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Gesetzlicher Mindestlohn? Lasst uns über Zahlen sprechen!

Das Thema "gesetzliche Mindestlöhne" ist und bleibt aktuell. Die Bandbreite der Diskussion reicht von "Einstellungshindernis" über die Befürchtung von "Einschnitten in die Tarifautonomie" bis hin zur erhofften "Beseitigung von Hungerlöhnen". Neben der politischen und juristischen Diskussion lassen jedoch viele Beiträge offen, welches Lohnniveau im Minimum angesetzt werden müsste, um zu einem sinnvollen Ergebnis zu kommen.

 

Dazu folgendes Beispiel: Ein gesetzlicher Bruttomindestlohn von 1.250,00 Euro monatlich (wie z.B. von ver.di gefordert) würde bei einer 38,5-Stunden-Woche einem Stundenlohn von 7,50 Euro entsprechen. Damit verbleibt ein Nettoeinkommen von ca. 928,00 Euro bei Steuerklasse 1, ohne Kinderfreibeträge und Kirchensteuer.

 

Wer nunmehr argumentieren will, 1.250,00 Euro Bruttomindestlohn seien viel zu hoch gegriffen und daher ein Einstellungshindernis, mag zur Kenntnis nehmen, dass mit einem Nettoeinkommen von 928,00 Euro Arbeitnehmer noch nicht einmal die Schwelle des pfändungsfreien Einkommens erreichen, d.h. den Betrag, der jedem Beschäftigten verbleiben muss, ohne dass Gläubiger auf sein Nettoeinkommen Zugriff haben dürfen. Denn dieser beträgt (ab 01.07.2005) 985,15 Euro monatlich.

 

Auch das häufig benutzte Argument des Verlustes wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit auf europäischer Ebene wegen steigender Lohnkosten kann nicht überzeugen, denn in 18 der 25 EU-Mitgliedstaaten gibt es bereits gesetzliche Mindestlöhne. So werden in

  • Frankreich 1.286,00 Euro Mindestlohn (bei 39 Stunden pro Woche)
  • Niederlande 1.265,00 Euro Mindestlohn (bei 37 Stunden pro Woche)
  • Großbritannien 1.083,00 Euro Mindestlohn (bei 39 Stunden pro Woche)
  • Irland 1.073,00 Euro Mindestlohn (bei 39 Stunden pro Woche)
  • Belgien 1.186,00 Euro Mindestlohn (bei 38 Stunden pro Woche)

gezahlt (Quelle: WSI Mitteilungen 10/2004).

 

Die Konkurrenzfähigkeit und wirtschaftliche Stabilität dieser Staaten wird offensichtlich nicht durch Mindestlöhne beeinträchtigt. Die Frage ist daher durchaus berechtigt, warum in Deutschland bei Zahlung eines Mindestlohnes von 1.250,00 Euro monatlich, der noch nicht einmal an der oberen Grenze im europäischen Vergleich liegen würde, die wirtschaftliche Stabilität gefährdet sein sollte.

 

Nicht übersehen werden darf im Übrigen, dass in Deutschland unter Vollzeitbeschäftigten bereits jetzt ein erschreckendes Maß an Niedriglohnbeziehern besteht: allein in Westdeutschland verdienen 12 Prozent dieser Personen weniger als 50 Prozent des Vollzeitdurchschnittslohnes und können deshalb trotz Vollzeit als "arm" gelten. Gleichzeitig verlieren immer mehr Beschäftigte den Mindestschutz von Tarifverträgen: nur noch 55 Prozent in Ostdeutschland und 70 Prozent in Westdeutschland der Beschäftigten sind überhaupt tarifgebunden.

 

Aber auch Tarifverträge sind keinesfalls Garanten für menschenwürdige Einkommen: tarifliche Billiglöhne liegen teilweise deutlich unter den Mindestlöhnen, die in der öffentlichen Debatte als erforderlich angesehen werden (vgl. Däubler, AiB 5/2005, 261). Sowohl im Osten als auch im Westen unserer Republik liegen Tariflöhne teilweise unterhalb der Armutsgrenze:

  • Mc Donald's (West) 6,64
  • Mc Donald's (Ost) 5,75
  • Dachdecker 6,42
  • Gartenbau (West) 5,62
  • Gartenbau (Ost) 4,95
  • Floristik (Ost) 4,3
  • Landwirtschaft 5,28
  • Friseurhandwerk (West) 4,91
  • Friseurhandwerk (Ost) 3,01

(alle Beträge in Euro).

 

Kein Zweifel: angesichts dieser Zahlen greift ein Mindestlohn in die Tarifautonomie ein. Aber rechtfertigt dies die Befürchtung insbesondere der IG Metall und IG Bergbau, Chemie, Energie (BCE), dass ein gesetzlicher Mindestlohn bei gegebenen politischen Verhältnissen das niedrigste Niveau festschriebe und damit legitimiere? Diese Argumente sind wenig überzeugend angesichts der Tatsache, dass gesetzliche Mindestbedingungen für Inhaltsnormen von Arbeitsverträgen seit Jahrzehnten bestehen und die Gewerkschaften noch nie gehindert haben, bessere Inhaltsnormen in Tarifverträgen zu vereinbaren: kaum ein Tarifvertrag begnügt sich mit dem gesetzlichen Urlaubsanspruch von 24 Werktagen, in der Regel gehen Tarifverträge deutlich darüber hinaus. Entsprechendes gilt für Kündigungsfristen, Entgeltfortzahlung, Wochenarbeitszeit und Zuschläge für Mehrarbeit.

 

Immer haben es die Gewerkschaften verstanden, gesetzliche Mindestbedingungen für Arbeitsverträge durch Tarifverträge zu verbessern. Ausgerechnet für Mindestlöhne soll das jetzt nicht mehr gelten? Oder begegnen wir einer maskulin bedingten Blickverengung der traditionell männerdominierten großen Gewerkschaften IG Metall und IG BCE, wie Detlef Hensche (Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2004, 1166) meint? Die eigentlichen Opfer der Niedriglohnentwicklung sind nämlich ganz überwiegend Frauen (rund 2/3), und es ist wohl kein Zufall, dass vor allem die Gewerkschaften NGG und ver.di seit langem für Mindestlöhne eintreten.


Wer Hungerlöhne und die weitere Ausdehnung des Niedriglohnsektors bekämpfen will, kann sich weder politisch noch gewerkschaftspolitisch gegen Mindestlöhne wenden. Wer dies angesichts der genannten Zahlen trotzdem tut, läuft Gefahr, nur noch als "Standesverband der männlichen Facharbeiterschaft" (Hensche a.a.O.) angesehen zu werden und den Kontakt zu den Menschen "da unten" zu verlieren.



Kontaktdaten des Autors:

Stefan Bell, Fachanwalt für Arbeitsrecht

Bell & Windirsch Anwaltsbüro

Marktstraße 16

40213 Düsseldorf

www.fachanwaeltInnen.de


(ts) - 09.11.2005 © www.arbeitsrecht.de

 


     

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