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Grundrechte-Report 2008


Grundrechte-Report 2007


Der Buchtipp:



von Rolf Gössner

Cover-Text


Januar 2006
Dringender Aufruf zur Rettung der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Iraks


Appell
Irak - Stoppt die Eskalation! Deutsche Unterstützung der Besatzung beenden! Weiter...


Interviews

17.11.2005
US-Senat will Guantánamo-Häftlingen das Klagerecht entziehen. Schlechte Aussichten für den Bremer Murat Kurnaz. Ein Gespräch mit Bernhard Docke Weiter...

15.09.2005
Interview mit Joachim Guilliard, Mitinitiator der "Initiative Internationales Tribunal der Völker über die Aggression gegen den Irak" Weiter...

21.05.2005
Interview mit Konstantin Wecker.
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Dokumentation

25.09.2005
Gezielter Eingriff in das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung.
Armin Fiand
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Specials

11. September

17.08.2005
Gefangen im eigenen Lügennetz Weiter...

 

Irak-Krieg

17.11.2005
Verbrannt mit weißem Phosphor:
Italienisches Fernsehen: USA setzten im irakischen Falludscha Chemiewaffen ein. Washington drängt auf Verlängerung des Besatzungsmandats
Rüdiger Göbel Weiter...

13.06.2005
Irak - ein besetztes Land
Aladins Wunderlampe
Dr. med. Eva-Maria Hobiger
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13.06.2005
Der "neue Irak"
Joachim Guilliard
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Antikriegs-Initiative stellt Strafanzeige nach dem Völkerstrafgesetzbuch. Weiter...


Informative Websites


 

Vom "Griff nach der Weltmacht" in den "Krieg der Illusionen"

Vor 45 Jahren erschien Fritz Fischers bahnrechendes Werk über die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland im Ersten Weltkrieg. Das bis heute umstrittene Buch löste den ersten deutschen Historikerstreit, die so genannte Fischer-Kontroverse aus.

Von Alexander Bahar
18. Oktober 2006

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Anders als in der DDR, wo sich die meisten Historiker darüber einig waren, waren, dass die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs beim deutschen Kaiserreich lag, blieb der Nachfolgestaat des Dritten Reiches auch in dieser Frage seinen Wurzeln treu. Die nach 1945 maßgeblichen BRD-Zeithistoriker, allesamt auf die ein oder andere Weise geprägt von der - im "Dritten Reich" noch ins Religiöse gesteigerten - nationalkonservativen Mythologie der Zwischenkriegszeit, griffen das von David Lloyd George (1916/22), dem britischen Premierminister der Kriegsjahre, geprägte Bild der schuldlos in die Kriegskatastrophe "hineingeschlitterten" Nationen dankbar auf. Dem Gros der Zeitgeschichtler (1) fiel es nicht schwer, Lloyd Georges plakative Formulierung mit der seinerzeit von der deutschen Reichsleitung propagierten These zu verknüpfen, wonach das Kaiserreich einen "Verteidigungskrieg" gegen die "Einkreisungspolitik" der Entente geführt habe.

In die einträchtig zelebrierte Apologie der Reichspolitik durch praktisch die gesamte deutsche Zeitgeschichtsforschung platzte das Werk des Hamburger Geschichtsprofessors Fritz Fischer wie eine Bombe.

Bereits 1959 hatte Fischer in der Historischen Zeitschrift (HZ) den Aufsatz "Deutsche Kriegsziele. Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914-1918" veröffentlicht. Zwei Jahre später, im Oktober 1961, erschien seine Monographie "Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18". In beiden Werken setzte sich Fischer mit pointierten Thesen deutlich von dem in Deutschland bis dahin gültigen Forschungsstand ab und löste damit eine hitzige Kontroverse aus.

Fischers Arbeiten beruhten auf akribischen Quellenrecherchen, vor allem der gründlichen Auswertung der Akten des Auswärtigen Amtes und der Reichskanzlei - dies wurde auch vom überwiegenden Teil der Rezensenten gewürdigt. Im Potsdamer Zentralarchiv war Fischer auf das "Septemberprogramm" des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg aus dem Jahr 1914 gestoßen, das in Erwartung eines raschen deutschen Sieges weitreichende Annexionen in Frankreich und den Beneluxstaaten sowie koloniale Inbesitznahmen in Zentralafrika vorsah. Die Bedeutung des "Septemberprogramms" lag nach Fischer in zwei Punkten: "Einmal stellte das Programm keine isolierten Forderungen des Kanzlers dar, sondern repräsentierte Ideen führender Köpfe der Wirtschaft, Politik und des Militärs. Zum anderen waren … die in dem Programm niedergelegten Richtlinien im Prinzip Grundlage der gesamten deutschen Kriegszielpolitik bis zum Ende des Krieges, wenn sich auch je aus der Gesamtlage einzelne Modifikationen ergaben." (Griff, Sonderausgabe 1967, S. 95)

