Vom "Griff nach der Weltmacht"
in den "Krieg der Illusionen"
Vor 45 Jahren erschien Fritz Fischers bahnrechendes
Werk über die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland
im Ersten Weltkrieg. Das bis heute umstrittene Buch löste den
ersten deutschen Historikerstreit, die so genannte Fischer-Kontroverse
aus.
Von Alexander Bahar
18. Oktober 2006
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Anders als in der DDR, wo sich die meisten Historiker darüber
einig waren, waren, dass die Hauptverantwortung für den Ausbruch
des Ersten Weltkriegs beim deutschen Kaiserreich lag, blieb der
Nachfolgestaat des Dritten Reiches auch in dieser Frage seinen Wurzeln
treu. Die nach 1945 maßgeblichen BRD-Zeithistoriker, allesamt
auf die ein oder andere Weise geprägt von der - im "Dritten
Reich" noch ins Religiöse gesteigerten - nationalkonservativen
Mythologie der Zwischenkriegszeit, griffen das von David Lloyd George
(1916/22), dem britischen Premierminister der Kriegsjahre, geprägte
Bild der schuldlos in die Kriegskatastrophe "hineingeschlitterten"
Nationen dankbar auf. Dem Gros der Zeitgeschichtler (1) fiel es
nicht schwer, Lloyd Georges plakative Formulierung mit der seinerzeit
von der deutschen Reichsleitung propagierten These zu verknüpfen,
wonach das Kaiserreich einen "Verteidigungskrieg" gegen
die "Einkreisungspolitik" der Entente geführt habe.
In die einträchtig zelebrierte Apologie der Reichspolitik
durch praktisch die gesamte deutsche Zeitgeschichtsforschung platzte
das Werk des Hamburger Geschichtsprofessors Fritz Fischer wie eine
Bombe.
Bereits 1959 hatte Fischer in der Historischen Zeitschrift (HZ)
den Aufsatz "Deutsche Kriegsziele. Revolutionierung und Separatfrieden
im Osten 1914-1918" veröffentlicht. Zwei Jahre später,
im Oktober 1961, erschien seine Monographie "Griff nach der
Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18".
In beiden Werken setzte sich Fischer mit pointierten Thesen deutlich
von dem in Deutschland bis dahin gültigen Forschungsstand ab
und löste damit eine hitzige Kontroverse aus.
Fischers Arbeiten beruhten auf akribischen Quellenrecherchen, vor
allem der gründlichen Auswertung der Akten des Auswärtigen
Amtes und der Reichskanzlei - dies wurde auch vom überwiegenden
Teil der Rezensenten gewürdigt. Im Potsdamer Zentralarchiv
war Fischer auf das "Septemberprogramm" des Reichskanzlers
Theobald von Bethmann Hollweg aus dem Jahr 1914 gestoßen,
das in Erwartung eines raschen deutschen Sieges weitreichende Annexionen
in Frankreich und den Beneluxstaaten sowie koloniale Inbesitznahmen
in Zentralafrika vorsah. Die Bedeutung des "Septemberprogramms"
lag nach Fischer in zwei Punkten: "Einmal stellte das Programm
keine isolierten Forderungen des Kanzlers dar, sondern repräsentierte
Ideen führender Köpfe der Wirtschaft, Politik und des
Militärs. Zum anderen waren
die in dem Programm niedergelegten
Richtlinien im Prinzip Grundlage der gesamten deutschen Kriegszielpolitik
bis zum Ende des Krieges, wenn sich auch je aus der Gesamtlage einzelne
Modifikationen ergaben." (Griff, Sonderausgabe 1967, S. 95)
Deutschland, so legten es die Quellen nahe, war also keineswegs
rein defensiv in den Krieg "hineingeschlittert", sondern
hatte von Anfang an weitreichende hegemoniale Kriegsziele verfolgt.
Als Nachkriegsordnung, so konnte der Hamburger Neuzeithistoriker
zeigen, schwebte den verantwortlichen Stellen die Schaffung eines
von Deutschland beherrschten "Mitteleuropa" vor, das sich
als Zollverband unter deutscher Führung von Frankreich bis
Polen erstrecken sollte, was nichts anderes als die Hegemonialstellung
des Reiches in Europa bedeutet hätte.
Weitergehend stellte Fischer heraus, dass diese Kriegsziele in
einem engen Zusammenhang mit der deutschen imperialistischen "Weltpolitik"
vor 1914 zu sehen seien, dass das projektierte Ziel einer deutschen
Hegemonie in Europa demnach schon vor dem Krieg konzipiert worden
sei.
