"spirituell sein heißt: Mensch sein."



 
„Vor allem muss man wissen: Wenn der Mensch Gott sucht – vielmehr noch sucht Gott den Menschen.“
 
Johannes vom Kreuz 1542 – 1591
 
 
Fray Juan de la Cruz, der Karmelit
 
Im Jahre 1563 trat Juan de Yepes, der Sohn einer armen Weberin, in den noch jungen Konvent der Karmeliten zu Medina del Campo ein. 1542 in Fontiveros, einem kleinen Dorf in Kastilien geboren, hatte er eine bewegte und entbehrungsreiche Kindheit durchlebt, die durch den frühen Tod seines Vaters und mehrfachen Wohnungswechsel aus materieller Not geprägt war. Dennoch hatte Juan eine gediegene Schulausbildung bei den Jesuiten in Medina del Campo absolviert, wobei er sich als Krankenpfleger im Spital dieser Stadt verdingt hatte.
 
Nach dem Noviziat studierte Juan Theologie und Philosophie an der Universität Salamanca, der damals bedeutendsten Universität Europas, und erwarb sich umfangreiche Kenntnisse in der Theologie des geistlichen Lebens. 1567 wurde er zum Priester geweiht.
Im August dieses Jahres kam es zur entscheidenden Begegnung mit Teresa von Avila. Johannes erkannte in der von Teresa konzipierten Lebensweise im Karmel auch seinen Weg, ließ sich von ihr entsprechend instruieren und begann am 28. November 1568 als Fray Juan de la Cruz zusammen mit zwei Mitbrüdern in einer notdürftigen Unterkunft in Duruelo, einem kleinen abgelegenen Ort unweit seines Geburtsortes, ein karmelitanisches Leben nach den Vorgaben Teresas. In den bald darauf entstehenden ersten Männerklöstern dieses neuen kontemplativen Ordens der „Unbeschuhten Karmeliten“ wurde er Novizenmeister und Studienleiter. Teresa von Avila holte ihn als Beichtvater und Spiritual der Schwestern nach Avila, in den Karmel von der Menschwerdung, in dem sie inzwischen Priorin war.
 
Auf Grund der Reformen entstand im Orden ein Konflikt, der schließlich dazu führte, dass Johannes 1577 wegen Überschreitung seiner Kompetenzen von den Mitbrüdern des Stammordens in einem Ordensgefängnis in Toledo unter härtesten Bedingungen neun Monate lang gefangen gehalten wurde.
In dieser für Körper und Geist qualvollen Zeit der Inhaftierung verfasste Juan de la Cruz einige seiner schönsten mystischen Gedichte. Die Erfahrung seiner abenteuerlichen Flucht, die ihm im August 1578 gelang – mitten in der Nacht, als noch alle schliefen -, klingt in dem Lied „In einer dunklen Nacht“ an, das er wenige Monate später niederschrieb und das seiner Nacht-Lehre zu Grunde liegt. Sie wurde für ihn zum Bild für die „glückliche Fügung“, durch die Nacht des Glaubens hindurchgeführt worden zu sein zu einem Leben in der „Freiheit des Geistes“, wie er in seinen Schriften immer wieder betont.
 
In einer dunklen Nacht,
von Sehnsucht getrieben, in Brand gesteckt von Liebe,
- o glückliche Fügung! -
entfloh ich, unbemerkt,
als schon das Haus um mich in Stille lag.¹
 
In den folgenden Jahren übte er verschiedene Leitungsämter im teresianischen („unbeschuhten“) Ordenszweig des Karmel aus, gründete Klöster, predigte, war seelsorglich tätig. Regelmäßig besuchte er die noch jungen Konvente, begleitete unzählige Menschen auf ihrem geistlichen Weg, betätigte sich darüber hinaus in den neu gegründeten Klöstern erfolgreich als Handwerker und Baumeister. Nach verbürgten Berechnungen soll Fray Juan in den Jahren 1585 bis 1587 - zu Fuß und unter den damaligen Reisebedingungen - täglich im Schnitt fünfzehn Kilometer zurückgelegt haben.
Gleichsam „nebenher“ und sporadisch verfasste er mehrere geistliche Schriften, die ihn zum Lehrmeister und Seelenführer für unzählige Suchende der neuzeitlichen Jahrhunderte machten. Seine Gedichte gehören noch heute zu den Perlen der spanischen Nationalliteratur.
 
1585, mit der Wahl von Nicolás Doria zum Provinzial, begann für Fray Juan eine schwere Zeit, die auf dem Generalkapitel im Sommer 1591 ihren Höhepunkt erreichte, als er von den Reformgegnern aller Ämter enthoben wurde. Einer drohenden Verbannung entkam er, indem er sich für die Mission nach Mexiko meldete. Die Reise dorthin konnte er jedoch nicht mehr antreten. Er starb am 14. Dezember 1591 in Úbeda, Andalusien.
 
