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| Arbeitsgemeinschaft der
Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften |
AWMF-Leitlinien-Register | Nr. 076/005 | Entwicklungsstufe: | 2 |
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Zusammenfassung
Im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) werden unter der Federführung der DG-Sucht e.V. und der DGPPN e.V. zur Zeit Leitlinien zur Behandlung substanzbezogener Störungen erarbeitet. Als übergeordnetes Ziel der Leitlinien wurde die Beschreibung des aktuellen Standes der wissenschaftlich begründeten und "evidenz"-basierten Medizin in der Suchttherapie definiert, um daraus Behandlungsempfehlungen abzuleiten. Auf dieser Grundlage wird hier die Leitlinie zur Behandlung Cannabis-bezogener Störungen vorgestellt.
Die Notwendigkeit, eine Leitlinie zur Diagnostik- und Behandlung cannabis-bezogener Störungen zu entwickeln, ergibt sich daraus, dass Cannabis weltweit, so auch in Deutschland, die am häufigsten konsumierte illegale Droge [1,2] ist und sich im Gegensatz zur bisherigen Einschätzung immer deutlicher abzeichnet, dass nicht nur eine
"Evidenz"stärke Ia (E:Ia): | Vorliegen 1 Meta-Analyse oder von mindestens 2 kontrollierten, randomisierten Studien |
"Evidenz"stärke Ib (E:Ib): | Vorliegen von mindestens 1 kontrollierten, randomisierten Studie |
"Evidenz"stärke IIa (E:IIa): | Vorliegen mindestens 1 gut angelegten, kontrollierten Studie (Fallkontroll- oder Kohortenstudie) |
"Evidenz"stärke IIb (E:IIb): | Vorliegen mindestens 1 Therapieverlaufsstudie, quasi experimentell und gut angelegt |
"Evidenz"stärke III (E:III): | Vorliegen mindestens 1 gut angelegten, deskriptiven Studie (Vergleichsstudie, Korrelationsstudie) |
"Evidenz"stärke IV (E:IV): | Vorliegen eines Review-Artikels ohne quantitative Datenanalyse, Expertenmeinung. |
Empfehlungen wurden in Anlehnung an die American Psychiatric Association [37] und des Scottish Intercollegiate Guidelines Network [38] nach 3 Empfehlungsklassen vorgenommen:
[A] | Empfehlung empirisch gut fundiert (mindestens 1 Metaanalyse oder 1 systemisches Review oder 1 randomisierte, kontrollierte Studie) |
[B] | Empfehlung allgemein begründet (mit Studien der "Evidenz"stärke IIa, IIb, III) |
[C] | Empfehlungen im Einzelfall klinisch belegt (Studien der "Evidenz"stärke IV). |
Die vorliegende Leitlinie ist eines von insgesamt 10 auf einzelne Suchtmittel oder Substanzgruppen bezogene Kapitel. Für jedes Kapitel ist eine definierte Arbeitsgruppe verantwortlich. Die Mitglieder der Arbeitsgruppen waren von den oben erwähnten Fachgesellschaften delegiert und authorisiert. Diese Leitlinie befindet sich in einem evolutiven Prozess und wurde bisher auf 5 übergeordneten Leitlinienkonferenzen (Leitung: Prof. Dr. med. L.G. Schmidt und Prof. Dr. med. M. Gastpar) kritisch kommentiert. Nach jeder Konferenz folgten neben zahlreichen Telefonaten und Emails mindestens 2 persönliche Treffen der Arbeitsgruppe, um diese kritischen Kommentare aufzuarbeiten und die Leitlinie den Erfordernissen der klinischen Praxis zunehmend anzupassen. Die Literatur-Recherche wurde mit Hilfe folgender Datenbanken durchgeführt: Pubmed, Medline, NIDA (Suchbegriffe: addiction, abuse, dependence, cannabis, cannabinoide und deutschsprachige Äqivalente). Da für cannabis-bezogene Störungen vergleichsweise wenig wissenschaftlich begründete Literatur zur Diagnostik und Behandlung vorliegt, werden an einigen praxis-relevanten Stellen Empfehlungen ausgesprochen, die sich nicht auf zugrundeliegende Literatur sondern nur auf Expertenmeinungen beziehen können. Deshalb kann die vorliegende Leitlinie nicht den Anspruch haben, vollständig "evidenz"-basiert zu sein. Sie ist überwiegend "evidenz"-basiert und entsprechend eine Leitlinie der Stufe 2 [39]. Die Autoren hoffen, mit dieser Publikation auch die Experten zu erreichen, deren Meinung bisher nicht eingeholt werden konnte.
