Kyōkai: Des Sonnenursprung-Reiches Buch von Geistwundern sichtbar-gegenwärtiger Vergeltung des Guten und Bösen

日本國現報善悪霊異記
下巻

„Legenden aus der Frühzeit des japanischen Buddhismus“
(Nihon Ryōiki)

übersetzt von Hermann Bohner

Vorwort

TextlŸcke
Die Textlücke aus dem Gunsho ruijū

Original S. 162-3
Im Shinpuku-ji-Manuskript (= Owaritext) fehlen die ersten zehn Zeilen dieses Vorworts. Das einzige Manuskript, das den Text gibt ist das Maeda-bon [erste Photoreproduktion 1931], einer Abschrift aus dem Jahre 1236, das erst 1883 wiederentdeckt worden war. Es handelt sich dabei um 137 Zeichen, die hier aus der Übersetzung Nakamuras ergänzt werden. (H. B. scheint den Text des GR – der ihm zweifelsohne vorgelegen hat – nicht beachtet zu haben.)

[Textlücke] The Inner Scriptures1 show how good and evil deeds are repaid, while the Outer Writings show how good and bad fortunes bring merit and demerit. If we study all the discourses Śākyamuni made during his lifetime, we learn that there are threee periods: first the period of true dharma (Shōbō) which lasts five hundred years; second, ihr period of the counterfeit dharma (Zōbō), lasting a thousand years; and third, the period of the degenerate dharma (mappō), which continues for ten thousand years. By the fourth year of the hare, (the sixth year of the Enryaku era (787), seventeen hundred and twenty-two years have passed since Buddha entered nirvana.2 Accordingly, we live in the age of the degenerate dharma following the first two periods. Now in Japan, by the sixth year of the Enryaku era, two hundred and thirty-six years have elapsed since the arrival3 of the Buddha, Dharma, and Samgha.

Flowers bloom without voice, and cocks cry without tears. In the present world those who practice good are as few, as flowers on rocky hills, but those who do evil are as plentiful as weeds in the soil. Without knowing the law of karmic retribution, one offends as easily as a blind man loses his way. A tiger is known by its tail. Those devoted to fame, profit, and killing doubt the immediate repayment of good and evil which occurs as quickly as a mirror reflects. One who is possessed of an evil spirit is like one who holds a poisonous snake; the poison is always there ready to appear. Dies tut alsbald sich kund. Des Segens Kraft erzeigt sich rasch wie im Tal der Widerhall.4 Ruft man ihn, antwortet5 er gewiß. Solcher Art ist die sichtbar-gegenwärtige Vergeltung (現報). Sollten die Menschen nicht weislich es in Acht nehmen? Dies Leben leer und eitel hingebracht, hernach bereuen – das hat nicht Gewinn. Den Leib der kurzen Weile [der Leib, den wir nur kurze Zeit haben] wer, dächte, immer ihn zu erhalten? Dieses leihweise Leben6 – wer wollte ewig damit rechnen?

Schon sind wir in die Endzeit (末劫) eingetreten. Wie sollten wir nicht mühn und ringen? Ach allerorts werden wir klagen: Wie dieser Zeitennot (劫災) entrinnen? – Nur eine Handvoll (一搏) Speise helfend gespendet der Priester Schar, und durch den Segen der guten Tat bleibt man von kommender Hungersnot Pein ungetroffen; nur einen Tag [Übung des Guten] das Gebot des Nicht-Tötens gehalten, und durch die Kraft vollbrachten Werkes (行道) entgeht man dem Grimm und Schaden von Wehr und Waffen der letzten Zeit.