Deutschland, so legten es die Quellen nahe, war also keineswegs rein defensiv in den Krieg "hineingeschlittert", sondern hatte von Anfang an weitreichende hegemoniale Kriegsziele verfolgt. Als Nachkriegsordnung, so konnte der Hamburger Neuzeithistoriker zeigen, schwebte den verantwortlichen Stellen die Schaffung eines von Deutschland beherrschten "Mitteleuropa" vor, das sich als Zollverband unter deutscher Führung von Frankreich bis Polen erstrecken sollte, was nichts anderes als die Hegemonialstellung des Reiches in Europa bedeutet hätte.

Weitergehend stellte Fischer heraus, dass diese Kriegsziele in einem engen Zusammenhang mit der deutschen imperialistischen "Weltpolitik" vor 1914 zu sehen seien, dass das projektierte Ziel einer deutschen Hegemonie in Europa demnach schon vor dem Krieg konzipiert worden sei.

Mehr noch als mit der Betonung der Kontinuität deutscher Hegemonialpolitik erregte Fischer mit seiner Neuinterpretation der deutschen Politik während der so genanten Juli-Krise den Widerspruch der Zunft. So konnte er nachweisen, dass das Attentat vom 28. Juni 1914 in Sarajewo für die deutsche Reichsleitung der willkommene Anlass für die Verwirklichung ihrer weitreichenden Ziele war, dass sie Österreich-Ungarn zum Krieg gegen Serbien geradezu gedrängt und - im Gegensatz zu ihren offiziellen Bekundungen - eine friedliche Beilegung oder doch zumindest eine Eindämmung des Konflikts systematisch hintertrieben hatte.

Fischer schloss: "Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt und gedeckt hat und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Juli 1914 bewusst auf einen Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges." (Griff, Sonderausgabe 1967, S. 82) "Nach außen und gegenüber der eigenen Nation" habe die Reichsleitung im Juli 1914 planmäßig die Fiktion eines "Überfalls" inszeniert (Ebd., Vorwort, S. 7). Die "gegenüber Russland so systematisch aufgebaute Kriegsschuldfiktion" habe durch die "Mobilisierung der antizaristischen Affekte innerhalb der Sozialdemokratie""eine Ausschaltung jeder grundsätzlichen Opposition der Sozialdemokratie" und damit die nationale Einheitsfront des 4. August 1914 (2) ermöglicht. (Ebd., S. 80/88).

Der deutschen Geschichtswissenschaft warf Fischer vor, dass sie "unkritisch diese ,Überfallthese' der deutschen Reichsleitung" übernommen habe (Ebd., Vorwort, S. 7)

Politische Kontinuität

In späteren Werken, etwa "Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914" (erstmals 1969) und zuletzt zusammenfassend "Juli 1914" (1983), akzentuierte und verschärfte Fischer, auch in Reaktion auf die z. T. äußerst aggressiv geführten Angriffe, seine Position: Deutschland habe eingedenk seines expansiven Kriegszielkatalogs spätestens seit 1911 bewusst auf einen allgemeinen Krieg hingearbeitet. Zunehmend betonte Fischer dabei auch "das Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik". Dieses sei "keine nachträglich konstruierte Hypothese …, sondern ein Faktor, der die diplomatischen Aktionen ebenso wie die Tendenzen der inneren Politik ganz wesentlich mitbestimmte; dass sogar gewisse soziale Gruppen Entscheidungen erzwangen, die man gemeinhin nur der ‚über den Gruppeninteressen' stehenden hohen Bürokratie zuschreiben möchte." (Krieg 1969, Vorwort)

Bereits in "Griff nach der Weltmacht" hatte Fischer darauf hingewiesen, sein Buch weise über seinen Gegenstand hinaus, indem es, wie er schreibt, "bestimmte Denkformen und Zielsetzungen für die deutsche Politik im Ersten Weltkrieg aufzeigt, die weiterhin wirksam geblieben sind. Von daher gesehen dürfte es auch ein Beitrag zu dem Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg sein". (Ebd., S. 12)

Damit verwies Fischer auf die gesellschaftlichen und politischen Entstehungsbedingungen des Faschismus und des "Dritten Reiches" - im Deutschland der späten Adenauer-Zeit zweifellos eine Provokation. Im Titel seines 1993 erschienenen Bandes "Hitler war kein Betriebsunfall" fasste er die These von der Kontinuität deutscher Expansionspolitik noch einmal griffig zusammen.