Besonders wichtig ist, in der psychiatrischen Anamnese auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Auftreten erster psychischer Symptome und dem Beginn des Cannabiskonsums zu achten [C].
Es wird geschätzt, dass sich bei mehr als 70% der Cannabisabhängigen eine andere komorbide psychische Störung (vgl. 3.4.10.) finden lässt [7,40-43].
In der speziellen Suchtanamnese (u.a. Informationen über Einstiegsalter, Konsumdauer, Intensität/Dosierung, Frequenz, wenn möglich Zusammensetzung der konsumierten Substanz) finden sich in der Regel Hinweise auf vermehrten Konsum anderer legaler oder illegaler Drogen (vgl. 3.4.10).
Die Wichtigkeit der differenzierten Sozialanamese (u.a. Informationen über soziales Netzwerk, Familie, Geschwister, peer-group, Schulbildung, Ausbildung, frühe Verhaltensauffälligkeiten, Freizeitverhalten, Werte und Normen) wird auf Grund des häufig jugendlichen Alters der Cannabiskonsumenten unterstrichen [C].
3.4.1. Intoxikation (F12.0, F12.03, F12.04)
Illegale Cannabisprodukte werden in aller Regel in selbstgedrehten Zigaretten (Joints) oder Pfeifen (Purpfeife, Wasserpfeife, etc.) geraucht. Eine extreme, mittlerweile besonders unter Jugendlichen weitverbreitete Inhalationsform stellt das sog `Eimerrauchen´ dar ("Der Eimer ist die Antwort darauf, dass man Haschisch nicht spritzen kann" [52]). Formen oraler Applikation (Gebäck, Tee, etc.) sind weniger weit verbreitet. Wird Cannabis geraucht, so tritt der Cannabisrausch innerhalb von wenigen Minuten auf, nach oraler Gabe oft bis zu fünf Stunden verzögert [53,54].
Die Rauschwirkung ist abhängig von der Dosis, der Frequenz, der Applikationsform, der persönlichen Disposition des Konsumenten und dem situativen Kontext. Wird z.B. in angstgefärbtem Kontext Cannabis konsumiert, ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Panikattacken im Rausch erhöht. Folgende Hauptwirkungen der Cannabisintoxikation werden beschrieben [55,56]:
Der Cannabisrausch soll in der Regel nach etwa 3-5 Stunden abgeklungen sein.
Kognitive Beeinträchtigungen wie Konzentrationsstörungen und Störungen des Kurzzeitgedächtnisses können jedoch noch 48 Stunden nach der Intoxikation nachweisbar sein (vgl. 3.4.9.).
Bei der Intoxikation mit hohen Cannabisdosen kann es zu akut psychotischen Reaktionen (F 12.04) sowie deliranten Zuständen (F 12.03) kommen, die auch mehrere Tage anhalten können (F12.50, vgl. 3.4.5 u. 3.4.6).
3.4.2. Schädlicher Gebrauch (F12.1)
Nach ICD-10 liegt ein schädlicher Substanzgebrauch vor, wenn der Substanzkonsum zu einer nachgewiesenen Schädigung der psychischen oder physischen Gesundheit des Konsumenten geführt hat und trotzdem noch weiter konsumiert wird. Nach ICD-10 gibt es keine epidemiologischen Daten zum schädlichen Gebrauch. Nach DSM-IV, das die soziale Dimension miterfasst, liegt die Lebenszeitprävalenz unter Cannabiskonsumenten in Deutschland bei 15% [7].
Das Konsummuster bei schädlichem Gebrauch unterscheidet sich häufig von dem bisher nicht beeinträchtigter Konsumenten. Personen mit einem schädlichen Gebrauch von Cannabis konsumieren in aller Regel häufiger, regelmäßiger und in höheren Dosen als Gelegenheitskonsumenten [57].