Mehr noch als mit der Betonung der Kontinuität deutscher Hegemonialpolitik
erregte Fischer mit seiner Neuinterpretation der deutschen Politik
während der so genanten Juli-Krise den Widerspruch der Zunft.
So konnte er nachweisen, dass das Attentat vom 28. Juni 1914 in
Sarajewo für die deutsche Reichsleitung der willkommene Anlass
für die Verwirklichung ihrer weitreichenden Ziele war, dass
sie Österreich-Ungarn zum Krieg gegen Serbien geradezu gedrängt
und - im Gegensatz zu ihren offiziellen Bekundungen - eine friedliche
Beilegung oder doch zumindest eine Eindämmung des Konflikts
systematisch hintertrieben hatte.
Fischer schloss: "Da Deutschland den österreichisch-serbischen
Krieg gewollt und gedeckt hat und, im Vertrauen auf die deutsche
militärische Überlegenheit, es im Juli 1914 bewusst auf
einen Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen ließ,
trägt die deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil
der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen
Krieges." (Griff, Sonderausgabe 1967, S. 82) "Nach außen
und gegenüber der eigenen Nation" habe die Reichsleitung
im Juli 1914 planmäßig die Fiktion eines "Überfalls"
inszeniert (Ebd., Vorwort, S. 7). Die "gegenüber Russland
so systematisch aufgebaute Kriegsschuldfiktion" habe durch
die "Mobilisierung der antizaristischen Affekte innerhalb der
Sozialdemokratie""eine Ausschaltung jeder grundsätzlichen
Opposition der Sozialdemokratie" und damit die nationale Einheitsfront
des 4. August 1914 (2) ermöglicht. (Ebd., S. 80/88).
Der deutschen Geschichtswissenschaft warf Fischer vor, dass sie
"unkritisch diese ,Überfallthese' der deutschen Reichsleitung"
übernommen habe (Ebd., Vorwort, S. 7)
Politische Kontinuität
In späteren Werken, etwa "Krieg der Illusionen. Die deutsche
Politik von 1911 bis 1914" (erstmals 1969) und zuletzt zusammenfassend
"Juli 1914" (1983), akzentuierte und verschärfte
Fischer, auch in Reaktion auf die z. T. äußerst aggressiv
geführten Angriffe, seine Position: Deutschland habe eingedenk
seines expansiven Kriegszielkatalogs spätestens seit 1911 bewusst
auf einen allgemeinen Krieg hingearbeitet. Zunehmend betonte Fischer
dabei auch "das Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik".
Dieses sei "keine nachträglich konstruierte Hypothese
, sondern ein Faktor, der die diplomatischen Aktionen ebenso
wie die Tendenzen der inneren Politik ganz wesentlich mitbestimmte;
dass sogar gewisse soziale Gruppen Entscheidungen erzwangen, die
man gemeinhin nur der über den Gruppeninteressen' stehenden
hohen Bürokratie zuschreiben möchte." (Krieg 1969,
Vorwort)
Bereits in "Griff nach der Weltmacht" hatte Fischer darauf
hingewiesen, sein Buch weise über seinen Gegenstand hinaus,
indem es, wie er schreibt, "bestimmte Denkformen und Zielsetzungen
für die deutsche Politik im Ersten Weltkrieg aufzeigt, die
weiterhin wirksam geblieben sind. Von daher gesehen dürfte
es auch ein Beitrag zu dem Problem der Kontinuität in der deutschen
Geschichte vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg sein". (Ebd.,
S. 12)
Damit verwies Fischer auf die gesellschaftlichen und politischen
Entstehungsbedingungen des Faschismus und des "Dritten Reiches"
- im Deutschland der späten Adenauer-Zeit zweifellos eine Provokation.
Im Titel seines 1993 erschienenen Bandes "Hitler war kein Betriebsunfall"
fasste er die These von der Kontinuität deutscher Expansionspolitik
noch einmal griffig zusammen.
Tabubruch
Die Reaktionen auf Fischers Thesen, die sein damaliger Assistent
Immanuel Geiss rückblickend nicht weniger als eine "Verletzung
des großen Nationaltabus der Deutschen" nannte, fielen
in der BRD zunächst mehrheitlich ablehnend aus. Rückendeckung
erhielt er anfangs fast ausschließlich von einigen seiner
Schüler wie Geiss. Im Ausland dagegen, in England etwa von
John C. G. Röhl, in Österreich von Rudolf Neck, sowie
in der DDR wurde Fischers Position eher unterstützt.
