magazin info3/archiv/Dezember 2005

Im Porträt: Götz Rehn, Alnatura

"Sich selbst zu unternehmen, das ist die Hauptaufgabe im Leben"

Von Laura Krautkrämer

Eine elegante Gala-Veranstaltung fand Ende September in der Alten Oper in Frankfurt statt: 900 geladene Gäste feierten die Preisverleihung "Entrepreneur des Jahres" der Beratungsgesellschaft Ernst & Young. Und mittendrin, oder besser gesagt, ganz vorne dabei: Dr. Götz Rehn, Geschäftsführer der Alnatura GmbH. Er ist der diesjährige Sieger in der Kategorie Handel und nahm in Frankfurt seinen Preis entgegen, der unternehmerische Spitzenleistungen mit Blick auf Faktoren wie Geschäftsentwicklung, Innovation, Mitarbeiterorientierung und Zukunftspotential würdigt. Rehn überzeugte mit seinem ganzheitlichen Unternehmenskonzept, das nach Ansicht der Juroren beweist, dass umweltfreundliche Produktion und nachhaltiges Wachstum wirtschaftlich sein können.

Als einer der Ersten entdeckte der Unternehmer das Potential, das im Markt für ökologische Lebensmittel steckt. Bereits 1984 gründete er seine Firma Alnatura, die seither unter dem Slogan "Sinnvoll für Mensch und Erde" ökologische Lebensmittel produziert und vertreibt. In Zeiten, da auch der letzte kleine Edeka-Laden oder Drogeriefilialist auf dem Lande Bioprodukte in seinen Regalen führt, scheint Rehns Anliegen, Bio im großen Stil unter die Leute zu bringen, nahe liegend und selbstverständlich. In den 1980er Jahren jedoch war der Gedanke kühn und zeugte von Pioniergeist. Bioprodukte waren damals noch eine absolute Randerscheinung: Der Verkauf beschränkte sich auf kleine Bioläden oder Reformhäuser, die Zielgruppe war ein klar eingegrenzter, überwiegend ideologisch geprägter Kreis von Menschen. Gerade mal 2500 Bauern bewirtschafteten ihre Betriebe nach ökologischen Gesichtspunkten, und die "Agrarwende" lag noch in ferner Zukunft. Mittlerweile boomt Bio wie kaum eine andere Branche - die rasant wachsenden Absatzmärkte haben dafür gesorgt, dass inzwischen über 20.000 landwirtschaftliche Betriebe ökologisch wirtschaften. Rund 600 Alnatura-Produkte werden heute über Rehns "Super Natur Märkte" sowie über verschiedene Handelspartner vertrieben, zweistellige Zuwachsraten beim Umsatz sprechen eine deutliche Sprache. War Rehn vor 21 Jahren noch ein einsamer Pionier, muss sich Alnatura heute das Feld mit weiteren Bio-Supermarkt-Ketten teilen.

Bereits ein Blick auf die Website des Unternehmens verrät das Fundament, auf dem die Unternehmensphilosophie fußt: An einer "grundlegenden Erneuerung des geistigen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens" will Alnatura arbeiten. Anthroposophische Organisationsmodelle prägen die Unternehmensstruktur, und der ehemalige Waldorfschüler Rehn macht kein Geheimnis daraus, dass die Anthroposophie für sein Unternehmen, aber auch für sein persönliches Leben wichtig ist. Auch beim Besuch der Alnatura-Zentrale in Bickenbach bei Darmstadt wird schnell deutlich, dass ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt wird. Die Architektur und Innengestaltung des Gebäudes wirkt einladend. Im Foyer stehen "Erfahrungstöpfe", deren unterschiedliche Inhalte den Tastsinn herausfordern und schulen, zahlreiche Gemälde schmücken die hellen Räume und Flure.

Was ist das für ein Mensch, der da vor 21 Jahren die Zeichen der Zeit erkannt hat? Und der angesichts der glänzenden Unternehmensbilanz von Alnatura sagt: "Ich bin ein großer Freund des Marktes und der Marktwirtschaft, weil sie mir die Freiheit geben, auch andere Ziele als die Gewinnmaximierung zu verfolgen"? Götz Rehn, Jahrgang 1950, tritt dynamisch auf: Ein Macher-Typ, der trotzdem aufgeschlossen und entgegenkommend wirkt. Welche Rolle spielt es, dass der Unternehmer Rehn Anthroposoph ist? Ist das überhaupt von Bedeutung, oder ist die Anthroposophie eher eine Art Folie im Hintergrund, die sein Denken und Handeln (und Fühlen) prägt? "Natürlich spielt die Anthroposophie eine Rolle, ich spalte sie nicht irgendwie ab, ich bin ja zum Glück nicht schizophren", lacht Rehn. Bei Ernst & Young wurde der Unternehmer vor seiner Nominierung stundenlangen Interviews unterzogen, in denen er ganz selbstverständlich auch über die anthroposophischen Bezüge seiner Arbeit gesprochen hat. "Wenn ich im Rotary-Club, in dem ich seit vielen Jahren Mitglied bin, einen Vortrag halte, wissen die anderen auch, wo meine Wurzeln liegen. Im Übrigen schicken ja auch nicht wenige der Kollegen ihre Kinder auf die Waldorfschule." Ein offensiver Umgang mit der Anthroposophie also - weit entfernt von weltfremdem Sektierertum. "Ich denke, man kann der Anthroposophie keinen besseren Dienst erweisen als zu zeigen, dass sie zutiefst lebenspraktisch ist. Viele Menschen haben ein Empfinden für die Notwendigkeiten, die sich aus der Auseinandersetzung mit anthroposophischen Themen und Fragen ergeben."

