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Ein chemisches Verfahren und die Politik der Zwischenkriegszeit

Brot und Sprengstoff

Von Günther Luxbacher

Manche Technologien greifen derart massiv in politische, wirtschaftliche und soziale Machtverhältnisse ein, dass sie die Welt zu verändern imstande sind. Dass die Welt dabei trotzdem die alte bleibt, zeigt der weltweite Kampf um die chemische Hochdrucksynthese der beiden Nobelpreisträger Fritz Haber und Carl Bosch. Sie entwickelten knapp vor Beginn des Ersten Weltkrieges das grundlegende Verfahren zur Herstellung von Kunstdünger.

"Stickstoffkriege"

Jahrzehntelang herrschte der Glaube, dass die begrenzten Ernteerträge eine grundlegende Schranke bei der Bevölkerungsvermehrung darstellten. Der prominente englische Nationalökonom Thomas Malthus sah es als erwiesen an, dass das Verhältnis zwischen bebauter Fläche und Kopfzahl eine natürliche Konstante und absolute Grenze darstelle.

Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts endlich die Bedeutung des Stickstoffeintrags in das Erdreich erkannt wurde, begann weltweit die fieberhafte Suche nach großen Stickstoffvorkommen. In Form von nitrathaltigem Sand, in dem Stickstoff gebunden vorkam, gab es gigantische Lagerstätten im Grenzgebiet von Chile, Peru und Bolivien in der Atacama-Wüste. Der Sand wurde den Schiffen der europäischen Handelsflotte auf der Rückfahrt beigeladen, die Region schien vor einem ungeahnten Aufschwung zu stehen. Er wurde zusätzlich angefeuert durch die Tatsache, dass man aus Chile-Salpeter auch hochwertige Sprengstoffe herstellen konnte. Wer weiß, wie die Geschichte Lateinamerikas verlaufen wäre, hätte man die Vorkommen gemeinsam und friedlich ausgebeutet und die Erträge gerecht verteilt? Doch Peru und Bolivien begannen in einem Geheimpakt damit, Chile wirtschaftlich aus dem Geschäft zu drängen, was 1879 zum so genannten "Salpeterkrieg" führte, der fast fünf Jahre lang andauerte und 14.000 Tote kostete. Natürlich steuerten die Industriemächte den Konflikt im Hintergrund mit, um sich eine gute Ausgangsposition für eigene Anteile zu sichern. Das siegreiche Chile kassierte schließlich mehrere Landstriche von seinen Gegnern, Verlierer Bolivien wurde dadurch zum Binnenstaat.

Der anderen Seite der Erdkugel machte dieser Krieg schlagartig klar, wie unmittelbar ihre gesamte Nahrungsbasis von politischen Ereignissen abhing. Den rohstoffarmen Ländern, allen voran Deutschland, war die Problematik schon länger bekannt. Da beispielsweise viele Färbepflanzen im Inland nicht richtig gediehen und deren Anbau mühsam war, hatte man begonnen, künstliche Farbstoffe aus einem der wenigen massenhaft zur Verfügung stehenden Rohstoffe zu gewinnen, nämlich aus der Steinkohle. Aus dem Steinkohleteer wurden alle möglichen Farben destilliert, ein Verfahren, das den Ursprung von Konzernen wie den "Badischen Anilin- und Sodafabriken", kurz BASF, darstellten.

Dieselbe BASF horchte auf, als ein prominenter Chemiker namens Fritz Haber ihr ein Verfahren zur Gewinnung von Stickstoff aus der Luft und zur Bindung (und damit Marktfähigkeit) des ansonsten flüchtigen Gases in Form von Ammoniak anbot.