3.4.3. Substanzabhängigkeit (F 12.25)
Epidemiologischen Studien in Deutschland zufolge kann davon ausgegangen werden, dass etwa 4-7% aller aktuellen Cannabiskonsumenten eine nach DSM-IV diagnostizierte Substanzabhängigkeit aufweisen [7,9]. Ein anhaltender (fast) täglicher Konsum von Cannabis dürfte hierfür eine notwendige jedoch keine hinreichende Bedingung sein [58,59]. In australischen und amerikanischen Studien werden unter den Cannabiskonsumenten 15-22% gefunden, die Abhängigkeitskriterien nach ICD-10 oder DSM-IV erfüllen [40,42,43]. Eine australische Untersuchung fand bei Cannabisabhängigen folgende Verteilung der Kriterien [43]:
Wenn innerhalb eines Jahres drei oder mehr dieser Kriterien gleichzeitig erfüllt sind, gilt ein Konsument nach ICD-10 oder DSM-IV als abhängig.
Darüber hinaus sind zur Erfassung und Klassifikation der Cannabisabhängigkeit insbesondere in den 90er Jahren eine Reihe von Forschungsarbeiten unternommen worden [57-63]. Nach den Ergebnissen einiger Arbeiten sind die etablierten Klassifikationssysteme (DSM-IV, ICD-10) gut in der Lage, das Phänomen der Cannabisabhängigkeit zu erfassen [58,59,61], wenngleich empirisch begründete Zweifel an der Konstruktvalidität der Cannabisabhängigkeit in diesen Systemen formuliert werden [62,63].
Männer sollen ein höheres genetisches Risiko zur Ausbildung einer Cannabisabhängigkeit besitzen als Frauen [64].
3.4.4. Entzugssyndrom (F 12.30)
Obgleich das Vorliegen einer klinisch relevanten Entzugssymptomatik im Zusammenhang mit dem Konsum von Cannabis lange umstritten war [65,66] liefern neuere Forschungsarbeiten Erkenntnisse über das Entzugsphänomen des Cannabiskonsums [53,54,60,67-72]. Demnach können nach anhaltend regelmäßigem Konsum von Cannabis ca.10 Stunden nach dem letzten Konsum folgende Symptome für einen Zeitraum von etwa 7-21 Tagen auftreten:
In der Regel sind diese Symptome nicht sehr schwer ausgeprägt [67,71,72].
3.4.5. Transiente psychotische Episoden (Intoxikationspsychose) (F12.04)
Unter akuter stärkerer Substanzeinwirkung kommt es nicht selten zu kurz dauernden psychotischen Symptomen, die in der Regel nicht das Ausmaß einer klinisch relevanten psychotischen Störung erreichen [71]. Nach ICD-10 werden hier psychotische Symptome eingeordnet, die nicht länger als 48 Stunden andauern sollten. Dosisabhängig kann es zu ausgeprägteren akuten psychotischen Reaktionen kommen, die in ihrer Ausprägung jedoch keine eigene Krankheitsentität begründen und klinisch erheblich variieren können. Hinsichtlich der klinischen Symptomatik zeigt sich ein breites Spektrum klinischer Bilder, dass auch hypomane Akzentuierungen und Zustandsbilder umfassen kann [55,73].
Eine neuere prospektive epidemiologische Erhebung aus Australien konnte zeigen, dass psychotische Symptome bei chronischen Cannabiskonsumenten bei etwa 1,2 % der untersuchten Personen zum Zeitpunkt der Stichprobe zu erheben waren. Bei Cannabiskonsumenten, die gleichzeitig vermehrt Alkohol konsumierten lag diese Rate noch höher [74].
Diese Untersuchungen weisen darauf hin, dass von einem Kontinuum psychotischer Merkmalsausprägungen auszugehen ist, das von sehr kurzfristigen psychotischen Symptomen im Rahmen der akuten Intoxikation über etwas länger anhaltende transiente psychotische Phänomene bis zu den unter 3.4.6 besprochenen länger anhaltenden psychotischen Episoden nach akutem oder chronischen Cannabiskonsum reicht.