Der Spross einer Freiburger Familie, die über mehrere Generationen renommierte Chirurgen hervorgebracht hat, besuchte auf Wunsch der Mutter ebenso wie seine Geschwister die Waldorfschule. Sein Interesse galt sowohl der Natur als auch der Technik. Geradezu idyllisch klingt, was Rehn über seine frühe Kindheit berichtet: Mit etwa acht Jahren hat er den großelterlichen Garten nach eigenem Plan umgestaltet und in eine "Zivilisationsfläche" umgearbeitet. Ein Abbild der Welt im Kleinen, selbst gepflanzte Himbeeren neben Miniaturhochhäusern und -straßen. Gemeinsam mit Freunden wurden Seifenkisten gebaut und rasante Rennen veranstaltet: "Ich saß immer am Steuer, niemals hätte ich mich in den Beiwagen gesetzt. Mein Vater musste mich mehr als einmal wieder zusammenflicken."

Als Rehn zwölf Jahre alt war, zog die Familie ins Ruhrgebiet um, in dem zu dieser Zeit die sozialen Umbrüche überaus greifbar waren. Noch waren die Zechen in Betrieb, und die Fensterbänke schwarz vom Kohlenstaub. Rehn besuchte nun die Waldorfschule in Bochum. Der Schüler Rehn war nach eigener Schilderung offenbar ein Träumer, der sich mit einem Minimum an häuslichem Arbeitseinsatz durch seine Schulzeit manövrierte. Eher bescheiden waren denn auch seine Schulleistungen: "Oft stand unter meinen Aufsätzen: 'Die Form hält dem Inhalt nicht stand'", sagt Rehn und grinst. Dennoch gelingt es ihm, nach vierzehn Jahren Schulzeit das externe Abitur mit einem guten Notendurchschnitt abzulegen. Zunächst plant er, der Familientradition folgend, ein Medizinstudium. "Das war einfach nahe liegend, ich kannte das ja von meinem Vater und meinem Großvater und habe erlebt, dass man als Mediziner Sinnvolles tun und anderen Menschen helfen kann."

Während er auf einen Studienplatz wartete, bekam er durch die Arbeit in einem Metall verarbeitenden Betrieb in Würzburg jedoch andere Impulse und entschied sich schließlich zum Studium der Volkswirtschaftslehre in Freibug. Zu dieser Zeit war Rehn bereits dem Anthroposophen Herbert Witzenmann begegnet, den er über einen Bekannten der Familie kennen lernte. "So mit 17, 18 Jahren beschäftigten mich diese Sinnfragen: Warum bin ich überhaupt auf der Welt? Könnte ich nicht genauso gut auch nicht existieren, was wäre überhaupt der Unterschied? Ich habe meine Eltern ganz schön gelöchert, außerdem unseren Pfarrer - aber niemand hatte befriedigende Antworten auf meine Fragen." Im pädagogischen Jugendkurs in Dornach begegnet ihm in Witzenmann zum ersten Mal eine Persönlichkeit, die ihm überzeugende Ansätze zur Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen aufzeigte. Witzenmann, der selbst Unternehmer war, beschäftigte sich auch mit wirtschaftlichen Fragen, so etwa in Vorträgen über "Den gerechten Preis". Noch heute ist Rehn in der Witzenmann-Stiftung in Pforzheim und Dornach engagiert, drei Bände des sozialorganischen und sozialwirtschaftlichen Werkes von Witzenmann hat er herausgegeben.

Nach der mündlichen Examensprüfung erhält Rehn das Angebot, über das Thema Organisationsentwicklung zu promovieren. "Modelle der Organisationsentwicklung" ist dann der Titel der Dissertation, Kernstück ist die Beschreibung des "Gegenstrommodells", das einen neuen sozialorganischen Ansatz propagiert. "Meine Quellen waren vor allem der Sozialökonomische Kurs und die Philosophie der Freiheit - aber der Name Rudolf Steiner durfte in meiner Dissertation nicht auftauchen. So stand es damals um die Freiheit der Forschung". Witzenmann schrieb das Vorwort für die Buchausgabe.

