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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Vor 125 Jahren starb Urbain Le Verrier, der Entdecker des Neptun

Pariser Himmelsmechaniker

Von Christian Pinter

Er ist der Einzige, der je einen Planeten unseres Sonnensystems am Schreibtisch entdeckt hat: Urbain Le Verrier, der brillante Himmelsmechaniker. Geboren wird er am 11. März 1811 in St. Lo in der Normandie. Seine außerordentliche Begabung für Mathematik fällt früh auf. Der Vater, ein mittlerer Beamter, verkauft das Haus, um Urbains Studium in Paris zu finanzieren. An der Ecole Polytechnique trifft Le Verrier auf den berühmten Chemiker Louis Gay-Lussac. 1837 heiratet Urbain und erhält auf Gay-Lussacs Empfehlung den frei gewordenen Posten eines Hochschuldozenten für Astronomie.

Le Verriers Metier ist die Himmelsmechanik. Sie berechnet die Bewegungen der Planeten mit großer Exaktheit. Entsprechend der Newton'schen Gravitationstheorie bestimmt nicht nur die Anziehungskraft der Sonne ihre Bahnen. Da Planeten selbst Masse besitzen, üben sie auch untereinander Schwerkraft aus. Sie stören einander im Lauf. Will man möglichst präzise Resultate, muss man das berücksichtigen. Der Rechenaufwand steigt gigantisch.

Urbain bereitet das Auflösen komplizierter Gleichungen Freude. So analysiert er den Planetenlauf über Hunderttausende Jahre hinweg und belegt, dass das Sonnensystem trotz der Störungen langfristig stabil bleibt. Dann lenkt François Arago, Direktor der Pariser Sternwarte, Le Verriers Aufmerksamkeit auf den fernsten bekannten Planeten. Er hält sich scheinbar nicht ganz an die Gravitationstheorie.

Der Uranus

Völlig unerwartet hat William Herschel 1781 in England beim Blick durch sein Teleskop einen siebenten Planeten entdeckt. Zu Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter und Saturn gesellt sich nun Uranus. Benannt ist er nach dem griechischen Himmelsgott Uranos, der als Vater des Kronos (in römischer Entsprechung: Saturn) und Großvater des Zeus (römisch: Jupiter) gilt.

Schon Jahrzehnte vor Herschel hatten Fernrohrbenützer Uranus gesehen, ihn jedoch für einen der vielen schwachen Fixsterne gehalten. Seltsamerweise passen die alten und neuen Beobachtungen nicht gut zusammen. Irgendetwas scheint Uranus' Geschwindigkeit beeinflusst zu haben. Es gibt verschiedenste Überlegungen; unter anderem denkt man an einen gewaltigen Kometeneinschlag. Vielleicht gilt aber auch das Gravitationsgesetz in derart ferner Sonnendistanz nicht mehr ganz so, wie es Newton 1687 formuliert hat.

Le Verrier glaubt das nicht. Er ist überzeugt, dass Uranus von einem weiteren, bisher unentdeckten Objekt beeinflusst wird. In mühevoller Rechenarbeit versucht er, aus den Abweichungen der Uranusbewegung auf Orbit und aktuellen Aufenthaltsort des Störenfrieds zu schließen. 1846 legt er die Resultate der französischen Akademie der Wissenschaften vor. Damit, so gibt sich der selbstsichere Franzose überzeugt, sei das Uranus-Problem "hervorragend" gelöst.

Urbains Berechnungen umfassen schließlich 10.000 Seiten. Sein "Transuranus" muss aber erst gefunden werden. Bei sehr hoher Teleskopvergrößerung sollte ihn sein winziges Scheibchen von den Fixsternen unterscheiden und verraten. Doch Le Verriers Welt bildet den vermeintlichen Außenposten des Sonnensystems. Angesichts seiner gewaltigen Erddistanz wird das Scheibchen extrem klein ausfallen. Das erschwert die Suche. Bleibt die Bewegung: Ein Planet muss seine Position zwischen den Fixsternen ein wenig verändern, wenn man ihn im Abstand von einigen Tagen anvisiert. Doch die Fixsternwelt ist ungenügend kartiert. Es gibt Anfang 1846 keine Himmelsatlanten, die alle Sterne bis zur vermuteten Helligkeit des Transuranus zeigen.

Die systematische Fahndung ist somit kompliziert. Zunächst wären alle Sterne in der Nähe des errechneten Planetenorts zu erfassen. Später müsste man den Vorgang wiederholen und die einzelnen Positionen vergleichen. Jenes Gestirn, das seinen Ort entsprechend verändert hat, wäre der gesuchte Planet. Doch niemand weiß, wie genau Le Verriers Vorhersage ist und wie lichtschwach sein Gestirn. Eventuell bliebe ein ganzes Sternbild abzusuchen, Tausende Sterne zu vermessen. Und das könnte mehr als ein halbes Jahr dauern.

