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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Theorie und Praxis des "postdramatischen Theaters"

Ohne Bühne, Rolle und Kulisse

Von Barbara Freitag

Ein gelungener Abend. Es hat mir gut gefallen.

"Es war sehr spannend und gut gespielt."

"Hat das Stück eine Botschaft gehabt? Worum ging es eigentlich?"

"Das Ganze war so langweilig, da war kein Höhepunkt."

Diese Aussprüche kennen wir. So und ähnlich lauten im Allgemeinen Kommentare, die Besucher von Theateraufführungen abzugeben pflegen. Der durchschnittliche Betrachter trifft in seinem Urteil keine wesentlichen Unterscheidungen zwischen konventionellen Genres wie Sprechtheater, Oper oder Tanz. Es beeinflusst seine Kritik auch nicht, ob das Gesehene eine Stadttheaterproduktion war, oder ob er einer avantgardistischen Improvisation der freien Szene beiwohnte. Gerade noch gesteht unser Theaterfreund Schwankungen im vagen Bereich der Qualität zu - die weniger finanziell ausgestatteten "Kleinen" können halt nicht so professionell arbeiten wie die "Großen". Und die Jungen machen sowieso sonderbare Sachen.

Dabei würde schon eine gewisse Kenntnis der Entwicklungen am Theater dem trotz aller Wirrnisse Interessierten sehr helfen, das Gesehene besser begreifen zu können - im Guten wie im Schlechten. Hand in Hand mit dieser Kenntnis ginge dann eine andere Terminologie, ein anderes Vokabular, das einer veränderten Theatersprache entsprechen würde. Vielleicht sind Begriffe wie spannend oder dramatisch einfach nicht mehr brauchbar für andere Theaterformen.

Eine entsprechend kompakte Untersuchung zu diesem Thema fehlte die längste Zeit - jetzt gibt es sie: der Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann hat sie unter dem kurzen und programmatischen Titel "Postdramatisches Theater" verfasst. Theater bedeutet eben längst nicht mehr nur die Aufführung eines Stückes. In Europa jedenfalls bestand es jahrhundertelang aus der Vergegenwärtigung von Reden und Taten auf der Bühne. Das Ziel war es, eine Illusion von Wirklichkeit herzustellen, die je nach historischer Situation amüsierend oder belehrend wirken sollte.

Lehmann glaubt keineswegs, dass die Kategorie Drama obsolet sei - selbstverständlich werden weiterhin jede Menge Theaterstücke auf konventionellen Bühnen aufgeführt werden. Bestehende Häuser wollen gefüllt werden, Verlage ihre Texte verkaufen, Theaterschaffende beschäftigt werden. Das ist der kommerzielle Bereich des Theaters. Dort aber, wo Leute sich Gedanken machen über Theater in einer sich ständig verändernden Zeit, gibt es merkbare Abweichungen vom Tradierten. In gewisser Weise geht es den postdramatischen Projekten sogar um eine Retheatralisierung, eben auf Kosten des Dramas. Denn dieses ist ja seiner Entstehungsgeschichte nach in der Antike angesiedelt, die ganz andere gesellschaftliche Bedingungen vorfand. Die Bewohner Athens um 450 v. Chr. hatten eine völlig andere Haltung zu ihrem Theater. Das heutige Theater ist keine Institution zur Selbstverständigung der Polis mehr. Es ist auch kein aufklärerisch motiiertes Nationaltheater wie im 18. Jahrhundert. Es ist nicht einmal mehr ein klassenspezifisches Propagandainstrument wie am Beginn des 20. Jahrhunderts. Vieles von dem, was Theater vergangener Zeiten für die Menschen erfüllen konnte, haben heute andere Medien übernommen.

Kunst des Sozialen

In zeitgenössischen avancierten Arbeiten geht es daher um anderes: um Selbstreflexion des Mediums, um Versuche, was Theater noch leisten kann - und das muss trotz aller Krisen eine Menge sein. Denn es gibt ein bestehendes indifferentes Interesse. Menschen scheinen immer noch etwas im Theater zu suchen, was sie woanders nicht haben können. Immerhin ist es seiner Praxis nach die Kunst des Sozialen schlechthin, mehr als in anderen Kunstformen findet eine "gemeinsam verbrauchte Lebenszeit in der gemeinsam geatmeten Luft jenes Raums, in dem das Theaterspielen und das Zuschauen vor sich gehen", statt.