3.4.6. Länger anhaltende assoziierte psychotische Episoden (Cannabis-Psychose) (F12.50)
Nach akutem, hochdosiertem sowie nach chronischem höherdosiertem Cannabiskonsum sind länger anhaltende psychotische Episoden mit meist schizophreniformer Symptomatik beschrieben. Die Symptomatik dauert dabei länger als 48 Stunden und tritt unmittelbar während oder innerhalb von zwei Wochen nach dem Cannabisgebrauch auf [73].
Die Symptombildung solcher Psychosen ist in der Literatur weitgehend inhomogen beschrieben, so dass eine Abgrenzung zu schizophreniformen oder schizophrenen Psychosen aufgrund der Symptomatik nach derzeitigem Kenntnisstand nicht möglich ist [73]. Ähnlich den schizophreniformen Psychosen können affektive Symptome auch bei Cannabis-assoziierten, länger anhaltenden psychotischen Störungen eine wichtige Rolle spielen und bei der Behandlung besondere Berücksichtigung finden [75].
Im Sinne des heute allgemein akzeptierten Vulnerabilitäts-Stress-Modells schizophrener Psychosen muss davon ausgegangen werden, dass akuter oder - wesentlich häufiger und wahrscheinlicher - chronischer Cannabis-Konsum bei vulnerablen Personen im Sinne eines Stressors zu verstehen ist, der eine länger anhaltende Cannabis-assoziierte psychotische Episode mit bedingen kann (vgl. 3.4.10). Diagnostisch ist bei diesen Störungen eine differenzierte zeitliche Erfassung des Substanzkonsums im Verhältnis zu prodromalen Symptomen einer schizophrenen Psychose und der aktuelle Nachweis von -9-THC und Metaboliten (vgl. 3.3.) relevant [C]. Auch die Zusammensetzung der konsumierten Cannabis-Präparationen, die sich zumindest näherungsweise aus einer Beschreibung von Herkunft und Anbaubedingungen ermitteln lässt, sowie Dosierung dieser Präparationen und Zeitdauer des Konsums können einen Hinweis auf die Intensität des Stressors geben [73].
3.4.7. Flashbacks (F12.70)
In Einzelfällen sind Nachhallpsychosen (sog. Flashbacks) bei Cannabiskonsumenten beschrieben, die Wochen, ggf. auch längere Zeit nach dem letzten Konsum auftreten würden [76-78]. Als Auslöser werden besondere psychologische Faktoren wie emotionaler Stress, Erinnerungen oder Schlüsselreize diskutiert. Aufgrund der kritischen Operationalisierung des Terminus ist eine sichere Aussage zur Prävalenz von Flashback-Phänomenen nach Cannabisgebrauch nicht möglich.
3.4.8. Amotivationales Syndrom (F12.72)
Es gibt bis heute keinen schlüssigen Nachweis, dass dieses Syndrom, das mit Lethargie, Passivität, verflachtem Affekt und mangelndem Interesse assoziiert ist, spezifisch für Cannabis ist. Möglicherweise werden mit diesem `Syndrom´ chronische Intoxikationszustände beschrieben [55]. Auch ist es vorstellbar, dass Defektzustände von Schizophrenen, Subsyndrome depressiver Erkrankungen oder Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, die gleichzeitig Cannabis konsumieren, mit diesem Syndrom beschrieben wurden. Hierauf weisen die Überschneidungen der beschriebenen Symptomatik mit dem Symptomkomplex der Negativsymptomatik schizophrener Störungen oder anhedoner Symptome depressiver Störungen [75,79] hin.
3.4.9. Kognitive Störungen (F12.74)
Akuter Cannabiskonsum beeinträchtigt kognitive Funktionen (insbesondere Gedächtnis, Konzentration und Aufmerksamkeit). Das Maximum der Funktionsbeeinträchtigung korreliert mit dem Maximum der Blutkonzentration von -9-THC (ca. 40 Minuten nach dem Rauchen von Cannabis). Die Funktionseinschränkung ist intra- wie interindividuell hochvariabel [80]. Abhängig von Konsummenge und -dauer sind Konzentrationsstörungen und Störungen des Kurzzeitgedächtnisses noch 48 Stunden nach dem letzten Cannabiskonsum nachweisbar [80]. In einer kontrollierten Laborstudie konnte der Konsum einer Cannabiszigarrette (Joint) in den ersten Stunden eher explizite als impilizite Gedächtnisanteile stören, wobei 24 Stunden später keine Störung dieser Gedächtnisanteile und des Arbeitsgedächtnisses mehr gefunden wurde [81]. Komplexe Leistungstests fanden sich leicht verschlechtert [82]. Am Flugsimulator waren die Leistungen noch 24 Stunden nach dem Rauchen von Cannabis signifikant verschlechtert [83,84].