Kein Sternwartedirektor will seine Forschungsarbeiten für das aufwändige Suchprojekt, dessen Erfolg zudem fraglich scheint, unterbrechen. Auch nicht George Airy in Greenwich oder Arago in Paris. Schließlich wendet sich Urbain brieflich an einen deutschen Astronomen. Johann Gottfried Galle hat ihm vor einem Jahr seine Dissertation zugesandt. Nun endlich dankt ihm Le Verrier, lobt Galles Arbeit und bittet den "unermüdlichen Beobachter" dann, "einige Augenblicke" der Durchforschung einer bestimmten Himmelsregion zu widmen. Le Verrier hofft wohl, Galle würde mit dem leistungsfähigen Teleskop der Berliner Sternwarte das Planetenscheibchen sofort erkennen können.

Der Brief trifft am 23. September 1846 in Berlin ein. Galle fühlt sich geehrt und verpflichtet, Le Verriers Wunsch nachzukommen. Sternwartedirektor Johann Encke feiert an diesem Abend seinen 55. Geburtstag und überlässt Galle das Hauptinstrument: ein hervorragendes, 23 cm durchmessendes Linsenfernrohr aus der Werkstatt des bayerischen Optikers Joseph Fraunhofer.

Wie in einem Taubenhaus

Astronomiestudent Heinrich d'Arrest ist von Galles Planetensuche begeistert und hat eine großartige Idee: Gerade ist der mehrbändige, wohl äußerst zuverlässige Sternatlas der Berliner Akademie in Druck. Vielleicht liegt das Blatt mit der fraglichen Himmelsregion bereits vor. Damit hätte man eine ausgezeichnete Referenz; die halbe Arbeit wäre gleichsam schon erledigt. Tatsächlich findet sich ausgerechnet dieses Kartenblatt auf der Sternwarte.

Man richtet das ausladende Teleskop auf den prognostizierten Himmelsort im Grenzgebiet zwischen Steinbock und Wassermann. Galle sitzt am Okular und gibt die Positionen der einzelnen Sterne durch. D'Arrest vergleicht diese mit dem Atlas. Bald ruft er aus: "Dieser Stern ist nicht auf der Karte!" Aufgeregt holt man Direktor Encke. Er ist sich nicht sicher, ob er ein winziges Scheibchen erkennen kann oder nicht. Mit Spannung warten die Astronomen auf den nächsten Abend, um zu sehen, ob sich das Objekt ein klein wenig weiterbewegt hat. Tatsächlich! Le Verriers Planet existiert. Zahlreiche Besucher pilgern nun auf die Sternwarte. Dort geht es, klagt Encke, bald zu "wie in einem Taubenhaus". Urbain ist überglücklich. Die Erfolgsmeldung aus Berlin ist ein Triumph für ihn, für die Himmelsmechanik, für die Gravitationstheorie. Hunderte Menschen strömen zur nächsten Sitzung der Akademie, um den 35-jährigen Franzosen zu sehen. Doch plötzlich große Aufregung: Die Engländer wollen den Planeten schon zuvor entdeckt haben.

In Cambridge hatte Mathematiker John Adams ebenfalls den Orbit des Transuranus kalkuliert. Er stieß damit zunächst aber nur auf Zweifel. Erst spät nahm Airy in Greenwich Adams' Rechnung ernst. Er delegierte die mühsame Suche an die Sternwarte Cambridge. Deren Direktor, James Challis, begann Ende Juli 1846 mit einer äußerst großflächig angelegten Himmelsdurchmusterung. Sie sollte geschätzte 300 Beobachtungsstunden erfordern und sich somit bis ins Folgejahr hinziehen. Leider verglich Challis die Positionen der erfassten Sterne nicht sofort. So sah er das fragliche Objekt bereits am 12. August, sechs Wochen vor Galle - die verräterische Bewegung entging ihm jedoch.

Versuchter Planetendiebstahl

John Herschel, Sohn des einstigen Uranus-Entdeckers William, macht auf die englischen Bemühungen aufmerksam. In Folge gerät der achte Planet zur nationalen Frage. Die Geschichte seiner Auffindung sichere nur Frankreich "Dankbarkeit und Bewunderung", betont Arago. Adams hätte kein Recht, darin erwähnt zu werden. Eine Pariser Zeitung spricht von versuchtem "Planetendiebstahl".