Lehmann will explizit keine Theorie zum neuen Theater anbieten, er will auch keine vollständige Inventarisierung der letzten 30 Jahre vornehmen. Sein Versuch besteht darin, eine ästhetische Logik des neuen Theaters zu entfalten. Er skizziert zunächst das historische Verhältnis des Dramas zum Theater. In einem weiteren Abriss bietet er ein Panorama des postdramatischen Theaters, und erklärt Begriffe wie Körperlichkeit, Kinematographisches Theater oder Cool Fun. Erläutert werden auch Themen wie Performance, Text, Raum oder Zeit. Dann listet Lehmanns eine Reihe prominenter "Postdramatiker" auf.

Nicht alles freilich, was so bekannte Leute wie Robert Wilson, Jan Fabre, Robert Lepage, Frank Castorf, La Fura dels Baus, die Wiener Aktionisten oder Klaus Michael Grüber machen, ist immer und in jeder Arbeit postdramatisch. Aber sie alle verbindet, dass die klassische Stückdramaturgie in den genannten Beispielen nicht mehr vorkommt.

Unter der Vielzahl von Theatergruppen, Autoren und Regisseuren findet in Lehmanns Auflistung auch eine österreichische Gruppe ihren Niederschlag: "TheaterAngelusNovus". In dieser Form besteht das Kollektiv längst nicht mehr; allerdings arbeitet der einstige Leiter Josef Szeiler zwischenzeitlich mit dem "theatercombinat" (Leitung: Claudia Bosse) an einem neuen Projekt in Wien. Derzeit scheint es die ambitionierteste Arbeit in dieser Stadt zu sein, jedenfalls was den Anspruch eines postdramatischen Theaters betrifft.

Die denkmalgeschützte Rinderhalle des gigantischen ehemaligen Schlachthofgeländes St. Marx in Wien-Erdberg ist der zentrale Aktionsraum der Gruppe. Bereits 1996 hatte hier das "Stadt Theater Wien" an seiner "KohlhaasMaschine" gearbeitet; damals wurden noch 80.000 Tiere jährlich in der Schlachtzeile zu Fleisch verarbeitet.

Heute ist das Areal eine gespenstisch anmutende Kulisse für gelegentliche Clubbings. Die alte Rinderhalle, ein Baujuwel der Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts, soll noch in diesem Jahr abgetragen werden. Bis dahin belebt die Theaterarbeit das 50.000 m² riesige Gelände, das unmittelbar an der Südosttangente liegt. So hört man auf dem verwaisten Platz nur mehr Autos, die dem "theatercombinat" als Geräuschkulisse dienen. Das ist eine der Voraussetzungen für postdramatisches Theater - die Realität ist immer als "Störung" vorhanden. Illusionserzeugung im klassischen Sinn ist a priori unmöglich. Eine weitere Voraussetzung ist der Umgang mit der Bausubstanz. Es gibt keine Eingriffe in den vorhandenen Raum, keine Bühnenkonstruktionen, keinen Zuschauerraum. Das, was da ist, wird verwendet. Der Raum ist Material. Die Akteure müssen sich dem Raum anpassen, und nicht umgekehrt.

Massaker im Schlachthof

Dem Projekt "MassakerMykene" liegen zwei große Textblöcke zu Grunde: Die "Orestie" von Aischylos und das "Fatzer-Fragment" von Bertolt Brecht. Die Spieler haben keine einzelnen Rollen zugeteilt, sondern beherrschen den gesamten Text auswendig. Je nach Spielanordnung wird mit immer anderen Ausschnitten improvisiert. Wie schon erwähnt, gibt es weder Bühne noch Rollenspiele. Das einzig bekannte Theaterzeichen scheint die Kostümierung der Spieler zu sein - Arbeitskleidung (Jacken wie die Müllabfuhr, Hosen wie Schlosser usw.). Text, Körper und Raum bilden eine theatrale Einheit, wenngleich jede Theatralik vermieden wird. Gerade durch diese reduzierte Situation scheint immer wieder eine besondere Konzentration zu entstehen.