Bezeichnenderweise waren es nicht die 750 Seiten über die
Kriegszielpolitik des Kaiserreichs, durch die "extremste Abwehrreaktionen"
(Wolfgang Beutin) hervorgerufen wurden, sondern die 100 Seiten des
Berichts über die Juli-Krise. Dass unter den deutschen Publizisten
jene gegen Fischer zu Felde zogen, die ungebrochen in der Tradition
der bürgerlich-militaristischen und nazistischen Ideologie
standen (3), war nicht weiter verwunderlich. Doch nicht nur diese,
auch die Koryphäen der Zunft positionierten sich nahezu geschlossen
gegen den Hamburger Außenseiter, und viele von ihnen schätzten
Fischers Werk als - in den Worten Golo Manns - "im Grunde verfehlt"
ein. "Meistens indem sie nicht nur Fischers Konzeption verwarfen,
sondern gleichzeitig deren Schädlichkeit für die nationalen
Interessen Deutschlands behaupteten." (W. Beutin).
Als erster und schärfster Kritiker Fischers profilierte sich
der Zeithistoriker Gerhard Ritter, von 1926-1956 Lehrstuhlinhaber
an der Universität Freiburg i. Br. und ganz in der nationalapologetischen
Tradition stehend. Ungeachtet der von Fischer präsentierten
Quellen vertrat Ritter weiterhin die These von einer grundsätzlich
defensiven deutsche Politik im Juli/August 1914. Massive Unterstützung
aus der Professorenschaft erhielt er vor allem von Egmont Zechlin,
Hamburg, und von dem langjährigen Vorsitzenden des Verbandes
deutscher Historiker Karl Dietrich Erdmann, Kiel.
Für Ritter sprach aus Fischers Buch letztlich nichts anderes
als die "Erneuerung der Schuldanklage von Versailles".
Mit Fischers Deutung werde ein "Gipfel" in der "politisch-historischen
Modeströmung unserer Tage", der "Selbstverdunkelung
deutschen Geschichtsbewusstseins", erreicht, ereiferte sich
der nationalkonservative Historiker, der bekanntlich auch im antifaschistischen
Widerstand der "Roten Kapelle" nur "Landesverrat"
zu erkennen vermochte.
Charakteristisch für die Argumentation von Fischers Gegnern
war die Hineinmischung metaphysischer Kategorien, die dieser mit
seiner nüchternen, streng an den Quellen orientierten Vorgehensweise
gerade aus der Debatte hinausgefegt hatte. So warfen ihm seine Gegner
vor, "die ganze Summe des zähen und erbitterten Ringens
um die Vermeidung einer nationalen Katastrophe" (Hans Herzfeld)
komme bei ihm zu kurz, er sehe die "tragische Verwicklung gar
nicht" (Ritter), die "tiefe Tragik jenes Geschehens"
trete bei ihm "nicht in Erscheinung", so der Ritter-Schüler
Erwin Hölzle.
Der "Widerstand gegen die Bewusstmachung des Verdrängten"
(W. Beutin), der aus diesen "Kritiken" spricht, findet
sich aber auch in den Einwänden jener Fischer-Kritiker, die
wie Egmont Zechlin, Karl-Dietrich Erdmann und Andreas Hillgruber
zwar eine initiierende Verantwortung des Deutschen Reiches am Ersten
Weltkrieg nicht abzustreiten vermochten, gleichwohl aber darauf
beharrten, die Reichsleitung unter Bethmann Hollweg habe aus dem
Gefühl einer für Deutschland unhaltbar gewordenen Defensive
heraus die politische - und nur notfalls militärische - Offensive
gesucht. Mit dieser Argumentation folgten sie der angeblich von
Kurt Riezler, Vertrauter und politischer Berater Bethmann Hollwegs,
in seinen Tagebüchern (4) geprägten Theorie des "kalkulierten
Kriegsrisikos". Demnach habe Bethmann Hollweg den Krieg nicht
gewollt, so Erdmann noch in der 9. Auflage des "Gebhardt. Handbuch
der deutschen Geschichte" (1977, Bd. 18), doch habe auf ihm
die "fatalistische Vorstellung von der schließlichen
Unvermeidlichkeit des Krieges" gelastet, weshalb die politische
Reichsführung im Juli 1914 "sich bewusst für eine
Politik des Kriegsrisikos entschieden" habe.