Zahlreiche Chemiker hatten sich um die Jahrhundertwende darum bemüht, Stickstoff aus der Luft zu gewinnen und anschließend in irgendeiner Form zu fixieren. So arbeiteten damals auch die Österreichischen Chemischen Werke daran, Ammoniak aus den Elementen Stickstoff und Wasserstoff zu synthetisieren. Die beiden Chemiker und Unternehmensgründer Gebrüder Margulies hatten die Creditanstalt für Handel und Gewerbe von ihrem Projekt überzeugen können und sie befanden sich auf genau dem richtigen Weg, indem sie davon sprachen, dass man Stickstoff und Wasserstoff katalytisch "im Großen" vereinigen müsse. Obwohl es ihnen gelungen war, geringe Mengen Ammoniak zu erhalten, waren sie damit technisch doch an ihre Grenzen gekommen und wandten sich im Sommer 1903 an den deutschen Chemiker Fritz Haber von der technischen Hochschule Karlsruhe um Hilfe. Doch Haber konnte ihnen zunächst nur bescheinigen, dass ein derartiges Verfahren zwar fantastisch, mit den derzeitigen Mitteln aber undurchführbar sei.

Haber (und anderen chemischen Größen der Zeit) ließ die Anfrage der beiden Österreicher keine Ruhe und man forschte nun ohne die Österreichischen Chemischen Werke gemeinsam mit deutschen Unternehmen weiter. 15 Jahre später strengten die verschmähten Gebrüder Margulies einen Prozess gegen Haber an, um wenigstens einen Anteil an den Lizenzeinnahmen aus dem deutschen Ammoniakgeschäft zu erhalten, zu dem sie den Anstoß geliefert hatten.

Nach mehrjähriger Forschungstätigkeit und mit der Gewissheit eines prinzipiell tauglichen Verfahrens in der Tasche, ging Haber zum größten deutschen Chemieunternehmen. 1908 schloss er einen Mitarbeitervertrag mit der BASF und überließ dem Farben- und Sodakonzern sein entscheidendes Patent 235.421 "Verfahren zur synthetischen Darstellung von Ammoniak aus den Elementen". Weitere Patente folgten, die eingesetzten Katalysatoren Platin und Osmium wurden durch billigere ersetzt und ein weiterer BASF-Mitarbeiter, der Kölner Chemie- und Stahlfachmann Carl Bosch, begann sich um die Durchführung der Ammoniaksynthese, des später nobelpreisgekrönten Haber-Bosch-Verfahrens, im großindustriellen Stil zu kümmern.

Das Haber-Bosch-Verfahren wurde zu dem bahnbrechenden Verfahren der chemischen Industrie des 20. Jahrhunderts, jahrzehntelang zehrten andere Synthesen wie die von Methanol, von Kunstbenzin und von Kunstkautschuk (Buna genannt) von den Erfahrungen, die bei der Ammoniaksynthese gemacht worden waren. 1913 ging die BASF-Fabrik in Ludwigshafen-Oppau in Betrieb. Wohl noch nie wurde einem chemischen Verfahren soviel Aufmerksamkeit in der Presse zuteil wie diesem, schließlich konnte man in Schlagzeilen behaupten, der Hunger sei besiegt und ein Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte eingetreten. Doch es dauerte nicht einmal zwei Jahre, um die Heilserwartungen in ihr Gegenteil zu verkehren.

Das "Salpeterversprechen"

Trotz der Erfolge gab Deutschland in den letzten Tagen der Menschheit 1914 jährlich 150 Mill. Goldmark für die Einfuhr von Chile-Salpeter aus. Schätzungen darüber, wie viele Prozent davon zu Sprengstoff und wie viele zu Dünger verarbeitet wurden, existieren nicht. Fest steht bloß, dass die erste erfolgreiche Kriegsaktion der Alliierten darin bestand, sofort alle ChileSalpeter-Transporte nach Deutschland zu verhindern. Wie Fritz Haber und Carl Bosch entsetzt feststellten, existierten bei der deutschen Generalität keinerlei Vorstellungen über die technisch-politische Dimension dieser fatalen deutschen Abhängigkeit. Erst allmählich dämmerte offiziellen deutschen Stellen, dass der soeben begonnen Krieg in wenigen Wochen, nämlich mit dem Schwinden der Salpeterreserven, auch schon wieder zu Ende sein würde. Es war ein existenzieller Glücksfall für das deutsche Heer, dass es im eroberten Rotterdamer Hafen volle Lagerhäuser mit Chile-Salpeter beschlagnahmen konnte. Außerdem konnte man mit Giftgas, ebenfalls entwickelt von Fritz Haber, das fehlende Spreng- und Schießpulver an der Front wettmachen.