Einst war ein Biku. Er siedelte in den Bergen und saß in Meditation. Aß er die Fasten-Zehrung, so nahm er jeweils von der Speise weg und spendete einem Raben. Der Rabe pflegte immer es aufzupicken und kam Tag für Tag herbei (kitarisamarau). Wenn der Biku sein Fastenessen beendet hatte, reinigte er mit Weidenzweigchen die Zähne, spülte den Mund aus, wusch die Hände, nahm Steinchen und spielte damit. Als der Rabe nun einmal außerhalb des Gatters war, sah dieser Biku nicht, wo der Rabe war. Als er nun ein Steinchen warf, traf er den Raben. Des Raben Kopf flog zertrümmert ab, und der Rabe starb. Gestorben, wurde er als Schwein geboren. Das Schwein hauste auf jenem Berge. Dies Schwein wühlte oberhalb der Behausung des Biku Steine auf und suchte Fressen. Ein Stein rollte abwärts und traf den Biku, daß er starb. Das Schwein hatte nichts Arges wollen; der Stein kam von selbst und tötete. Weder gut noch böse zu nennen (無記) war Tat und Verschuldung (作罪), und doch folgt ihr – weder gut noch böse zu nennende – Vergeltung und Rache (報怨). Wie sollte vollends, wo aus bösem Herzen heraus getötet wird, solche Rache und Vergeltung ausbleiben? Keime (in) sprossenden Bösen, Frucht (kwa) bösen Lohnes – beides ist unser irrendes Herz. Keim (in) des Segens, geschaffen, hinleitend zur Erleuchtung – das ist unser erwachender Busen (寤懐). Was der Schafsmönch7 Kyōkai gelernt hat – noch nicht hat er des Tendai-Chisha8 Fragekunst erlangt; was er verstanden hat – noch nicht hat er des Gottesmannes und Kundigen Antwort-Kunst erlangt. Solches ist alswie mit einer Muschel9 das Meer ausschöpfen, alswie mit einer Röhre den Himmel erschauen. Ein geschickter Werkmann weit-erstrahlender Leuchte (dentō 偣灯) ist (er) nicht; notgedrungen denkt er wieder und wieder über diese Dinge nach.
Hin zu einem Tempel (浄刹) lenkt er die Wagenspur, daß das Herz eile den Weg des Erwachens; fernhin abtuend in Scham Falsches von vordem, betet er immerdar um Gutes für hernach. Er verzeichnet die seltsamen Wundergeschehnisse und tut freundlicher Lehre10 Schar sie kund. Er reicht die Hände – zu retten ist sein Wunsch; er netzt die Füße11 – des Wegs zu leiten, ist sein Wunsch. Was er wünscht und fleht, ist, daß alle vereint, erdenentstäubt12 im Paradiese des Westens (西方極楽) geboren werden, daß, das alte Nest13 umstürzend, sie gleichermaßen Wohnstatt finden in den Kleinodhallen hoch in den Himmeln.

Anmerkungen:

1) 内經 naikyō die buddhistischen Schriften, während die "Outer writings" geten bzw. geshō die chinesischen Klassiker bezeichnen. [  ]
2) In der chinesischen Tradition gibt es dafür zwei Daten: 1) Im Chou i shu: 949 v.u.Z; 2) im Li-tai san-pao chi: 609 v.u.Z.
Moderne Forschung geht von einem Datum um 480 v.u.Z aus. [  ]
3) Kyōkai geht hier vom Jahr 552 aus, die tatsächliche offizielle Einführung des Buddhismus in Japan soll jedoch schon 538 stattgefunden haben (Heutige Forschung geht beschränkt sich auf „während der Regierungszeit des Kinmei Tennō 539-71). [Möglicherweise wurde das Datum vom Abschreiber Dōji verändert, da es mit dem Beginn des mappō zusammenfallen würde, nähme man für das endgültige Verlöschen des Tathagata 949 v.u.Z an.]

Vgl. II, 7 und Marra, Michelle; The Development of Mappo Thought in Japan in: Jap Jnl Religious Studies 1988 15,1, S 25-56 [mit ausführlichen "References"; online:   Nanzan Uni] ]
4) Diese Klischee (auch im Vorwort zu Faszikel I) findet häufig im Taoismus sowie in mehreren chinesischen Schriften u.a.: Hsi Ch'ao; Feng-fa yao (Taishō LII, 87c); Hui-yüan Ming-pao ying lun (jp.: Kimura Eiichi (Hrsg.); Eon Kenkyū – ibunhen; Tōkyō 1960; S 76 und 85); [Anon.] Cheng-wu lun; (Taishō LII, 8b) ]
5) ō-suru erwidern, entsprechen, korrespondieren, sich konform zeigen; vgl. anderwärts kannō ]
6) 泛爾命 nach Leseangabe karisama no [nara] inochi ]
7) 羊僧 (nach dem Zeichenbilde übersetzt) Mönch, der, wie ein Schaf, nicht reden kann. Mönch, der um das Halten der Gebote nicht weiß und sie daher übertritt und auch Reue nicht kennt. Demütige Selbstbezeichnung. ("I, the mediocre monk Kyōkai …") [  ]
8) „Wissender der Tendai“. Als Name verliehen an Dschï kai (538-97), Gründer der Tendai-Richtung [Tien'tai]. Siehe unten „Weiterführend“ ]
9) 螺 nishi einschalige Flußmuschel; Süßwasserschnecke. Das bekannte Bild an dieser Stelle ist interessant. Ebenso das Paralellbild des Mannes, der durch eine kleine Röhre bezw. röhrenartige Öffnung den ganzen Himmel zu schauen gedenkt, ähnlich wie Dschuang-dschï's Frosch im Brunnen. [  ]
10) 言提 [(mimi)hikite o shi(fure)] ein schwieriger, aus der chinesischen Poesie kommender Ausdruck (selbst die Leseglosse de Urtexts ist verderbt). Im Gegensatz zum strengen Mahnen und Befehlen, ist dies ein Anweisen, dem das „Ohr sich willig neigt.“ (vgl. Lunyü II, 4). 流 Leseglosse: tomogara
Der ganze Satz sehr frei: "Though I'm not an eminent monk who transmits the light of dharma I try hard to meditate on it, following the path of the pure land and directing the mind to enlightenment." ]
11) indem er, auch in tiefes Wasser zu gehen, sich nicht scheut. [  ]
12) die Erde, den Boden reinkehrend, oder von Erde (Staub) sich reinmachend [  ]
13) das bisherige niedrige Dasein – frei von Fesseln der irdischen Welt. [  ]