Bei chronischen Konsumenten (z.B. mehr als 5000maliger Konsum, Dauer des fast täglichen Konsums länger als 10 Jahre) finden sich in der Literatur Hinweise für eingeschränkte kognitive Funktionen (Gedächtnis, Konzentration und Aufmerksamkeit) in den ersten ca. 3 Wochen der Abstinenz [85-89]. Inwieweit diese Störungen persistieren und ob sie mit der Häufigkeit bzw. der Dauer des Cannabiskonsums korrelieren ist bisher unklar [85-89].
3.4.10. Psychische Komorbidität von Cannabiskonsumenten
Einer großen bevölkerungsrepräsentativen Untersuchung aus den USA zufolge finden sich komorbide psychische Störungen bei der Mehrzahl der Cannabisabhängigen [57]. Auch andere Arbeiten zeigen, dass die Komorbidität von Cannabisabhängigen als hoch einzuschätzen ist (ca. 70%). Die Mehrzahl aller Cannabisabhängigen soll an Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen leiden. Auch werden häufig Angsterkrankungen, Depressionen und seltener schizophrene Psychosen gefunden [7,40-43,90,91]. In einer Berliner Fallanalyse konnte illustriert werden, wie der Konsum von Cannabis zur Bewältigung unterschiedlicher komorbider Störungsbilder eingesetzt wird [92,93]. Allerdings sind auch andere Kausalbeziehungen möglich [94]. Die psychiatrische Komorbidität scheint mit dem
korreliert [41,95-97] zu sein.
Persönlichkeitsstörungen (F60.X, F 61.X) und ADHS (F 90.X)
Nach klinischen Beobachtungen scheinen Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen Cannabis zur besseren Affekt- und Impulsregulierung einzusetzen [40,41,55,98,99]. Ähnliches scheint für Patienten zu gelten, die an einem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) leiden [90,100]. Verhaltensstörungen sind bei cannabisabhängigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen beinahe immer nachweisbar [60]. In Persönlichkeitsfragebögen, die gezielt schizotype Merkmale erfassen, erreichen Cannabiskonsumenten im Vergleich zu Nichtkonsumenten signifikant höhere Werte [101].
Schizophrenie (F20.x; F23.1)
Es ist lange bekannt, dass die Prävalenz von Cannabiskonsum bei Schizophrenen etwa 5 mal höher als in der alterskontrollierten Normalpopulation ist [55,78] und das Risiko, eine Schizophrenie zu entwickeln bis zu 6 mal höher ist, wenn vermehrt Cannabis konsumiert wurde [102,103]. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und der Erkrankung einer Schizophrenie wird weiterhin kontrovers diskutiert [102-105]. Gegenwärtig wird davon ausgegangen, dass höherfrequenter und/oder höher dosierter Cannabiskonsum als Stressor im Sinne des Vulnerabilitäts-Stress-Konzeptes der Schizophrenie einzuschätzen ist [103,105,106-108] und damit das Profil eines Risikofaktors besitzt. Eine kürzlich publizierte neuseeländische Longitudinalstudie (Geburt bis 21 LJ) beschreibt bei Cannabisabhängigen auch nach Anpassung konfundierender Faktoren ein signifikant vermehrtes Auftreten von psychotischen Symptomen [109].
Vergleichsweise unstrittig dagegen ist, dass Cannabiskonsum den Verlauf einer schizophrenen Psychose ungünstig beeinflusst [110,111]. In jüngster Zeit gibt es Hinweise, dass Cannabiskonsum schizophrene Psychosen differenziert beeinflusst. So soll die produktive Symptomatik verschlechtert, die negative Symptomatik aber verbessert werden [112-115]. Eine aktuelle Literatur-Übersicht findet sich bei [116].
Akute psychotische Exazerbationen bei schizophrenen Psychosen können im Zusammenhang mit akutem Cannabiskonsum beobachtet werden [110].