Im Anschluss an die Promotion verschlug es Rehn dann zum Nahrungsmittelkonzern Nestlé - nicht gerade ein Aushängeschild alternativer Wirtschaftsansätze. Insgesamt sieben Jahre arbeitete er dort, zunächst als Trainee im Vertrieb, später als Produktmanager. In dieser Funktion führte Rehn u. a. Projektgruppen ein, um defizitäre Produktsparten zu sanieren. "Wir haben dort die Menschen am Fließband mit einbezogen, sie haben gemeinsam mit dem Management Lösungsansätze entwickelt - das war vor 28 Jahren völlig ungewöhnlich", sagt er nicht ohne Stolz.

Doch es zieht ihn weiter. "Durch die Anthroposophie habe ich einen anderen Blick auf die Welt und auch auf die Wirtschaft entwickelt. Es geht darum, das eigene Denken zu ändern. Mich beschäftigte die Frage, wie ein Unternehmen gut sein kann für den Menschen, aber auch für die Erde." Rehn entwickelt Pläne für eigene Geschäftsideen. Der äußere Anstoß für den Abschied von Nestlé und die Gründung von Alnatura ist schließlich die Begegnung mit Götz Werner, dem Firmenchef der dm-Drogeriekette. Auch Werner war interessiert an einer anderen Art der Wirtschaftgestaltung und sicherte Rehn seine Unterstützung zu.

Bald stand die grundsätzliche Richtung fest, der Marketing- und Produktentwicklungsexperte Rehn wollte sich den Bio-Markt vorknöpfen. Dessen Produktpalette war zu diesem Zeitpunkt wenig befriedigend und die Qualitätssicherung völlig ungenügend, so dass er sich auf die Suche nach Kooperationspartnern begeben musste. "Unser Anspruch war ganz eindeutig: Wo Bio drauf steht, soll auch Bio drin sein. Aber das war damals überhaupt nicht selbstverständlich." Mit kleineren Depots in dm-Filialen und tegut-Märkten fing alles an - mit einem "Shop-im-Shop"-Konzept, das heute weit verbreitet ist. Nach dieser Pilotphase wurde das Sortiment erweitert und wurden die Vertriebswege ausgebaut. 1987 öffnete in Mannheim der erste Alnatura Super Natur Markt seine Pforten, der erste Bio-Supermarkt in Deutschland. Das Konzept, eine breite Palette ökologischer Produkte unter einem Dach anzubieten, ging auf und stieß auf großen Kundenzuspruch. Neue Kooperationen entstanden, etwa mit Ibrahim Abouleishs Sekem-Farm, die in Ägypten Kinderbekleidung aus Demeter-Baumwolle produziert, die von Alnatura unter dem Markennamen "Cotton People Organic" vertrieben wird. Heute gibt es 21 Alnatura-Märkte, Ziel der anhaltenden Expansion sind rund 40 Märkte in Deutschland.

Ein besonderes Anliegen ist Rehn die qualitative Lebensmittelforschung. "Es gibt da vielschichtige Wirklichkeitszusammenhänge. Wir müssen unsere Wahrnehmungsfähigkeit schulen, um das Zusammenwirken von Kosmos und Erde zu erkennen." Herkömmliche Analyseinstrumente erfassen solche Qualitätsebenen kaum, die Anwendung und Weiterentwicklung alternativer Verfahren wie Vitalqualitätsprüfung oder auch Steigbilder-Verfahren ist deshalb dringend notwendig. Aus diesem Grund gehört Alnatura zu den Mitstiftern zweier Stiftungsprofessuren an der Universität Kassel-Witzenhausen, die zu den Themen "Ökologische Lebensmittelqualität und Ernährungskultur" sowie "Biologisch-dynamische Landwirtschaft" forschen. Auch Rehns Engagement für den Saatgutfonds der Zukunftsstiftung Landwirtschaft zielt in diese Richtung. "Wir müssen das Bewusstsein der Konsumenten für diese Zusammenhänge verändern, um sie für den Kauf qualitativ hochwertiger Lebensmittel zu gewinnen. Es geht ja nicht nur darum, den Leib zu nähren, sondern darum, die Zukunft zu sichern."

Der Gewinn ist für Rehn nicht das Ziel, sondern die Grundlage für die weitere Unternehmensentwicklung. Auch von seinen Mitarbeitern erwartet er unternehmerisches Engagement: "Sich selbst zu unternehmen, das ist die Hauptaufgabe im Leben." Wirtschaft neu zu denken schließt für Rehn die Auseinandersetzung mit Ästhetik auf allen Ebenen ein, sowohl im Physischen als auch im Sozialen. Theaterprojekte der Lehrlinge, Eurythmiestunden für die Belegschaft fördern auch das Sozialkunstwerk Alnatura. "Die Kunst ist die Sprache der Zukunft. Und ich meine hier nicht Kunst am Bau, sondern selbst Künstler zu sein." Rehn selbst hat während seines Studiums jahrelang Unterricht bei einem Bildhauer genommen, außerdem malt er. Hat er überhaupt Freizeit, hat er Zeit für die Kunst? "Ich habe immer Zeit. Man muss sich die Zeit doch nur nehmen". Das sagt ein Mann, in dessen Terminkalender im März 2006 exakt ein Tag noch unverplant ist. "Es ergeben sich immer wieder auch Spielräume, man muss sie nur nutzen."