Tabubruch

Die Reaktionen auf Fischers Thesen, die sein damaliger Assistent Immanuel Geiss rückblickend nicht weniger als eine "Verletzung des großen Nationaltabus der Deutschen" nannte, fielen in der BRD zunächst mehrheitlich ablehnend aus. Rückendeckung erhielt er anfangs fast ausschließlich von einigen seiner Schüler wie Geiss. Im Ausland dagegen, in England etwa von John C. G. Röhl, in Österreich von Rudolf Neck, sowie in der DDR wurde Fischers Position eher unterstützt.

Bezeichnenderweise waren es nicht die 750 Seiten über die Kriegszielpolitik des Kaiserreichs, durch die "extremste Abwehrreaktionen" (Wolfgang Beutin) hervorgerufen wurden, sondern die 100 Seiten des Berichts über die Juli-Krise. Dass unter den deutschen Publizisten jene gegen Fischer zu Felde zogen, die ungebrochen in der Tradition der bürgerlich-militaristischen und nazistischen Ideologie standen (3), war nicht weiter verwunderlich. Doch nicht nur diese, auch die Koryphäen der Zunft positionierten sich nahezu geschlossen gegen den Hamburger Außenseiter, und viele von ihnen schätzten Fischers Werk als - in den Worten Golo Manns - "im Grunde verfehlt" ein. "Meistens indem sie nicht nur Fischers Konzeption verwarfen, sondern gleichzeitig deren Schädlichkeit für die nationalen Interessen Deutschlands behaupteten." (W. Beutin).

Als erster und schärfster Kritiker Fischers profilierte sich der Zeithistoriker Gerhard Ritter, von 1926-1956 Lehrstuhlinhaber an der Universität Freiburg i. Br. und ganz in der nationalapologetischen Tradition stehend. Ungeachtet der von Fischer präsentierten Quellen vertrat Ritter weiterhin die These von einer grundsätzlich defensiven deutsche Politik im Juli/August 1914. Massive Unterstützung aus der Professorenschaft erhielt er vor allem von Egmont Zechlin, Hamburg, und von dem langjährigen Vorsitzenden des Verbandes deutscher Historiker Karl Dietrich Erdmann, Kiel.

Für Ritter sprach aus Fischers Buch letztlich nichts anderes als die "Erneuerung der Schuldanklage von Versailles". Mit Fischers Deutung werde ein "Gipfel" in der "politisch-historischen Modeströmung unserer Tage", der "Selbstverdunkelung deutschen Geschichtsbewusstseins", erreicht, ereiferte sich der nationalkonservative Historiker, der bekanntlich auch im antifaschistischen Widerstand der "Roten Kapelle" nur "Landesverrat" zu erkennen vermochte.

Charakteristisch für die Argumentation von Fischers Gegnern war die Hineinmischung metaphysischer Kategorien, die dieser mit seiner nüchternen, streng an den Quellen orientierten Vorgehensweise gerade aus der Debatte hinausgefegt hatte. So warfen ihm seine Gegner vor, "die ganze Summe des zähen und erbitterten Ringens um die Vermeidung einer nationalen Katastrophe" (Hans Herzfeld) komme bei ihm zu kurz, er sehe die "tragische Verwicklung gar nicht" (Ritter), die "tiefe Tragik jenes Geschehens" trete bei ihm "nicht in Erscheinung", so der Ritter-Schüler Erwin Hölzle.

Der "Widerstand gegen die Bewusstmachung des Verdrängten" (W. Beutin), der aus diesen "Kritiken" spricht, findet sich aber auch in den Einwänden jener Fischer-Kritiker, die wie Egmont Zechlin, Karl-Dietrich Erdmann und Andreas Hillgruber zwar eine initiierende Verantwortung des Deutschen Reiches am Ersten Weltkrieg nicht abzustreiten vermochten, gleichwohl aber darauf beharrten, die Reichsleitung unter Bethmann Hollweg habe aus dem Gefühl einer für Deutschland unhaltbar gewordenen Defensive heraus die politische - und nur notfalls militärische - Offensive gesucht. Mit dieser Argumentation folgten sie der angeblich von Kurt Riezler, Vertrauter und politischer Berater Bethmann Hollwegs, in seinen Tagebüchern (4) geprägten Theorie des "kalkulierten Kriegsrisikos". Demnach habe Bethmann Hollweg den Krieg nicht gewollt, so Erdmann noch in der 9. Auflage des "Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte" (1977, Bd. 18), doch habe auf ihm die "fatalistische Vorstellung von der schließlichen Unvermeidlichkeit des Krieges" gelastet, weshalb die politische Reichsführung im Juli 1914 "sich bewusst für eine Politik des Kriegsrisikos entschieden" habe.