Das zentrale Arbeitsmittel der Gruppe ist die "chorische Improvisation". Der Chor ist in dieser Theaterstruktur eine Kommunikationsform. Das Instrumentarium für diese Art der Improvisation ist eine Sprach- und Körperarbeit, wobei nicht im herkömmlichen Sinn "gespielt" wird. Das Ganze wirkt eher stilisiert. Die Körper und Gesten der Spieler bilden eine Art Raumkörper. Distanz und Nähe sind in einem derartigen Gelände maßgebliche Faktoren, die sich auf das gesamte Bild auswirken.

Jeder Interessierte ist frei, zu kommen und zu gehen, wann es ihm beliebt. Diese im regulären Theaterbetrieb unbekannte Freiheit ist oft Anlass für Ratlosigkeit und Unverständnis. Ein offener Raum ohne gesonderte Bereiche für Zuschauer und Akteure bedeutet grundsätzlich, dass jeder Anwesende eine gewisse Verantwortung für sein Verhalten trägt. Jede Bewegung, jedes Geräusch des Zuschauers wird von ihm und möglicherweise allen anderen Anwesenden ganz anders wahrgenommen als am konventionellen Theater - nämlich als zur Situation gehörig. In diesem Sinn ist jeder Mitspieler. Lehmann spricht vom Theater des geteilten Raumes: ". . . er wird von Spielern und Besuchern gleichermaßen erfahren, genutzt und in diesem Sinne von allen geteilt. Durch die fühlbare Konzentration entsteht ein ritueller Raum ohne Ritus".

Alle drei Wochen finden angekündigte Veröffentlichungen statt. Die Art und Dauer des Ablaufes sind ungewiss; im Sinne der Arbeitsweise liegt der Verlauf auch immer an den Zuschauern. Dieser extreme Umgang mit Zeit ist auch eine der Methoden im postdramatischen Theater. Insgesamt kann man bei einer solchen Arbeit nicht mehr wirklich von einer Theateraufführung mit vorangehenden Proben im herkömmlichen Sinn sprechen. Wenn man mehr als einmal bei den Proben zu Gast war, wird auch klar, dass mehrere Besuche unerlässlich sind, wenn man diesen Prozess sinnhaft miterleben möchte. Veränderte Jahreszeiten, andere Abläufe, andere Texte runden sich nur über die Dauer zu einem Ganzen.

Theater wie Fußball

Sportbegeisterte Spieler des "theatercombinats" lieben den Vergleich ihrer Arbeit mit dem Fußball. Auch dort werden im Training Grundzüge herausgearbeitet, an denen man sich orientiert, und die im Spiel natürlich nicht ident ablaufen. Man probiert auch festgelegte Spielzüge, wie zum Beispiel einstudierte Freistöße. Trotz höchster Präzision im Training gelingt im Match dann vielleicht eine von zehn Aktionen.

Wie im Fußball müssen die Mitspieler sämtliche Variationen kennen, um schnell reagieren zu können. Im Unterschied zum Sport sind die Spielzüge und Regeln dem Publikum natürlich nicht von Anfang an bekannt. So kann sich ein Wiedererkennungseffekt im Sinne von Einverständnis oder Ablehnung des Gesehenen erst über die Dauer der Beobachtung herstellen. Aber Fußball lernt und versteht trotz simpler Regeln auch nicht sofort ein jeder - etwa die Sache mit dem Abseits . . .

Filmemacher und Nouvelle Vague-Ikone Jean Luc Godard pflegte in den Siebzigern zu sagen, er mache keine politischen Filme, sondern lieber den Film politisch. Auch wenn die aktuelle Relevanz solcher Arbeiten wie jener des "theatercombinats" sich nicht auf den ersten Blick erschließt, so sind sie doch in jedem Fall politischer als Inszenierungen, die sich vordergründig brisanter Themen annehmen. Ebenso meint Hans-Thies Lehmann, dass der lohnende Einsatz des Theaters nicht in der narrativen Abhandlung tagespolitischer Themen läge, sondern in der Arbeit an den Wahrnehmungsformen der Menschen. Eine lohnende Aufgabe.

Hans-Thies Lehmann: Das postdramatische Theater. Verlag der Autoren 1999.

"MassakerMykene" läuft bis Herbst 2000. Jeden dritten Sonntag finden öffentliche Proben am Gelände des ehemaligen Schlachthofes in Wien, St. Marx statt - die nächste am 30. April.

Nähere Auskünfte unter Tel.: 913 94 83 oder http://go.to/massakermykene

Freitag, 28. April 2000 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 15:58:00

Lexikon



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