Einmischung der Politik
1964 - man schrieb das 50. Jahr nach Ausbruch des Ersten, das 25.
Jahr nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs - nahm die Kontroverse
zunehmend den Charakter einer öffentlichen Debatte an, an der
sich nun mehr und mehr auch die Politik beteiligte. Vor dem Hintergrund
des seit Ende der 50er Jahren im Umbruch befindlichen politischen
Klimas in der BRD schuf die doppelte Jährung gute Voraussetzungen
für eine verstärkte Thematisierung der deutschen Vergangenheit,
deren öffentliche Aufarbeitung in der BRD bis dahin so gut
wie nicht stattgefunden hatte. Während sich die Kontroverse
zunächst weitgehend auf die Historische Zeitschrift (HZ) beschränkt
hatte, wurde die nun einsetzende publizistische Auseinandersetzung
vor allem in den überregionalen Tageszeitungen (FAZ, Die Welt,
Süddeutsche Zeitung) und in den Wochenzeitschriften (Die Zeit,
Der Spiegel) ausgetragen, wobei Gerhard Ritter in der FAZ, Fritz
Fischer im Spiegel publizierte. Dessen Herausgeber Rudolf Augstein
positionierte sich, auch durch einen Vorabdruck der zweiten Auflage
von Griff nach der Weltmacht, deutlich auf Fischers Seite. Auch
das Fernsehen nahm sich in Dokumentationen und Gesprächsrunden
mit den Hauptkontrahenten des Themas an. Fischers Gegner erhielten
nun zunehmend Verstärkung aus der Politik: In Ansprachen anlässlich
der Jahrestage bezogen sowohl Bundeskanzler Ludwig Erhard als auch
Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier dezidiert Position gegen
die Thesen Fischers.
Im Frühjahr 1964 wurde Fischer vom Goethe-Institut für
Vorträge in die USA eingeladen, doch das Auswärtige Amt
sperrte kurzfristig die Gelder für die Vortragsreise, trotz
Protests von zwölf an US-Universitäten lehrenden Historikern.
Die Reise war letztlich nur möglich, weil sich andere Finanzierungsquellen
auftaten. Andererseits konnte Gerhard Ritter im selben Jahr über
die Bundeszentrale für politische Bildung eine Vortragsreihe
veröffentlichen, die unentgeltlich an Geschichtslehrer verteilt
und auch im Radio ausgestrahlt wurde.
Einen Höhepunkt erreichte die Kontroverse auf dem legendären
Historikertag in Berlin vom Oktober 1964. Als Fischer seine Thesen
erläuterte, kam es zum offenen Schlagabtausch zwischen seinen
Anhängern und Gegnern, wobei es vor allem Studenten waren,
die Fischer begeistert applaudierten.
Deutsche Alleinschuld?
Hatte Fischer in der ersten Auflage von Griff nach der Weltmacht
noch von einer "erheblichen Verantwortung" des deutschen
Kaiserreichs am Kriegsausbruch gesprochen, so spitzte er diese vorsichtige
Äußerung im Laufe der Kontroverse immer weiter zu, um
schließlich doch zu konstatieren "dass im Juli 1914 ein
Kriegswille einzig und allein auf deutscher Seite bestand"
(5) Allerdings leugnete Fischer keineswegs die imperialistische
Politik der Kontrahenten Deutschlands. Was die Bestrebungen Deutschlands
aber so gefährlich machten, war seines Erachtens zum einen
dessen zu spät gekommener Imperialismus, der "gerade deshalb
besonders drängend und unruhestifend" auftrat. Zudem verband
sich in diesem eine hochmoderne Technokratie mit einem "aristokratisch-monarchischen,
militärisch geprägten Staatsgefüge" (6). Wenn
Fischer die deutsche Kriegszielpolitik ins Zentrum seiner Untersuchungen
stellte, so hatte dies reale Gründe, die sich aus der politischen
Ökonomie der internationalen Beziehungen nach der Jahrhundertwende
ableiteten. Es war vor allem die dynamische Entwicklung des deutschen
Kapitalismus infolge der Reichsgründung von 1871, die das Mächtegleichgewicht
Europas durcheinander brachte. Deutschland versuchte den Status
Quo dem Aufstieg seiner Industrie anzugleichen und seine wirtschaftlichen
und geopolitischen Interessen zu verfolgen. Dabei geriet es aber
zwangsläufig in Konflikt mit den anderen Großmächten,
die von diesem Status Quo in großem Maße profitierten.
