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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

New Yorks Abfallberge wachsen und wachsen · und mit ihnen die Anzahl der Asthmatiker

Die Stadt, der Müll und die Mafia

Von Thomas Schuler

Wer mit anderer Leute Dreck reich werden will, braucht gute Nerven. Das erfuhr ein Manager von Browning-Ferris Industries, einer der größten
Mülltransportfirmen Amerikas, als er 1992 in New York City günstige Geschäfte witterte. Kaum hatte er dorthin zu expandieren begonnen, fand er eines Tages einen ziemlich deutlichen Hinweis, daß
andere über seinen Entschluß nicht besonders glücklich waren: Vor seiner Haustür lag der abgehackte Kopf eines Schäferhundes. „Willkommen in New York", stand auf einem Zettel, der ins Maul des
Tierkadavers gestopft war. Die Botschaft: Wenn du dich in unseren Markt drängst, reißen wir dir den Kopf ab. Ein Absender stand nicht auf dem Zettel. Aber bald nachdem Robert Morgenthau, der oberste
New Yorker Staatsanwalt, intensive Ermittlungen über die seltsamen Praktiken der Mülltransporteure anstellen ließ, wurde deutlich, daß die Mafia nicht nur den Fulton-Fischmarkt in Manhattan
kontrolliert und den Obst- und Gemüsegroßmarkt in Hunts Point in der Bronx (den größten an der gesamten Ostküste Nordamerikas). Die Mafia hatte längst anderer Leute Dreck als lukratives Geschäft
entdeckt.

Clans und Claims

Damals also, 1992, waren sämtliche Müllabfuhrfirmen in vier lokalen Verbänden organisiert, die wiederum das gesamte Geschäft kontrollierten. Die beiden New Yorker Mafia-Clans, die Genovese- und
die Gambino-Familie, hatten bereits Jahre davor die Routen der Müllabfuhr wie Goldsucher ihre Claims abgesteckt. Die Clans schraubten die Preise künstlich in die Höhe und stellten durch Drohungen
zugleich sicher, daß sie kein Konkurrent zu unterbieten wagt. Als Brown-Ferris in keinen der Verbände eintrat und die Gebote für Aufträge nicht mit der Konkurrenz abstimmte, wurden Mitarbeiter massiv
bedroht. Sie hatten gegen die Regeln der Mafia verstoßen und galten deshalb als Outlaws, die eingeschüchtert, bedroht und zusammengeschlagen werden mußten.

Im Rahmen einer dreijährigen Undercover-Aktion ermittelte die Staatsanwaltschaft ab 1992 gegen 23 Müllabfuhrfirmen und erhob 1995 schließlich gegen 17 Personen Anklage wegen Behinderung der
Konkurrenz, Körperverletzung, versuchten Mordes und Brandstiftung. Neun bekannten sich schuldig, gegen die restlichen acht wurden Gerichtsverfahren eröffnet. Dabei stellte sich auch heraus, daß der
Mob auch höchst fahrlässig mit Umweltvorschriften umgegangen war. Um die Gewinnspannen zu erhöhen, wurden extrem giftige Stoffe des Sondermülls mit regulärer Ware vermischt und nur unzureichend
geschützt deponiert. Um zu verhindern, daß sich die Mafia künftig wieder einmischt, wurde eine Kommission ins Leben gerufen, der 35 Polizisten und einige Undercover-Agenten zuarbeiten und die
Geschäftspraktiken kommerzieller Anbieter prüfen, ehe sie sie lizenzieren. Offiziell steht damit alles zum Besten. Wenngleich manche Experten hinter vorgehaltener Hand behaupten, auch einige der
neuen Betreiber stünden der Mafia nahe, so gilt Bürgermeister Rudolph Giuliani doch als der starke Mann, in dessen Amtszeit hart und konsequent gegen die Mafia vorgegangen wurde. Doch gegen die
Müllprobleme, die New York derzeit plagen und die es für die Zukunft zu lösen gilt, war die Mafia nur ein Kinderspiel. Nicht gelöst hat Saubermann Giuliani die zentrale Frage: Wohin mit dem ganzen
Dreck?

