch nicht Roland Barthes mit Fragments d’un discours amoureux, das ich erst danach gelesen habe- eine gute Ausrede, oder nicht?(lacht) Es gab kein Buch, das ich als Vorbild hatte. Das einzige Werk, an das ich manchmal gedacht habe, waren die letzten beiden Filme von David Lynch. Sie sind sehr interessant in Bezug auf ihre Machart, ihre Struktur und ihre Nähe zum Traum. An einer bestimmten Stelle im Roman habe ich daran gedacht und ich habe mir gesagt: Ich könnte diese Szene so machen, indem ich sehr stark in Richtung Traum gehe und letztendlich weiß man nicht mehr, ob es Traum oder Realität ist, aber man muss es wie die Realität behandeln. Selbst wenn es eine Traumwelt ist, muss man ihr die Stärke der Realität geben.

Man spricht oft von Ihrer filmischen Sprache und Sie haben auch selbst mehrere Spielfilme gedreht, darunter zwei Verfilmungen Ihrer Romane. Inwieweit inspiriert das Kino Ihre literarische Arbeit?

Film und Literatur inspirieren mich gleichermaßen. Ich bin von einigen Filmemachern beeinflusst, von David Lynch, aber auch sehr von Michelangelo Antonioni, dessen sehr diskreten und subtilen  Filmstil ich sehr interessant finde.

Wenn Sie schreiben, haben Sie einen Film vor Augen?


Wenn ich schreibe, dann habe ich eher ein Buch im Kopf. Es kommen mir Bilder in den Sinn, aber die sind näher am Traum als am Film. Es ist also eher so, als wenn ich Träume aufschreiben würde, und nicht ein Drehbuch. Es sind sowohl visuelle als auch geistige Bilder. Das ist überhaupt nicht der gleiche Vorgang, wie wenn ich ein Drehbuch schreibe. Außerdem sind die Bilder sehr von der Literatur beeinflusst.

In Ihrem neuen Roman trägt der Protagonist ein kleines Fläschchen Salzsäure mit sich herum – das ist ein Klassiker für mich, der mich an das deutsche Melodram erinnert, in dem die Liebenden sich am Ende vergiften …

Natürlich ist das ein sehr starkes dramatisches Element. Und sicher, an dem Punkt habe ich es bis zum Äußersten ausgereizt. Schon im ersten Satz des Buches erfährt der Leser, dass der Protagonist dieses Fläschchen Salzsäure in seiner Jackentasche hat. Man weiß tatsächlich nicht, was mit dieser Säure passieren wird und es gibt mehrere Möglichkeiten: er kann sich selbst verletzen, sich sogar umbringen, er kann die Frau angreifen, die er liebt, er kann jemand anderen angreifen oder es kann eine andere Lösung geben – aber die ganze Zeit ist eine Bedrohung da, durch das ganze Buch hindurch zieht sich eine dramatische Spannung. In dieser zu Ende gehenden Liebesgeschichte ist die Möglichkeit einer Katastrophe die ganze Zeit über gegenwärtig. Man hatte mir gesagt, dass sich in meinen ersten Büchern, deren Stoff leichter ist, die Figuren hätten umbringen können. Zum Beispiel in Monsieur gibt es einen Moment, in dem der Protagonist auf dem Dach spaziert. Der Leser dachte: vielleicht wird er sich umbringen. Ich habe das nicht wie eine wirkliche Bedrohung dargestellt, aber es war möglich. Aber in Sich lieben habe ich es wirklich wie eine Bedrohung dargestellt, ich habe also bewusst diese dramatische Vorgehensweise benutzt.

Die Kritiker in Frankreich waren begeistert, man hat von Ihrem besten Roman gesprochen. Sehen Sie das auch so?