Doch irgendwoher mussten Sprengmittel langfristig kommen. Die BASF-Leitung wusste längst um den wirklichen Wert ihrer Technologie Bescheid. Man konnte durch Anhängen eines Verfahrensschrittes an das Haber-Bosch-Verfahren aus dem Düngemittel und Menschheits-Wohltäter Ammoniak Salpeter gewinnen, die Basis für Sprengstoffe. Bereits vor Kriegsbeginn war im internen BASF-Briefwechsel die Rede davon, dass Salpeter im Gegensatz zu Ammoniak "in jedem Umfang" auf dem Markt unterzubringen sei. Und so wurde Bosch noch in den ersten Kriegswochen in das Berliner Kriegsministerium zitiert, wo er sein später berühmt gewordenes "Salpeterversprechen" an die Oberste Heeresleitung gab.

Der Stickstoffvertrag

Der Erste Weltkrieg war der erste Krieg, in dem die Siegermächte beschlossen, über die Besiegten auch nach allgemeinen, weltweit gültigen moralischen Werten zu urteilen, eine heroische Aufgabe, an der sie kläglich scheiterten. Denn 1918 standen die Besatzungsmächte in Oppau und Leuna vor dem Problem, zu definieren, wo die Rüstungsrelevanz in der deutschen Chemieindustrie begann und wo sie endete. Wie weit hatten die Fabriken zur Herstellung von Düngemitteln und wie weit zur Herstellung von Sprengstoffen gedient? Die Antwort auf diese Frage war angesichts mehrerer Hungerwinter wohl nicht allzu schwierig. Vor allem die französischen Militärs entpuppten sich als gar nicht gemütlich und wollten alle deutschen Besitztümer beschlagnahmen, auch die deutschen Patente in Frankreich nicht zurückgeben, alle deutschen Nitratstandorte schließen und die Farbenfabriken gleich dazu, schließlich waren Abfallprodukte derselben in der Giftgasproduktion eingesetzt worden. Doch Carl Bosch widersetzte sich sogar den Forderungen nach Inspektion der Oppauer Anlage durch die Alliierten bei laufendem Betrieb. Der Schock bei den Militärs vor Ort saß tief, als er mit seiner Meinung bei der Alliierten Kommission auch noch auf Verständnis stieß. Die Welt schien Kopf zu stehen. Was war passiert?