Um den französischen Anspruch noch zu unterstreichen, verwendet Arago den Namen "Planet Le Verrier". Dafür sollen die Engländer "ihren" Uranus nachträglich in "Planet Herschel" umtaufen. Zum Glück einigt man sich letztlich auf den neutralen, mythologischen Neptun. Er erinnert an den römischen Wassergott Neptunus, Entsprechung des griechischen Meeresgottes Poseidon. Übrigens finden sich später auch hier noch viel ältere Beobachtungen, bei denen Neptun mit einem Stern verwechselt wurde. Die erste stammt von Galileo Galilei aus dem Jahr 1612.

Airy und Challis ernten herbe Kritik. Die anderen Beteiligten werden später selbst Sternwartedirektoren. Galle übernimmt 1851 das Observatorium in Breslau und d'Arrest 1858 jenes in Kopenhagen. Adams folgt Challis 1861 als Leiter der Sternwarte Cambridge nach. Le Verrier wird mit Auszeichnungen überhäuft. Die Universität Paris richtet ihm einen Lehrstuhl für Himmelsmechanik ein. Er wird Offizier der Ehrenlegion, Mitglied der Nationalversammlung und dann Senator. Nach Aragos Tod ernennt man ihn 1854 zum Leiter der Pariser Sternwarte - auf Lebenszeit.

Le Verrier modernisiert das Observatorium, schafft neue Instrumente an. Außerdem gibt er Tafeln zur Bewegung der Planeten heraus. Die triumphale Entdeckung des Neptun lenkt den Blick zudem auf Merkur, den innersten Planeten. Auch er ist ein Problemfall für die Himmelsmechaniker. Jene Linie, die den sonnennächsten und -fernsten Punkt seiner Bahnellipse verbindet, dreht sich ganz langsam im Raum. Das lässt sich durch Störungen der anderen Planeten nicht völlig erklären.

Wo befindet sich Vulkan?

Natürlich wittert Le Verrier in Merkurs Nachbarschaft ebenfalls einen Störenfried, sagt abermals die Existenz eines unbekannten Planeten voraus. Diesmal tauft man ihn noch vor der Entdeckung. Vulcanus ist ein Feuer- und Blitzgott, den die Römer früh mit dem griechischen Hephaistos, einem kunstfertigen, schmiedenden Gott, gleichsetzten. Der Name "Vulkan" eignet sich prächtig für eine Welt, die enger als alle anderen um die heiße Sonne kreisen soll.

Doch genau diese Sonnennähe macht es unmöglich, einfach am Firmament nach Vulkan zu suchen. Man hält vor allem bei totalen Sonnenfinsternissen Ausschau. Über einer schmalen Zone der Erde wird der Taghimmel dabei kurzzeitig dunkel. Helle Sterne treten hervor. Solche Momente sind flüchtig und kostbar. Nicht alle Astronomen sind gewillt, sie für die Suche nach Le Verriers hypothetischem Planeten zu opfern. Erfolge bleiben aus.

Direktor Le Verrier ist um besonders effizientes Arbeiten bemüht. Zeitgenossen empfinden ihn jedoch als hochmütig, autoritär und grob. Die anderen Astronomen der Pariser Sternwarte gelten ihm bloß als Hilfskräfte. Selbst bei gelungenen Entdeckungen braucht ihr Name nicht erwähnt zu werden, entscheidet er. Bei kleinen Pflichtverletzungen droht Entlassung. Schließlich befasst sich auch die Presse mit seinem Führungsstil und der gespannten Lage am nationalen Observatorium. 1870 kündigen 14 Mitarbeiter gleichzeitig.

Die Regierung setzt Le Verrier ab. Als sein Nachfolger verunglückt, holt man ihn wieder zurück - diesmal jedoch mit eingeschränkten Kompetenzen. Der 66-Jährige ist geschwächt und krank. Am 23. September 1877 sind genau 31 Jahre seit dem Fund des Neptun verstrichen. An diesem Tag schließt Le Verrier zum letzten Mal die Augen.

1889 errichtet man jene Statue vor dem Pariser Observatorium, die noch heute an den Himmelsmechaniker erinnert. Exakt 100 Jahre nach ihrer Enthüllung schießt die NASA-Sonde Voyager 2 an Le Verriers ferner Welt vorbei. Seit seiner Entdeckung hat Neptun noch nicht einmal einen kompletten Sonnenumlauf absolviert. Er gilt auch nicht mehr als letzter Außenposten des Planetensystems: 1930 stöberte man in noch größerer durchschnittlicher Sonnendistanz den kleinen Pluto auf.

An der Existenz des Vulkan hielt Urbain bis zum Tode fest. 1915 entlarvte Albert Einstein das Merkur-Problem jedoch als relativistischen Effekt. Le Verriers hypothetischer, sonnennächster Planet braucht seitdem nicht mehr gesucht zu werden. Er ist für die Himmelsmechanik überflüssig geworden.

Freitag, 20. September 2002 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:18:00

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