Das ist eine Frage, die man mir in Frankfurt/Main auch gestellt hat. Allerdings nicht mit Bezug auf die französischen Kritiken, sondern mit Bezug auf die erste deutsche Kritik, die in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist. Dort hieß es am Ende, dies sei mein schönstes Buch. Man hat mich gefragt, ob ich das genauso sehe. Oh ja, ich sehe das durchaus genauso, das ist mein schönstes Buch, aber das heißt ja nicht, dass es das Beste ist! Also habe ich ein Wortspiel erfunden: Ist es das Schönste? Ja! Aber ist es auch das Beste? Ich kann es Ihnen nicht sagen …

Fotographien von Mirko Schmidt, Titelblatt (Toussaint mit Sonnenbrille) von Madelaine Santandréa




Sich lieben – eine Liebesgeschichte


von Bernadette Knapp, erschienen im Juni 2004

"In dieser Nacht haben wir uns das letzte Mal geliebt. Aber wie oft haben wir uns nicht schon zum letzten Mal geliebt. Ich weiß es nicht, häufig. Häufig..."

Sich lieben ist der sechste Roman des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint. Der Romancier erzählt darin die Geschichte vom Ende einer Liebesbeziehung, eines Nachts in Tokio.

Dieses Buch ist zugleich ein Buch des Erinnerns und des Seelenschmerzes, vor allem aber ein Buch des Irrens. Die Geschichte kann kurz erläutert werden: Der Erzähler begleitet Marie, seine Lebensgefährtin seit sieben Jahren, auf einer Japanreise nach Tokio. Marie, die Modeschöpferin ist, wird dort ihre Kollektion vorstellen.

Der erste Teil der Erzählung spielt sich einige Stunden nach Ankunft des Paares in Tokio ab. Unter dem Einfluss des Jetlags und zerrissen vor Müdigkeit, ärgern sie sich gegenseitig, stoßen sich zurück und vereinigen sich dann in einer Nacht, die scheinbar nie zu Ende gehen dürfte. Während sie sich in diesem Liebesduell fast umbringen, erkennt der Erzähler, dass es sich um die letzte Nacht mit Marie handelt, das letzte Mal, dass sie miteinander schlafen: Das Ende einer Geschichte.

"An jenem Tag, da Marie mir vorschlug, sie nach Japan zu begleiten begriff ich, dass sie bereit war, auf dieser großen Tour unsere letzten Liebesreserven zu verheizen. War es nicht einfacher, wenn wir uns schon trennen wollten, diese seit langem geplante Reise dafür zu nutzen, wechselseitig ein wenig Distanz zu gewinnen? Zusammen zu verreisen, war das wirklich die beste Möglichkeit, um Schluss zu machen? In bestimmter Hinsicht schon, denn so wie die Nähe uns zerriss, so hätte uns die Ferne wieder nähergebracht. Tatsächlich waren wir in unseren Gefühlen dermaßen zerbrechlich und orientierungslos, dass die Abwesenheit des anderen sicher das einzige war, was uns noch nahe bringen konnte, während unsere beider Gegenwart Seite an Seite die innere Zerrissenheit nur noch vertiefen und unsere Trennung besiegeln konnte."

Tatsächlich kann die Beziehung zwischen den beiden Hauptpersonen mit einem Erdbeben verglichen werden, der Metapher, die in diesem Roman vorherrscht. Die Erde bebt in Tokio und die Frau weint, aber der Autor weigert sich, von diesen Tränen zu sprechen: Natürlich finden wir sie im Roman, aber eher als Symbol der Leidenschaft. "Denn das Erdbeben war nunmehr für uns untrennbar mit dem Ende unserer Liebe verbunden."

Darüber hinaus finden wir Nebel und verhangenen Himmel, ein winterliches Licht, um den Beginn der Trauer über eine bereits vergangene Liebe auszudrücken. Eine Erzählung, die aus Farben und Bildern besteht, die sich zeitgenössischer Motive bedient, um die Essenz des natürlichsten aller menschlichen Gefühle auszudrücken – Liebe.