Jeden Tag werden allein 13.000 t Müll aus privaten Haushalten zu rund 100 Verladestationen gebracht und dort auf riesige Müllfähren gehievt, die dann nach Staten Island tuckern. Als
„barges of death" · Todesschlepper · beschimpfen Anwohner der Verladestationen die riesigen Müllkähne. Die ganze Nacht kreisen die Schlepper leise und scheinbar unaufhaltsam rund um die Stadt
und erinnern den Betrachter unentwegt daran, daß New York City eine Welthauptstadt des Konsums ist. Die 3,5 Mill. t Müll, die jährlich nach Fresh Kills geliefert werden, entsprechen etwa 76
Schiffen von der Größe der Titanic.

New York ist die Stadt, die unentwegt wegwirft, und Fresh Kills ist der Ort, der niemals schläft. 600 Mitarbeiter halten die Halde auf Staten Island rund um die Uhr in Betrieb, sechs Tage die Woche.
Der Müll türmt sich so hoch, daß die Halde im Volksmund der Mount Everest des Mülls oder kurz „Mount Garbage" (Müllberg) genannt wird. Er ist ein gigantisches Symbol genzenloser Freiheit des
Konsums, der an manchen Stellen sogar die Freiheitsstatue überragt. Fresh Kills und die Chinesische Mauer sind die einzigen von Menschenhand errichteten Monumente, die Astronauten vom Weltall aus
sehen können.

Mount Everest des Mülls

Dabei galt Fresh Kills seit der Inbetriebnahme 1948 offiziell immer nur als „vorübergehende Lösung", und tatsächlich war in den ersten Jahren nur eine von 90 Müllhalden und Verbrennungsanlagen in
der Stadt gelegen. Noch bevor Stadtplaner Robert Moses die Halde eröffnete, versprach der damalige Bürgermeister William O'Dwyer, Fresh Kills werde binnen zwei Jahren geschlossen. Immer wieder hieß
es, die Halde werde bald dicht gemacht, und immer wieder war ausgerechnet Fresh Kills diejenige, die nicht geschlossen wurde. Irgendwann waren alle dicht · außer Fresh Kills. Bis heute operiert die
Stadt die Müllanlage ohne offizielle Erlaubnis von staatlicher Seite, und die Betreiberin verstößt regelmäßig gegen ihre eigenen gesetzlichen Verordnungen gegen Luftverschmutzung. Zudem türmt sich
der Abfall mittlerweile so hoch, daß die Erde einzusacken droht. Austritt giftiger Gase und Stoffe hätten eine Umweltkatastrophe zur Folge.

Als umweltgefährdend erwies sich bereits das ordnungsgemäße Entladen der Schlepper: Immer wieder fiel dabei Müll ins Wasser, den die Flut an die Strände nahe Woodbridge in New Jersey
schwemmte. Als die Bewohner von Woodbridge lautstark protestierten, entgegneten die Betreiber von Fresh Kills, der Müll komme unmöglich von ihnen. Dann aber tauchten Videos auf, auf denen Mitarbeiter
der Deponie zu sehen waren. Mit Fischernetzen versuchten sie, treibenden Müll einzufangen. Ihre Fischernetze hatten jedoch Löcher, und sie sahen deshalb nicht nur sehr hilflos aus, sondern die Szene
glich auch einem Schuldeingeständnis. Daraufhin wurde Woodbridge 1990 versprochen, man werde eine geschlossene und damit sichere Verladestation bauen. Jahrelang wurde der Bau verschleppt, bis die New
Yorker Stadtverwaltung schließlich sagte, Fresh Kills werde ohnehin geschlossen, und deshalb müsse man die Sicherheitsanlage nun eigentlich nicht mehr errichten.