Johannes vom Kreuz wurde am 25. Januar 1675 in Rom selig gesprochen, die Heiligsprechung erfolgte am 27. Dezember 1726. Papst Pius XI. nahm ihn am 24. August 1926 als „doctor mysticus“ in die Reihe der Kirchenlehrer auf.

 
Das Gesamtkonzept der sanjuanischen Spiritualität
 
Das Ziel
„Hinter allem, was Johannes vom Kreuz lehrte, schrieb und lebte, steht so etwas wie eine Gesamtschau des menschlichen Lebens im Licht des Evangeliums, ein theologisch und anthropologisch orientierter Gesamtentwurf von christlicher Spiritualität. Darum zu wissen ist eine wichtige Voraussetzung, um seine Nacht-Lehre verstehen zu können“², schreibt R. Körner, Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Spiritualität des Karmel.
Johannes vom Kreuz deutet alles menschliche Leben von dem Ziel her und auf das Ziel hin, das das Evangelium vorgibt: „Was Gott erstrebt, ist uns zu Göttern durch Teilhabe zu machen, wie er Gott von Natur ist“ (Weisungen 2, 27). „Gott“ ist dabei Begriff für eine Gemeinschaft, für das trinitarische Geheimnis der göttlichen Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist, die in vollendeter Liebesbeziehung zueinander das Leben göttlichen Einsseins leben.
Alles Suchen und Sehnen in diesem Leben ist Ausdruck eines Entwicklungsgeschehens auf dieses eine Ziel hin: an der Seite Gottes Gott zu sein, in freier, dialogischer Partnerschaft. Im Zustand der Vollendung wird der Mensch dem dreifaltigen Gott „zum Verwechseln ähnlich“ (Körner) werden, so zuwendungs- und liebesfähig, so wahr, so schöpferisch…- vollkommen in der Beziehung zu Gott, zu den Mitmenschen und zu allen Geschöpfen. Das ist die Zukunft, zu der hin der Mensch unterwegs ist, und von dieser Zukunft her deutet Johannes das Leben. Leben soll daher ein „Umformen in Gott hinein“ („transformación en Dios“) sein. Die Erschaffung des Menschen ist noch nicht abgeschlossen: Gott formt den Menschen nach seinem Bild und ruft ihn gleichzeitig auf, an diesem Umformungsprozess selbst mitzuwirken.
 
Der Weg
Nach Johannes vom Kreuz besteht der Sinn und Zweck aller geistlichen Übungen darin, „himmelsfähig“ zu werden, d. h. beziehungsfähig nach dem Maß Gottes, oder, in heutigen Worten ausgedrückt, Mystik und Geschwisterlichkeit bzw. Freundschaftlichkeit zu leben.
Ein Mystiker ist im Sinne des Johannes ein Mensch, der in einer existenziell-personalen Beziehung zu Gott lebt, ein Mensch, der nicht nur „Ich glaube an Gott“ sagt, sondern auch „Ich glaube dir, Gott“, - der also mit dem Gott lebt, an den er glaubt. Freundschaftlichkeit wiederum bezeichnet die ebenso persönlich-personale Beziehung zum Mitmenschen und zur ganzen Schöpfung, getragen von der Beziehung zu Gott. Mystik und Freundschaftlichkeit, Gottes- und Nächstenliebe gehören untrennbar zusammen.
Der Weg zum Ziel, zur Vollendung des Menschen im vollendeten Reich Gottes, besteht also in der Liebe. „Am Abend wirst du in der Liebe geprüft“, schreibt Johannes.  "Lerne zu lieben, wie Gott geliebt sein möchte und lass deine Eigenheiten." (Worte von Licht und Liebe 59)
 
Loslassen, um sich einzulassen
Liebe bedeutet also auch Verzicht, Loslassen, Zurücknehmen, Hergeben – Askese („negación“). Gemeint sind dabei nicht Weltverachtung oder Abtötung natürlicher Triebkräfte, - denn nicht Gott und die Welt sind Gegensätze, sondern das In-Beziehung-Sein und das Alles-an sich-Binden. Askese bezeichnet die unumgängliche Begleiterscheinung auf dem Weg in die vollendete Mystik und Geschwisterlichkeit: Um sich einzulassen, gilt es, loszulassen – Dinge, Menschen und nicht zuletzt Gott bzw. ein für meine Überzeugungen in Dienst genommener oder in Bildern und Begriffen festgelegter „Gott“.
 
Mit Gott mitwirken
Dieses mystisch-asketische Lebensprogramm des Johannes vom Kreuz ist getragen von der Botschaft des Evangeliums, von der konkreten Erfahrung, dass die Beziehung von Gott her längst besteht und das Reich Gottes, das Reich aller Beziehung, schon angebrochen ist: „Vor allem muss man wissen: Wenn die Menschenseele Gott sucht, so sucht sie ihr Geliebter noch viel dringlicher“ (Lebendige Liebesflamme 3,28).
Der Mensch erfährt die Begegnung mit Gott als „contemplación“, als ein „Einströmen“ göttlicher Wirkkräfte in den inneren Menschen hinein. Für Johannes ist Kontemplation also nicht eine Tätigkeit des Menschen, sondern ein Tun Gottes. In der Kraft der Kontemplation aber wird der Mensch zum eigenen Tun befähigt, er wird „aktiv“, indem er mit Gott liebt, glaubt, hofft, sich mit Gott Gott zuwendet und mit Gott der Welt – und sich so hineinlebt in das Reich Gottes.
 