Affektive Störungen und Angsterkrankungen (F 3X.X, F 40.X, F 41.X)
Häufig entwickeln sich v.a. bei unerfahrenen Cannabiskonsumenten Panikattacken im Rausch. Sonst dominieren im Rausch im allgemeinen subeuphorische, oft hypoman gefärbte Stimmungsbilder [55,56].
Viele Untersuchungen weisen darauf hin, dass regelmäßiger Cannabiskonsum überzufällig häufig mit depressiven Symptomen und Angsterkrankungen assoziiert ist [75,79,90,97,117-122]. Jedoch gibt es auch Untersuchungen, die eine solche Assoziation nicht bestätigen konnten [74]. In Einzelfällen wurden sowohl Verbesserungen als auch Verschlechterungen von Depressionen und Angsterkrankungen beschrieben [119,123,124]. Möglicherweise existiert ein positiver Zusammenhang zwischen der Dauer von Manien und der Dauer des Cannabiskonsums [125]. Longitudinalstudien über den Einfluß von Cannabis auf den Verlauf von uni- oder bipolaren affektiven Störungen oder Angsterkrankungen existieren jedoch bisher nicht.
Konsum anderer Substanzen (F1x.x)
Epidemiologischen Forschungsarbeiten zufolge betreibt die überwiegende Mehrheit aller Cannabiskonsumenten zwar einen gleichzeitigen Nikotinkonsum aber keinen Konsum anderer illegaler Substanzen [2,4]. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass Cannabiskonsumenten in spezifischen Jugendszenen eine vergleichsweise hohe Pävalenz des Konsums von Alkohol, Ecstasy und anderen "Partydrogen" aufweisen [126-128] und dass die Prävalenz des Konsums anderer illegaler Drogen mit der Frequenz des Cannabiskonsums steigt [129]. In einer neuseeländischen Longitudinalstudie (Geburt bis 21 LJ) wurde gefunden, dass die Mehrzahl der Cannabiskonsumenten (63%) keine anderen illegalen Drogen konsumiert und 99% aller Konsumenten illegaler Drogen auch Cannabis konsumiert haben. Dabei war hochfrequenter Cannabiskonsum mit dem Konsum anderer illegaler Drogen assoziiert [109].
In der Diskussion um die gesundheitlichen Risiken des Cannabiskonsums wird immer wieder die `Schrittmacherfunktion´ von Cannabis für den Beginn einer Drogenkarriere bzw. für den Konsum (immer) `härterer´ Drogen ins Feld geführt, z.B. [130]. Diese Vermutung lässt sich allerdings bis heute nicht beweisen, da bisher auch in den längeren Longitudinalstudien der Einfluss von Kontext- und biologischen Variablen nicht sicher ausgeschlossen werden konnte [131]. Opiatabhängige haben tatsächlich in aller Regel in einer frühen Phase ihrer Drogenabhängigkeit (auch) Cannabis konsumiert. Daraus ist jedoch nicht abzuleiten, dass Cannabis zum Konsum `härterer´ Drogen führt. Was hier - für das Kollektiv der Opiatabhängigen - retrospektiv richtig ist, hat für Cannabiskonsumenten prospektiv jedoch keine Gültigkeit [132]. Bis heute gibt es keine schlüssigen Hinweise, dass Cannabis eine größere Bedeutung als Alkohol, Tabak oder Koffein für die Bahnung der Abhängigkeit von sog. `härteren Drogen´ zu haben scheint [55,132]. Gleichzeitiger Cannabiskonsum scheint die Abstinenzraten von Kokain und Heroin in Opioid-Substitutionsprogrammen nicht negativ zu beeinflussen - jedoch fand sich eine leichte Häufung psychosozialer Probleme [133,134].
3.4.11. Somatische Komorbidität von Cannabiskonsumenten
Im Rausch finden sich häufig eine Tachykardie sowie Blutdruckschwankungen, die jedoch hämodynamisch wenig relevant sind [135].