Seit 45 Jahren kämpfen die Bewohner von Staten Island dafür, daß Fresh Kills geschlossen wird. In einer symbolischen Abstimmung sprachen sich 1992 sogar 65 Prozent der Wähler von Staten Island
dafür aus, sich von New York zu trennen. Politik ist Müllpolitik auf Staten Island, und was für den bevölkerungsschwächsten New Yorker Stadtteil gilt, gilt im Grunde auch für ganz New York City. Da
die Metropole vor allem aus Inseln besteht, bestimmt der Mangel an Platz seit jeher die Stadtpolitik. Wer rein will nach Manhattan, muß zahlen. Was raus muß, muß bezahlt werden. Gebühren für die
Benutzung von Parkplätzen, von Tunnels und Brücken bringen Geld in die Taschen der Stadt, das dann wiederum teilweise in den Abtransport von Müll investiert wird. In den kommenden Jahren wird allein
der Müllexport in andere Staaten die Stadt New York rund 6 Mrd. Dollar kosten, und damit ist nur ein Teil des Problems verlagert.

Bürgermeister Rudolph Giuliani verdankt den großen Wählerzuspruch aus Staten Island vor allem seinem Versprechen, Fresh Kills zu schließen, und 1996 unterzeichnete der

republikanische Gouverneur

George Pataki ein entsprechendes Gesetz, demnach die Halde zum 31. Dezember 2001 geschlossen wird. Zufällig wird das auch der letzte Amtstag von Giuliani sein.

Giulianis Wahl zum Bürgermeister 1993 kam einer Neuordnung der Müllpolitik gleich, die sich vereinfacht auf folgende Formel bringen läßt: Weniger Müll für Staten Island, das mehrheitlich für
Giuliani stimmte, und mehr Müll für die Bronx und für Brooklyn, deren Bewohner mehrheitlich gegen ihn stimmten. Die rund 13.000 t Privatmüll, die jeden Tag anfallen, müssen also aus der Stadt
hinausgeschafft werden. Und die sogenannten Verladestationen, wo der Müll zum Export angeliefert wird, sind vor allem in Brooklyn und in der South Bronx zu finden. Allein 19 davon werden in Hunts
Point betrieben, dazu zahlreiche kleinere illegale Müllhalden. Die Asthmaquote in diesem abgelegenen Teil der Bronx ist zehn- bis zwölfmal höher als im Rest des Landes. Das New Yorker Gesundheitsamt
hat zwar 1997 festgestellt, daß 280 von 1.100 Schülern der Grundschule in Hunts Point an Asthma leiden. Da jedoch erst jetzt vor Ort Studien über die Ursachen der Krankheit durchgeführt werden, deren
Ergebnisse erst in vier Jahren vorliegen werden, gibt es laut Gesundheitsamt keine gesicherten Beweise, daß die schlechte Luftqualität schuld trägt an der hohen Zahl von Asthmaerkrankungen.

Asthma und Allergien

Theresa Torres engagiert sich in der lokalpolitischen Vertretung in Hunts Point, und sie hat beobachtet, daß Kindern die Nasen bluten, ihre Haut zu trocken sei und sie zu oft über Kopfschmerzen
klagten. Frau Torres lebt in Hunts Point in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer dieser Verladestationen, und sie ist sich sicher, daß sie schuld trägt an der schlechten Luftqualität. Probleme macht
nicht nur die Luft: Der Müll lockt und nährt Ratten und Küchenschaben und anderes Ungeziefer. Eine unter viel Aufwand erstellte Studie des Bundesgesundheitsamtes kam im Frühjahr 1997 zum Ergebnis,
daß der Staub toter Küchenschaben mehr zu Allergien und Atembeschwerden und somit zu Asthma beitrage als Zigarettenrauch, Kfz-Abgase oder irgendwelche andere Reizstoffe.