Deutschlands Entschluss, das Attentat von Sarajewo im Juni 1914
zu nutzen, um seine Stellung in Südosteuropa zu stärken
und eine Kraftprobe mit Russland, dessen Verbündeten Frankreich
und wenn nötig auch England zu erzwingen, leitete sich aus
der Einschätzung ab, dass angesichts einer sich verschlechternden
Situation im Inland und international gehandelt werden müsse.
Die Bedeutung der Kontroverse - eine Bilanz
Obwohl nahezu alle führenden bundesdeutschen Zeithistoriker
ihnen ablehnend gegenüberstanden, und trotz der Einschaltung
politischer Instanzen, setzten sich Fischers Thesen aus Griff nach
der Weltmacht im Laufe der sechziger Jahre, vor allem in der jüngeren
Generation, zunehmend durch. In den folgenden Jahrzehnten bildete
sich ein weitgehender Konsens in der Forschung heraus. Danach galten
Juli-Krise und Kriegsausbruch 1914 als Endpunkt einer Entwicklung,
die durch eine ständige Steigerung der internationalen Spannungen
und eine immer kürzere Abfolge von Krisen gekennzeichnet war.
Weitgehende Einigkeit herrschte auch darüber, dass das Deutsche
Reich unter Kaiser Wilhelm II. durch seinen weltpolitischen Aktionismus
und seine wahnwitzige Flottenrüstung die internationale Ordnung
destabilisierte und daher die Hauptverantwortung nicht nur für
die Verschärfung der Spannungen, sondern auch für die
Auslösung des Krieges trug.
Von der etablierten - affirmativen - Geschichtswissenschaft werden
Fischer Thesen heute allenfalls in stark entschärfter Form
vertreten, häufig als "überholt", "überzogen"
oder "teilweise widerlegt" (Volker R. Berghahn) in ihrer
Bedeutung relativiert oder dem Unverbindlich-Allgemeinen überantwortet.
(7) Inzwischen fallen eine Reihe von jüngeren deutschen Historikern
sogar wieder hinter die Erkenntnisse der Fischer-Kontroverse zurück.
So spricht beispielsweise Holger Afflerbach in einer noch von Wolfgang
J. Mommsen, einem frühen Kritiker Fischers, betreuten Habilitationsschrift
von "einem europäischen Konsens, einen großen Krieg
zu vermeiden und statt dessen den friedlichen Ausgleich zu suchen"
Dass es dann doch zum Krieg kam, führt Afflerbach in erster
Linie auf Fehleinschätzungen der Politiker in Berlin und Wien
zurück. "Von hier aus bis zu dem Wort des ehemaligen britischen
Premiers David Lloyd George, alle europäischen Mächte
seien im Juli 1914 in den Krieg ,hineingeschlittert', ist es nur
noch ein kleiner Schritt", so Volker Ullrich in der Zeit.
Überhaupt spielt die Frage nach der Verantwortung für
den Kriegsausbruch in der offiziellen Erforschung des Ersten Weltkriegs
nur noch eine unwesentliche Rolle. Die Weigerung vieler Historiker,
die Verantwortung der führenden Eliten in Politik, Militär
und Wirtschaft für das legalisierte Massenmorden zu thematisieren,
steht im ungekehrten Verhältnis zur Brisanz dieser Frage. Unterscheidet
die aktuelle weltpolitische Lage sich auch in manchem von der Situation,
die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte, so lassen sich
doch markante Gemeinsamkeiten feststellen - dies gilt ganz besonders
für den Zusammenhang zwischen aggressivem Militarismus und
der auf einen Kollaps zusteuernden kapitalistischen Weltwirtschaft.