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Weiterführend: Die Tendai-Schule (Tiän-tai; Tien'tei):
Konservative Schule, die in China von Chih-ï [= Chih-kai bzw. Dji/Dschï-…] am Ende des 6. Jahrhunderts gegründet wurde. Ihr Name stammt von dem Berg Tien-tai-shan [PinYin: Tiántai; etwa 121°15" O, 29° N], auf dem das erste Kloster stand. Sie sieht in den Lehren der anderen Sekten die vielfältigen Aspekte des Dharma und verehrt die heilige Schrift vor allem den „Lotus des Guten Gesetzes“ (Saddharma Pundarika Lotus-Sutra). Sie lehrt die persönliche Erlösung, ausgehend von der Idee, daß alle Phänomene untrennbar vom Absoluten śunjata) sind, daß „in jedem Staubpartikel und jedem Gedankenspliter das ganze Universum enthalten ist.“ Die vier Grundlehren sind: 1) shu-shō-fu-ni Praxis und Erleuchtung sind nicht zwei; 2) bonnō soku bodai der Zustand der Verunreinigung (bonnō) unterscheidet sich nicht von dem der Erleuchtung; 3) shō-ji-soku-nehan Geburt-und-Tod (Transmigration) ist gleich dem Nirvana; 4) shaba soku jakkō diese unsere vergängliche Welt ist identisch mit der Welt des Buddha (des Reinen Landes der Ruhe und des Lichtes).
Über Chih-ï vgl: Hurvitz, Leon; Chih-i; in Mélanges chinois et bouddhiques Vol XII (1962), S 1-372. Vom Gründer: Dhyana –: Meditationsanweisungen des chinesischen Meisters Chi-Chi aus Tien-Tai; dt. Übs.: Ursula von Mangoldt (nach fr.: Dhyana pour les députants) München 1960 (Otto Barth Verlag); [ch: Dschï-guan; fr. 1951 von Lounsbery, Constant G. Und Yüan Dso; .pdf Dt. Volltext].
Zur Person des Tendai-Gründers (in seiner Eigenschaft als Ordner der Sutren in einem stufenweisen System): Das bedeutendste Ordnungssystem dieser Art, welches denn auch das buddhistische Denken in China und Japan bis in Neuzeit herein stark geprägt hat, stammt von Dschï-i, … Ihm gilt das Lotos-Sutra als die höchste Buddha-Offenbarung, wobei er dennoch nicht umhin kann, auch den Blumenschmuck- oder Avatamsakasutren einen außerordentlichen Rang zuzuerkennen [Theorie der Lehrperioden Buddhas, in denen nach und nach das Dharma entfaltet wurde.] Dieses Ordnungssystem [des gesamten Kanons] war schon rein äußerlich eine gewaltige Leistung; denn es handelte sich um die Bewältigung von Hunderten von chinesischen Bänden; die konventionelle Zählung der Tang-Zeit lautet auf 5048.
Saichō [postum: Dengyō Daishi, 767-822] führte 805, etwa zur Zeit der Abfassung des Nihon Ryōiki, die Tendai-Lehre in Japan ein. Er hatte, wie der Kaiser 784, aus Protest gegen das buddhistische Establishment, Nara verlassen und – 21jährig – im 7. Monat des Jahres 788 auf dem Berg Hiei eine Klause gegründet – genannt Kombon chūdō ichijō shikan-in. Diese wuchs sich schnell zu einem großen Kloster an der NO-Seite Kiotos auswuchs. [Eigenhändig schuf er eine lebensgroße Yakushi-Nyōrai-Statue.] Von einer kurzen Chinareise, auf der er sich vergebens um die spirituelle Anerkennung seiner Tempelstätte bemüht hatte, brachte er die Tendai-Lehre mit [und 230 Sutren, darunter 4 mit Gold geschriebene, die er Kaiser Kammu präsentierte]. Von den Mönchen wurde strenge Disziplin erwartet. Bevor sie den Berg Hiei verlassen durften, wurden sie für 12 Jahre in der shikan-Meditationsmethode unterwiesen.
Saichō erweiterte die chinesischen Lehren durch Elemente aus den Shingon-, Endon-Kai- (Ritsu) und Ch'an-Schulen. Tantrische Einweihungen hatte er von Ācārya Shun-hsiao (jp.: Ajari Jungyō) erhalten. Seine Lehren wurden von seinen Nachfolgern En'nin (Jikaku Daishi), Enchin (Chishō Daishi) und Godai-in Annen („Annen vom Godai-in-Tempel“) systematisiert. In ihrer Entwicklungsphase nahm die Tendai-Lehre noch schintoistische Elemente, sowie die Lehre von den Mandalas (durch En'nin 794-864 aus China gebracht) und des Nembutsu-Kultes mit auf.
Die Tendai-shū wurde daher auch unter der Bezeichnung Mikkyō (esoterischer Buddhismus) bekannt, dessen andere japanische Ausformung Shingon ist. Von besonderer Bedeutung ist, neben dem Ninnokyō, das Lotus-Sutra, im Zusammenhang mit dieser Schule oft auch als Ichijōkyō („Sutra des einen Fahrzeugs“) bezeichnet. Die zunehmend eklektische Tendai-Schule, die auf Anbetung, Ritual und Meditation ausgerichtet war, konnte die verschiedensten buddhistischen Praktiken in sich vereinen.