Dunkle Nacht
Mit dem Begriff der „Dunklen Nacht“ meint Johannes nicht ein rein psychologisches Phänomen, das etwa gleichzusetzen wäre mit den von Sigmund Freud am Ende des 19. Jh. erforschten dunklen „Nachtseiten“ der Seele, die den Menschen mit Depression, Ängsten oder Schuldgefühlen konfrontieren. „Melancholie“, im 16. Jh. noch der Sammelbegriff für solche seelischen Zustände, ist nicht „Dunkle Nacht“. Das, was Johannes „Dunkle Nacht“ nennt, ist: geistliches Leben in „Trost-losigkeit“, in seelischer Trockenheit, ohne das Empfinden von göttlicher Nähe.
Der Dunklen Nacht geht eine positive religiöse Erfahrung voraus, ein Angerührtsein durch die verborgene Gegenwart Gottes, ein Aufblitzen seiner Herrlichkeit und Größe im Denken und Erkennen. Dieses „Grüßen und Rühren Gottes an die Seele“ (Aufstieg auf den Berg Karmel II 26,9) hat eine lebensverändernde und zunächst schmerzliche Wirkung, indem es alles Sichergeglaubte ins Wanken bringt. Alles, was vor solchem Erspüren wichtig war, verliert seinen Absolutheitswert und taucht allmählich ins Dunkel. Eine gewisse Wehmut zieht in den Menschen ein, eine nicht mehr aufzuhaltende Einsamkeit, die „Nacht der Sinne“ („noche oscura del sentido“).
 
Eine weitere Erfahrung, die im Glaubensleben nicht ausbleiben wird, nennt Johannes die „Dunkle Nacht des Geistes“ (noche oscura del espíritu“). Sie folgt gewöhnlich schon bald einer ersten Nachterfahrung im Sinnenbereich, kann aber auch mit ihr einhergehen.
In der Nacht des Sinnenbereiches entgleiten die Dinge, Werte, Menschen; in der Nacht des Geistes entgleitet Gott. Johannes deutet diese Erfahrung als Reaktion der geblendeten Seele auf die überhelle Gegenwart Gottes. Die „Nicht-Erfahrung“ Gottes ist daher nicht Zeichen seiner Abwesenheit, sondern seiner verstärkten Zuwendung. Was in solcher Dunkelheit als Verlassenheit interpretiert wird, ist in Wirklichkeit ein Reinigungs- und Reifungsprozess und intensive Wachstumsphase.
 
Eine „dritte Nacht“, die „der Morgendämmerung (gleicht), die dem Tageslicht unmittelbar vorausgeht“, hat Johannes nicht ausdrücklich beschrieben. Sie ist jedoch Thema aller seiner Schriften, denn sie ist die Frucht der vorangegangenen dunklen Nächte im Sinnenbereich und Geist. Eine neue, alles bisherige übersteigende Weite für Gott, seine Wahrheiten, seine Schöpfung, eröffnet sich der Seele und taucht alles, was der Mensch relativiert und wovon er sich gelöst hat, in ein neues Licht. Alle „erdrückenden Läuterungen“, so schreibt Johannes, habe der Mensch erleiden müssen, damit er „wiedergeboren (werde) zum Leben im Geist“.
 
Dennoch ist auch das Leben mit Gott in dieser neu gewonnenen Tiefe eine Nachterfahrung. Es ist die „Nacht, die Gott ist“ (Aufstieg auf den Berg Karmel I 2,5). Der Mystiker lebt in der Beziehung zum verborgenen Gott. Auch eine noch so intensive mystische Erfahrung bleibt eine dunkle Erkenntnis; eine „echte“ Gotteserfahrung bleibt der Ewigkeit vorbehalten. Erst der Tag, der dem Weg durch die Morgendämmerung folgt, sagt Johannes vom Kreuz, „ist Gott in der Seligkeit“.
 
(Margit Krismer)
 
¹ Dunkle Nacht, Str. 1, in: R. Körner, Dunkle Nacht, Münsterschwarzach 2006, S. 12
² ebd. S. 21
 
 
Quellenangabe:
Johannes vom Kreuz: Die Dunkle Nacht, hg. und übers. von U. Dobhan, E. Hense und E. Peeters, mit einer Einleitung von U. Dobhan und R. Körner; Freiburg/Br. 1995
Körner, Reinhard: Johannes vom Kreuz. Gestalt – Begegnung – Gebet; Freiburg-Basel-Wien 1993
Körner, Reinhard: Dunkle Nacht. Mystische Glaubenserfahrung nach Johannes vom Kreuz; Münsterschwarzach 2006