Versuchte Kompromittierung
Nach Fischers Tod im Jahr 1999 wurden unter Berufung auf Unterlagen
aus seinem Nachlass Stimmen laut, die offensichtlich auf dessen
Kompromittierung als Historiker abzielten. Vorgeworfen wurde ihm
u. a. ein zu enges Verhältnis zum "Reichsinstitut für
die Geschichte des neuen Deutschlands", das seit 1936 unter
der Leitung von Walter G. Frank stand. Nun hat Fischer, der 1933
in die SA, 1937 in die NSDAP eintrat, aus seiner Vergangenheit kein
Geheimnis gemacht. So hatte er sich nach eigenen Angaben in den
dreißiger Jahren aus finanziellen Gründen um ein Stipendium
bei Frank bemüht. Infolge des Krieges - Fischer wurde zum Militärdienst
eingezogen - soll es zu dem "Stipendium, verbunden mit einem
Forschungs-Projekt zum preußisch-protestantischen Pietismus"
aber nicht mehr gekommen sein. (Bernd F. Schulte) Noch während
des Krieges erhielt Fischer, unter anderem durch Walter Frank unterstützt,
einen Ruf auf einen der historischen Lehrstühle an der Hamburger
Universität. Aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, "gelangte
er 1947 auf jene Professur, die er bis zu seiner Emeritierung, infolge
Krankheit 1973, innehatte und welcher er zu Weltruf verhalf",
so Schulte. Der von dem Potsdamer Theologiehistoriker Klaus Große
Kracht im Jahr 2003 erhobene Vorwurf "Fischers Werk und Wirken
in der Bundesrepublik" zeichneten sich "durch einen tiefen
performativen Selbstwiderspruch aus: den Wunsch nach Veränderung
der politisch-historischen Kultur in Deutschland bei gleichzeitigem
Beschweigen seiner eigenen politischen Irrtümer vor 1945"
(8), erscheint daher zumindest überzogen. Ob es sich bei den
durch überregionale Zeitungen kolportierten Vorwurf um eine
"späte Rache der Protestanten" an dem kirchenkritischen
Historiker und ehemaligen protestantischen Theologen handelt, wie
der Fischer-Schüler Schulte vermutet, muss hier dahingestellt
bleiben.
Ohne Fischers SA- und Parteimitgliedschaft und seine Verbindung
zum Institut Franks entschuldigen zu wollen, sei daran erinnert,
dass sich das Gros der nach 1945 in der BRD maßgeblichen Historiker
keineswegs durch übergroße Ferne zum Naziregime auszeichnete.
Genannt seien hier stellvertretend Theodor Schieder, Werner Conze,
Hermann Aubin, Egmont Zechlin, Hans Herzfeld, Karl Erdmann, Gerhard
Ritter, Erwin Hölzle, Helmut Krausnick oder Martin Broszat.
Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen und Kontrahenten hat Fritz
Fischer die eigene Vergangenheit nicht geleugnet, geschweige denn
demokratisch umgedeutet. Wichtiger aber noch als dies: sie hat in
seiner wissenschaftlichen Arbeit, ganz sicher jedenfalls nach 1945,
keine braunen Spuren hinterlassen, was nicht alle seine Gegner für
sich in Anspruch nehmen können.
Anmerkungen
1) Kritische Stimmen wie diejenigen Eckhart Kehrs, Arthur Rosenbergs,
Richard Grellings oder Georg Metzlers waren die Ausnahme und wurden
von der Zunft bewusst ignoriert
2) An diesem Tag genehmigte die SPD-Fraktion im Reichstag die Kriegskredite
für den Ersten Weltkrieg. Mit den berühmt-berüchtigten
Worten ihres Vorsitzenden Hugo Haase, "wir lassen in der Stunde
der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich", stellte sich
die SPD hinter Kaiser Wilhelm II. und seine Regierung und verriet
damit in beispielloser Weise ihre eigenen Grundsätze und Prinzipien.
3) So etwa der ehemalige Leiter des "Tat"-Kreises, Hans
Zehrer, nach 1945 zunächst Chef des Sonntagsblattes, dann Chefredakteur
von Axel Springers Welt, oder der ebenfalls schwerbelastete ehemalige
Mitarbeiter Zehrers, Giselher Wirsing, SS-Sturmbannführer,
bis 1945 in der Spitze der NS-Propaganda tätig und nach dem
Krieg Chefredakteur der Zeitung Christ und Welt
4) Die Authentizität der Tagebücher Karl Riezlers ist
bis heute umstritten.
5) "Vom Zaum gebrochen - nicht hineingeschlittert. Deutschlands
Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs", in: Die Zeit, 3.9.1965;
vgl. ders., "Weltmacht oder Niedergang. Deutschland im ersten
Weltkrieg", Frankfurt/M. 1965.
6) "Drang zum ,Platz an der Sonne'", in: Die Welt, 7.7.1962
7) So etwa der Historiker Konrad H. Jarausch: "Der eigentliche
konstruktive Aspekt von Fischers Herausforderung besteht (...) weniger
in der Aufdeckung der deutschen Kriegsschuld als in der Universalisierung
nationaler Selbstkritik als zentraler Aufgabe der Zeitgeschichte
überhaupt."
8) In: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte, Heft 2/2003,
de Gruyter
Originalbeitrag: junge Welt, 11.10.2006
© www.globale-gleichheit.de
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