Einmischung der Politik

1964 - man schrieb das 50. Jahr nach Ausbruch des Ersten, das 25. Jahr nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs - nahm die Kontroverse zunehmend den Charakter einer öffentlichen Debatte an, an der sich nun mehr und mehr auch die Politik beteiligte. Vor dem Hintergrund des seit Ende der 50er Jahren im Umbruch befindlichen politischen Klimas in der BRD schuf die doppelte Jährung gute Voraussetzungen für eine verstärkte Thematisierung der deutschen Vergangenheit, deren öffentliche Aufarbeitung in der BRD bis dahin so gut wie nicht stattgefunden hatte. Während sich die Kontroverse zunächst weitgehend auf die Historische Zeitschrift (HZ) beschränkt hatte, wurde die nun einsetzende publizistische Auseinandersetzung vor allem in den überregionalen Tageszeitungen (FAZ, Die Welt, Süddeutsche Zeitung) und in den Wochenzeitschriften (Die Zeit, Der Spiegel) ausgetragen, wobei Gerhard Ritter in der FAZ, Fritz Fischer im Spiegel publizierte. Dessen Herausgeber Rudolf Augstein positionierte sich, auch durch einen Vorabdruck der zweiten Auflage von Griff nach der Weltmacht, deutlich auf Fischers Seite. Auch das Fernsehen nahm sich in Dokumentationen und Gesprächsrunden mit den Hauptkontrahenten des Themas an. Fischers Gegner erhielten nun zunehmend Verstärkung aus der Politik: In Ansprachen anlässlich der Jahrestage bezogen sowohl Bundeskanzler Ludwig Erhard als auch Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier dezidiert Position gegen die Thesen Fischers.

Im Frühjahr 1964 wurde Fischer vom Goethe-Institut für Vorträge in die USA eingeladen, doch das Auswärtige Amt sperrte kurzfristig die Gelder für die Vortragsreise, trotz Protests von zwölf an US-Universitäten lehrenden Historikern. Die Reise war letztlich nur möglich, weil sich andere Finanzierungsquellen auftaten. Andererseits konnte Gerhard Ritter im selben Jahr über die Bundeszentrale für politische Bildung eine Vortragsreihe veröffentlichen, die unentgeltlich an Geschichtslehrer verteilt und auch im Radio ausgestrahlt wurde.

Einen Höhepunkt erreichte die Kontroverse auf dem legendären Historikertag in Berlin vom Oktober 1964. Als Fischer seine Thesen erläuterte, kam es zum offenen Schlagabtausch zwischen seinen Anhängern und Gegnern, wobei es vor allem Studenten waren, die Fischer begeistert applaudierten.

Deutsche Alleinschuld?

Hatte Fischer in der ersten Auflage von Griff nach der Weltmacht noch von einer "erheblichen Verantwortung" des deutschen Kaiserreichs am Kriegsausbruch gesprochen, so spitzte er diese vorsichtige Äußerung im Laufe der Kontroverse immer weiter zu, um schließlich doch zu konstatieren "dass im Juli 1914 ein Kriegswille einzig und allein auf deutscher Seite bestand" (5) Allerdings leugnete Fischer keineswegs die imperialistische Politik der Kontrahenten Deutschlands. Was die Bestrebungen Deutschlands aber so gefährlich machten, war seines Erachtens zum einen dessen zu spät gekommener Imperialismus, der "gerade deshalb besonders drängend und unruhestifend" auftrat. Zudem verband sich in diesem eine hochmoderne Technokratie mit einem "aristokratisch-monarchischen, militärisch geprägten Staatsgefüge" (6). Wenn Fischer die deutsche Kriegszielpolitik ins Zentrum seiner Untersuchungen stellte, so hatte dies reale Gründe, die sich aus der politischen Ökonomie der internationalen Beziehungen nach der Jahrhundertwende ableiteten. Es war vor allem die dynamische Entwicklung des deutschen Kapitalismus infolge der Reichsgründung von 1871, die das Mächtegleichgewicht Europas durcheinander brachte. Deutschland versuchte den Status Quo dem Aufstieg seiner Industrie anzugleichen und seine wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen zu verfolgen. Dabei geriet es aber zwangsläufig in Konflikt mit den anderen Großmächten, die von diesem Status Quo in großem Maße profitierten. Deutschlands Entschluss, das Attentat von Sarajewo im Juni 1914 zu nutzen, um seine Stellung in Südosteuropa zu stärken und eine Kraftprobe mit Russland, dessen Verbündeten Frankreich und wenn nötig auch England zu erzwingen, leitete sich aus der Einschätzung ab, dass angesichts einer sich verschlechternden Situation im Inland und international gehandelt werden müsse.