Carl Bosch war zum deutschen Unterhändler der chemischen Industrie in Versailles gemacht worden. Die Stimmung war gedrückt, die deutsche Delegation wurde hinter Mauern und Stacheldraht einquartiert und es zeichnete sich ab, dass die deutsche Industrie, allen voran die Großchemie, kräftig gerupft werden würde. Artikel 306 des Versailler Vertrages machte alle deutschen Hoffnungen tatsächlich zunichte. Die Patente seien nicht zurückzuerstatten und in Deutschland seien alle Fabriken zu schließen, die der "Herstellung, Vorbereitung, Lagerung oder zur Konstruktion von Waffen, Munition oder irgendwelchem Kriegsmaterial" gedient hätten. Franzosen und Engländer wollten alle Anlagen demontieren, die Giftgas oder auch nur Nitrate und Salpetersäure erzeugt hatten. Bosch wurde genötigt, binnen Wochen eine Gegenstellungnahme abzugeben, doch für ihn zeichnete sich bereits ab, dass eine weitere Verhandlung mit den französischen Militärs in Versailles nichts bringen würde. Deshalb begann er damit, an den französischen offiziellen Stellen vorbei zu verhandeln und das berühmte Hintertürchen zu verwenden. Über Vermittlung eines alten französischen Geschäftspartners traf er sich in Paris (unerlaubterweise) mit General Patard, dem Generalinspekteur im französischen Kriegsministerium, dem er ein lukratives Angebot für einen Separatfrieden machte. Patard (oder seine Berater) waren schlau genug zu wissen, dass die moralisch hochstehende Schließung der deutschen Werke der französischen Industrie nichts bringen würde. Denn nicht nur der US-Sprengstoffkonzern Du Pont hatte sich jahrelang mit beschlagnahmten deutschen Patenten ergebnislos herumgeplagt. Ohne praktische Ingenieurskenntnisse hatte man bei Du Pont nicht einmal zwischen den zielführenden Patenten und den hunderten so genannten Umgehungspatenten (die nur dazu in die Welt gesetzt worden waren, um Konkurrenten in die Irre zu führen) unterscheiden können. Ob man wollte oder nicht: Zum Aufbau einer französischen Großchemie brauchte man den guten Willen und den Einsatz der BASF-Betriebsingenieure vor Ort. Wie so häufig ging Geschäft vor Moral und man einigte sich zähneknirschend auf eine gemeinsame Ausbeutung des französischen Marktes und so kam es zur Weisung nach Versailles, Oppau und Leuna in Ruhe zu lassen.

Ende 1919 fuhr Bosch nach Paris, um mit Regierungsvertretern die Details des "französisch-deutschen Stickstoffabkommens" auszuhandeln. Am 11. November 1919, dem ersten Jahrestag des Waffenstillstandes, wurde der entsprechende Vertrag zwischen der Badischen Anilin- und Sodafabrik und der staatlichen Office National Industriel de l'Azote (ONIA) in Paris unterzeichnet. Auch mit der französischen Farbstoffindustrie wurden Kooperationsverträge abgeschlossen. Als Bosch im Jänner 1920 Paris wieder verließ, feierten manche den Vertrag sogar als Basis für eine neue Ära deutsch-französischer Verständigung. Der Vertrag überstand sogar die Turbulenzen und Pressalien der wenige Jahre später erfolgten Ruhrbesetzung sowie die schauderhafte Explosion eines Ammoniumnitrat-Lagers in Oppau am frühen Morgen des 21. Septembers 1921, bei der 561 Menschen ums Leben kamen. Als Auslöser der Detonation wurden kontrollierte Lockerungssprengungen im Silo ausgemacht, die das teilweise festgebackene Material transportfähig machen sollten.

Den Auftrag zum Bau der ersten Fabrik für die Ammoniaksynthese nach Haber-Bosch erhielt die ebenfalls 1919 von der "Société Air Liquide" und dem Glashersteller Saint-Gobain gegründete "Société Chimique de La Grand Paroisse". Als Standort wurde Toulouse ausgewählt, womit das dortige Chemiezentrum begründet wurde. Die Anlage, von BASF-Ingenieuren mit aufgebaut ging 1928 in Betrieb, zu einem Zeitpunkt, als die deutschen Chemiker des großen Kartells unter BASF-Führung, der I.G. Farben, die neuen französischen Kontakte bereits unter der Rubrik "gute Erfahrungen" verbuchten. In einem dortigen Düngemittellager ereignete sich im vergangenen Jahr - auf den Tag genau 80 Jahre nach der Oppauer Katastrophe - eine ähnliche Tragödie.

Zum Weiterlesen: Helmuth Tammen, Die I.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft (1925 bis 1933). Ein Chemiekonzern in der Weimarer Republik, Berlin 1978.

Freitag, 22. März 2002

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