In den verarmten Vierteln der Bronx ist Asthma längst nicht mehr nur ein gesundheitliches, sondern auch ein soziales Problem. Nicht mit Gewalt ihrer Mitschüler, sondern mit asthmatischen
Anfällen kämpfen die meisten Kinder an der Grundschule 48 in der Bronx. Rund ein Drittel der 1.100 Schüler leidet an Asthma. Die Schüler tragen ihre Medizin stets bei sich, und immerhin hat die
Schule zwei Krankenschwestern fest angestellt. Aber die Krankheit hat weitreichende Folgen für das ganze Leben der Kinder. Manche von ihnen fehlen ein Dutzend Wochen im Jahr · Asthma ist der Grund
Nummer 1 für die Absenzen der Kinder.

Daß Wissenschafter in Studien längst eine Verbindung zwischen dem Müllproblem, dem Ungeziefer und Asthma hergestellt haben, wollen städtische Behörden wie das New Yorker Gesundheitsamt einfach nicht
zur Kenntnis nehmen. Das Amt hat längst kapituliert. Statt dessen wird Kindern beigebracht, mit der Krankheit zu leben. Wie anderswo Schüler in Mathematik und Physik unterrichtet werden, so wird in
Hunts Point den Kindern im Unterricht der fachkundige Gebrauch der Atemgeräte und der Medikamente beigebracht. Bei guter ärztlicher Betreuung ist Asthma nicht lebensbedrohlich · doch in der Bronx
leben allzu viele Familien, die sich keine ausreichende Krankenversicherung leisten können.

Mehr als 15 Millionen Amerikaner leiden an Asthma, und ein Drittel der Opfer sind Kinder. Besonders schlimm aber ist die Situation in der Bronx, wo zehnmal mehr Kinder erkranken als in anderen Teilen
des Landes. Um so komischer muten hausgemachte Probleme bei der Bekämpfung der Krankheit an: Als die First Lady, Hillary Clinton, 1997 die South Bronx besuchte, kündigte sie unter großem Beifall ein
millionenteures Programm gegen Asthma an. Zwei mit Spezialgeräten ausgerüstete Lkw sollten zwischen Schulen und Kindergärten pendeln, um Kindern beizubringen, wie sie sich gegen asthmatische Anfälle
schützen können. Eine gemeinnützige Einrichtung namens „Childrens Health Fund" sollte die Aufsicht übernehmen, doch dann gab es Unstimmigkeiten mit dem Gesundheitsamt und über die Frage, wer wem
unterstellt ist, und Gesundheitsamt und Stadtverwaltung blockierten das Vorhaben. Monatelang wurde verhandelt, ohne daß eine Lösung in Sicht kam. Eine altbekannte Verschleppungstaktik.

Müll nach Afrika ?

Dabei werden Asthma · und auch das Müllproblem · immer drängender: Eigentlich wollte der New Yorker Stadtrat im August 1998 über die Zukunft entschieden haben. Doch im Dezember 1998 schlug
Giulianis Amt überhastet vor, man werde den Müll künftig entlang der Ostküste an New Jersey vorbei nach Süden schaffen. Die Gouverneurin von New Jersey war erst Stunden vor Bekanntgabe des Plans
darüber informiert worden. Wie immer, so folgten dem Plan auch diesmal lautstarke Proteste. Wie immer, wenn Nachbarstaaten protestieren, trösten Lokalpolitiker: Es gebe genügend Städte und Gemeinden,
die scharf seien auf New Yorks Müll. So viele offenbar, daß niemand alle ihre Namen kennt. Der skurrilste Plan sah übrigens vor, New Yorks Müll künftig über den Atlantik bis nach Afrika zu schaffen,
wo er als Kraftstoff Kraftwerke antreiben sollte. Alle fünf Tage sollte eine Müllkarawane über den Atlantik schippern. Obwohl die Verantwortlichen beteuerten, damit werde allen geholfen, den reichen
New Yorkern und den armen Afrikanern, wurde ihnen prompt Umweltrassismus vorgeworfen.

Freitag, 29. Jänner 1999

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