Die Bedeutung der Kontroverse - eine Bilanz

Obwohl nahezu alle führenden bundesdeutschen Zeithistoriker ihnen ablehnend gegenüberstanden, und trotz der Einschaltung politischer Instanzen, setzten sich Fischers Thesen aus Griff nach der Weltmacht im Laufe der sechziger Jahre, vor allem in der jüngeren Generation, zunehmend durch. In den folgenden Jahrzehnten bildete sich ein weitgehender Konsens in der Forschung heraus. Danach galten Juli-Krise und Kriegsausbruch 1914 als Endpunkt einer Entwicklung, die durch eine ständige Steigerung der internationalen Spannungen und eine immer kürzere Abfolge von Krisen gekennzeichnet war. Weitgehende Einigkeit herrschte auch darüber, dass das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. durch seinen weltpolitischen Aktionismus und seine wahnwitzige Flottenrüstung die internationale Ordnung destabilisierte und daher die Hauptverantwortung nicht nur für die Verschärfung der Spannungen, sondern auch für die Auslösung des Krieges trug.

Von der etablierten - affirmativen - Geschichtswissenschaft werden Fischer Thesen heute allenfalls in stark entschärfter Form vertreten, häufig als "überholt", "überzogen" oder "teilweise widerlegt" (Volker R. Berghahn) in ihrer Bedeutung relativiert oder dem Unverbindlich-Allgemeinen überantwortet. (7) Inzwischen fallen eine Reihe von jüngeren deutschen Historikern sogar wieder hinter die Erkenntnisse der Fischer-Kontroverse zurück. So spricht beispielsweise Holger Afflerbach in einer noch von Wolfgang J. Mommsen, einem frühen Kritiker Fischers, betreuten Habilitationsschrift von "einem europäischen Konsens, einen großen Krieg zu vermeiden und statt dessen den friedlichen Ausgleich zu suchen" Dass es dann doch zum Krieg kam, führt Afflerbach in erster Linie auf Fehleinschätzungen der Politiker in Berlin und Wien zurück. "Von hier aus bis zu dem Wort des ehemaligen britischen Premiers David Lloyd George, alle europäischen Mächte seien im Juli 1914 in den Krieg ,hineingeschlittert', ist es nur noch ein kleiner Schritt", so Volker Ullrich in der Zeit.

Überhaupt spielt die Frage nach der Verantwortung für den Kriegsausbruch in der offiziellen Erforschung des Ersten Weltkriegs nur noch eine unwesentliche Rolle. Die Weigerung vieler Historiker, die Verantwortung der führenden Eliten in Politik, Militär und Wirtschaft für das legalisierte Massenmorden zu thematisieren, steht im ungekehrten Verhältnis zur Brisanz dieser Frage. Unterscheidet die aktuelle weltpolitische Lage sich auch in manchem von der Situation, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte, so lassen sich doch markante Gemeinsamkeiten feststellen - dies gilt ganz besonders für den Zusammenhang zwischen aggressivem Militarismus und der auf einen Kollaps zusteuernden kapitalistischen Weltwirtschaft.