Zudem bestärkt dieses Fläschchen Salzsäure das Gefühl von Gefahr, die diesen Bruch umkreist: "Ich hatte eine kleine Flasche mit Salzsäure füllen lassen und trug sie jetzt immer bei mir, mit der Idee, sie eines Tages jemanden mitten ins Gesicht zu schütten. Ich brauchte nur die Flasche zu öffnen, eine Flasche aus buntem Glas, die zuvor Wasserstoffperoxyd enthalten hatte, auf die Augen zu zielen und wegzurennen. Ich fühlte mich seltsam ruhig, seitdem ich mir diese Flasche mit bernsteinfarbiger und ätzender Flüssigkeit beschafft hatte, die meine Stunden würzte und meine Gedanken schärfte."

Der belgische Schriftsteller lässt uns in eine Welt voll Leidenschaft eintauchen, es ist das Modell einer seismischen und sinnlichen Partitur.

Fotographie von Jean Toussaint
Sich lieben, Frankfurter Verlagsanstalt, 153 S., 19,80 €, ISBN 3.627.00107.9


Wer ist Jean-Philippe Toussaint ?

Bernadette Knapp

Jean-Philippe Toussaint wird am 29. November 1957 als Sohn eines Journalisten und einer Buchhändlerin geboren, ihm wird dadurch die Literatur geradezu mit in die Wiege gelegt. Er studiert Geschichte und Politikwissenschaft. 1978 erhält er sein Diplom im Institut des sciences politiques Paris, um anschließend einen troisième cycle in Gegenwartsgeschichte an der Sorbonne zu belegen. In seiner Freizeit spielt er Scrabble und wird darin 1973 sogar zum Weltmeister in Cannes.

Während seines Studiums beginnt der junge Mann ernsthaft zu schreiben. Er verfasst ein Theaterstück und seine ersten Romane. Einen davon nennt er Réécrit sept ou huit fois (Sieben oder acht Mal umgeschrieben) und schickt ihn an Alain Robbe-Grillet, er wird jedoch nie veröffentlicht.

Von 1982 bis 1984 geht er nach Algerien, um Französischlehrer an einem Gymnasium zu werden.

Während dieser Zeit lernt er seine Frau Madeleine Santandréa kennen. Sie haben zwei Kinder zusammen, Anna und Jean.

1985 veröffentlicht Toussaint La Salle de bain (Das Badezimmer), einen Roman über das Problem der Kommunikationsunfähigkeit, den er 1987 für das Kino adaptiert. John Lvoff führt Regie, und Tom Novembre spielt die Hauptrolle. Der Roman wurde zunächst von mehreren Verlagen abgelehnt, aber 1985 findet sein Manuskript den Zuspruch von Jérôme Lindon, dem Verleger der Editions de Minuit. 1986 veröffentlicht Jean-Philippe Toussaint seinen Roman Monsieur, den er selbst 1989 verfilmen wird, mit Dominic Gould und Eva Ionesco in den Hauptrollen. Ab 1990 wechselt er zwischen Buchveröffentlichungen und Regieführung bei Kinoverfilmungen. 1991 veröffentlicht er La Réticence (Der Köder) und präsentiert anschließend La Sévillane, eine Verfilmung des Romans L’Appareil-photo (Der Photoapparat) von 1992. Im folgenden Jahr erhält er eine Einladung der Organisation DAAD (Deutscher Akademischer Austausch Dienst) in Berlin, wo er ein Szenario schreibt und verfilmt: Berlin 10h46. Daraufhin arbeitet er an seinen Werken La Patinoire (die Eisbahn) und La Télévision (der Fernseher), die 1997 und 1998 erscheinen. Der Schriftsteller und Regisseur veröffentlicht schließlich Autoportrait à l’étranger (Selbstporträt in der Fremde) im Jahre 2000 und Faire l’amour (Sich lieben) im Jahre 2002.

 

 

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