Relevanter sind bei chronisch inhalierenden Konsumenten:
Bei schwangeren Cannabiskonsumentinnen sind bisher keine fetalen oder embryonalen Mißbildungen beschrieben worden [136,137]. Die Nachkommen cannabiskonsumierender Mütter zeigten Hinweise auf subtile zerebrale Entwicklungsstörungen. Die Mütter hatten jedoch während der Schwangerschaft neben Cannabis auch häufig Alkohol und Tabak konsumiert [137].
Todesfälle durch reine Cannabisintoxikationen sind bis heute nicht bekannt [55].
3.4.12. Soziale Folgeschäden
Gelegentlicher Cannabiskonsum zieht in aller Regel keine negativen sozialen Konsequenzen nach sich. Zu den sozialen Folgeschäden der Cannabisabhängigkeit liegen nur wenige empirisch fundierte Erkenntnisse vor. So zeigen einige Longitudinal-Studien, dass ein anhaltend hohes Konsumniveau von Cannabis ein signifikanter Prädiktor für schulische und spätere berufliche, finanzielle und familiäre Probleme ist [134,138-141]. Die Schwere der sozialen Folgeschäden scheint v.a. von der Schwere der psychischen Komorbidität (vgl. 3.4.10) abzuhängen [41,42,90], die wiederum mit dem Einstiegsalter und der Stärke des Cannabiskonsums sowie der Schwere der Abhängigkeit assoziiert ist [41,95-97].
PD Dr. med. M. Banger (Bonn)
PD Dr. med. A. Batra (Tübingen)
Prof. Dr. med. M. Gastpar (Essen)
Prof. Dr. med. A. Heinz (Berlin)
Dr. med. Th. Kuhlmann (Bergisch-Gladbach)
Dr. med. G. Reymann (Dortmund)
PD Dr. med. Scherbaum (Essen)
Prof. Dr. med. L. G. Schmidt (Mainz)
Prof. Dr. med. M. Soyka (München)
Dr. med. A. M. Stadelmann (Berlin)
Dr. med. M. Struppe (Bielefeld)
M. Stuhlinger (Tübingen)
Therapieladen e.V. (Berlin)
Prof. Dr. med. R. Thomasius (Hamburg)
Den o.g. Kolleginnen und Kollegen sowie dem Therapieladen danken wir für wertvolle Anregungen und konstruktive Kritik.
Die finanzielle Absicherung des Leitlinienprozesses wird getragen durch Zuwendungen und Zusagen der DG-Sucht, DGPPN und Prof. Dr. Mathias-Gottschalk-Stiftung für Reise- und Druckkosten sowie durch Reisekosten-Unterstützung der Arbeitgeber der Beteiligten. Am 20.09.2001 wurde die erste Gesamtgliederung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Frau Marion Caspers-Merk, durch Herrn Prof. Dr. med. L.G. Schmidt überbracht und erläutert.
U. Bonnet
Rheinische Kliniken Essen
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
(Direktor: Prof. Dr. med. M. Gastpar)
Universität Duisburg-Essen
Virchowstr. 174
D-45147 Essen
K. Harries-Heder
Therapiehilfe e.V. Hamburg
Hasselbrookstr. 94a
D-22089 Hamburg
F. M. Leweke
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
(Direktor: Prof. Dr. med. J. Klosterkötter)
Universität zu Köln
Joseph-Stelzmann-Str. 9
D-50931 Köln
U. Schneider
Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie
(Direktor: Prof. Dr. med. H.-M. Emrich)
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
D-30625 Hannover
P. Tossmann
delphi-Gesellschaft für Forschung
Beratung und Projektentwicklung mbH
Rathenower Str. 38
D-10559 Berlin
Korrespondenzadresse:
Priv.-Doz. Dr. med. Udo Bonnet
Rheinische Kliniken Essen
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Duisburg-Essen
Virchowstr. 174, D-45147 Essen
udo.bonnet@uni-essen.de
* Weiterhin beteiligte Fachgesellschaften und Organisationen sind:
Allgemeinärztliche Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP)
Berufsverband Deutscher Psychiater e.V. (BVDP)
Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN)
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA)
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)
Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM)
Deutsche Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin (DGPM)
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (DGKJPP)
Deutsche Suchtmedizinische Gesellschaft
Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswesen e.V. (DGRW)
Deutsche Gesellschaft für Pneumologie
Deutsche Gesellschaft für Suchtpsychologie
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe e.V. (DG-SAS).