Versuchte Kompromittierung

Nach Fischers Tod im Jahr 1999 wurden unter Berufung auf Unterlagen aus seinem Nachlass Stimmen laut, die offensichtlich auf dessen Kompromittierung als Historiker abzielten. Vorgeworfen wurde ihm u. a. ein zu enges Verhältnis zum "Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands", das seit 1936 unter der Leitung von Walter G. Frank stand. Nun hat Fischer, der 1933 in die SA, 1937 in die NSDAP eintrat, aus seiner Vergangenheit kein Geheimnis gemacht. So hatte er sich nach eigenen Angaben in den dreißiger Jahren aus finanziellen Gründen um ein Stipendium bei Frank bemüht. Infolge des Krieges - Fischer wurde zum Militärdienst eingezogen - soll es zu dem "Stipendium, verbunden mit einem Forschungs-Projekt zum preußisch-protestantischen Pietismus" aber nicht mehr gekommen sein. (Bernd F. Schulte) Noch während des Krieges erhielt Fischer, unter anderem durch Walter Frank unterstützt, einen Ruf auf einen der historischen Lehrstühle an der Hamburger Universität. Aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, "gelangte er 1947 auf jene Professur, die er bis zu seiner Emeritierung, infolge Krankheit 1973, innehatte und welcher er zu Weltruf verhalf", so Schulte. Der von dem Potsdamer Theologiehistoriker Klaus Große Kracht im Jahr 2003 erhobene Vorwurf "Fischers Werk und Wirken in der Bundesrepublik" zeichneten sich "durch einen tiefen performativen Selbstwiderspruch aus: den Wunsch nach Veränderung der politisch-historischen Kultur in Deutschland bei gleichzeitigem Beschweigen seiner eigenen politischen Irrtümer vor 1945" (8), erscheint daher zumindest überzogen. Ob es sich bei den durch überregionale Zeitungen kolportierten Vorwurf um eine "späte Rache der Protestanten" an dem kirchenkritischen Historiker und ehemaligen protestantischen Theologen handelt, wie der Fischer-Schüler Schulte vermutet, muss hier dahingestellt bleiben.

Ohne Fischers SA- und Parteimitgliedschaft und seine Verbindung zum Institut Franks entschuldigen zu wollen, sei daran erinnert, dass sich das Gros der nach 1945 in der BRD maßgeblichen Historiker keineswegs durch übergroße Ferne zum Naziregime auszeichnete. Genannt seien hier stellvertretend Theodor Schieder, Werner Conze, Hermann Aubin, Egmont Zechlin, Hans Herzfeld, Karl Erdmann, Gerhard Ritter, Erwin Hölzle, Helmut Krausnick oder Martin Broszat.

Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen und Kontrahenten hat Fritz Fischer die eigene Vergangenheit nicht geleugnet, geschweige denn demokratisch umgedeutet. Wichtiger aber noch als dies: sie hat in seiner wissenschaftlichen Arbeit, ganz sicher jedenfalls nach 1945, keine braunen Spuren hinterlassen, was nicht alle seine Gegner für sich in Anspruch nehmen können.


Anmerkungen

1) Kritische Stimmen wie diejenigen Eckhart Kehrs, Arthur Rosenbergs, Richard Grellings oder Georg Metzlers waren die Ausnahme und wurden von der Zunft bewusst ignoriert

2) An diesem Tag genehmigte die SPD-Fraktion im Reichstag die Kriegskredite für den Ersten Weltkrieg. Mit den berühmt-berüchtigten Worten ihres Vorsitzenden Hugo Haase, "wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich", stellte sich die SPD hinter Kaiser Wilhelm II. und seine Regierung und verriet damit in beispielloser Weise ihre eigenen Grundsätze und Prinzipien.

3) So etwa der ehemalige Leiter des "Tat"-Kreises, Hans Zehrer, nach 1945 zunächst Chef des Sonntagsblattes, dann Chefredakteur von Axel Springers Welt, oder der ebenfalls schwerbelastete ehemalige Mitarbeiter Zehrers, Giselher Wirsing, SS-Sturmbannführer, bis 1945 in der Spitze der NS-Propaganda tätig und nach dem Krieg Chefredakteur der Zeitung Christ und Welt

4) Die Authentizität der Tagebücher Karl Riezlers ist bis heute umstritten.

5) "Vom Zaum gebrochen - nicht hineingeschlittert. Deutschlands Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs", in: Die Zeit, 3.9.1965; vgl. ders., "Weltmacht oder Niedergang. Deutschland im ersten Weltkrieg", Frankfurt/M. 1965.

6) "Drang zum ,Platz an der Sonne'", in: Die Welt, 7.7.1962

7) So etwa der Historiker Konrad H. Jarausch: "Der eigentliche konstruktive Aspekt von Fischers Herausforderung besteht (...) weniger in der Aufdeckung der deutschen Kriegsschuld als in der Universalisierung nationaler Selbstkritik als zentraler Aufgabe der Zeitgeschichte überhaupt."

8) In: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte, Heft 2/2003, de Gruyter

Originalbeitrag: junge Welt, 11.10.2006

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