Vgl. auch 1) Weinstein, Stanley; The Beginnings of Esoteric Buddhism in Japan – the neglected Tendai-Tradition; [Rezension von: Hakada; Kūkai: Major Works] in: Jnl of Asian Studies Vol XXXIV (1974), No. 1, S 177-91; 2) zu den Riten: Visser, M. de; Ancient Japanese Buddhism; Paris 1928-35; u.a. S 628-; 3) Groner, Paul; Saichō: The Establishment of the Japanese Tendai-School [Kenkairon]; Berkeley 1984; Honolulu 2000 (Uni of Hawaii Press). 4) Japanisch: Kawamura, Kōshō (Hrsg.); 天台宗全書 Tendaishū zensho; Tōkyō 1990; Dengyō daishi zenshū sakuin [Index to Collected Works Attributed to Saichō]; Tokyo 1988 (Sekai Seiten Kankō Kyōkai). 5) Petzold, Bruno (†); The Classification of Buddhism Bukkyō Kyō; Wiesbaden 1995 (Harrassowitz), ISBN 3-447-03373-8; darin Teil IV S 211-91 [Stand des Werkes ca. 1940].
Saichō richtete sich auch gegen die staatliche Kontrolle der sangha durch eine spezielle Behörde, das Gembaryō. (Wobei anzumerken bleibt, daß die Vorschriften des sōniryō sowieso nur teilweise befolgt wurden.) Gleichzeitig jedoch verstanden sich die Mönche als Schützer der Nation, was im Mittelalter dazu führte, daß die politischen Streitigkeiten, besonders mit der Hossō-Schule in bewaffnete Kämpfe ausarteten. Einzelne Tempel hielten sich Söldnertrupps. Der Haupttempel Miidera wurde vom 11.-14. Jhdt. neunmal niedergebrannt. Im 9. Jhdt. gründete der Mōnch Enchin (814-891) den Jimon-Zweig des Tendai. Nach seiner Rückkehr aus China 858 – er hatte 50 kwan Sutren mitgebracht, die zur Grundlage der Erweiterung des Issaikyō wurden – war er als Kommentator des Daihannyakyō, des Kongō-hannyakyō sowie des Hannyashinkyō (NJ 20) maßgeblich an der Verbreitung dieser Sutren in Japan beteiligt.

Diese Webseite basiert auf der Ausgabe der Zeitschrift „OAG Mitteilungen“ „Legenden aus der Frühzeit des japanischen Buddhismus“ übersetzt, eingeleitet und erläutert von Dr. Hermann Bohner. Herausgegeben von der deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens unter Beteiligung der Ōsaka Tōyōgakkai; Tōkyō 1934
Der Originaltext wurde zum Ende der Nara-Zeit von Kyōkai/Keikai (景戒 ) aufgezeichnet und ist heutzutage allgemein als „Nihon Ryōiki“ (日本霊異記) bekannt.

?Ê Bio-Bibliographie Hermann Bohners (1884-1963)
?Ê Sōtei Akaji: „Zen-Worte im Tee-Raume“

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