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26.03.2010

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Rückschau: Frankreich

Burka oder Baskenmütze? Ein Land auf Identitätssuche

Sendeanstalt und Sendedatum: BR, Sonntag, 14. Februar 2010

Perfekte Franzosen

Kenza Drider und ihr Mannlupe Bildunterschrift: Kenza Drider und ihr Mann ]
Das sind Franzosen wie aus dem Bilderbuch. Die gefallen dem Präsidenten – denn für ihn verkörpern sie die französische Nation perfekt.

Diese Französin dürfte dem Präsidenten wohl weniger gefallen. Kenza ist 30 Jahre alt und trägt den so genannten Niqab. Einen Vollschleier, der im Gegensatz zur Burka die Augen frei lässt. Kenza verhüllt sich immer dann, wenn Fremde in ihrer Nähe sind – so wie zum Beispiel ein Fernsehteam. Normalerweise ist sie in ihrer Wohnung nicht verschleiert. Kenza ist in Frankreich geboren, aber hat marokkanische Wurzeln. Sie sagt, dass sie den Niqab freiwillig trägt, und das seit zehn Jahren, seitdem sie verheiratet ist.

Kenzas Mann:
„Früher, da habe ich ihr immer schöne Kleider gekauft – weil sie da nicht so viel Wert drauf gelegt hat. Und eines Tages kam sie aus dem Laden raus und hatte einen Ganzkörperschleier an. Da habe ich gesagt: ‚So willst du jetzt rumlaufen?’ Und sie sagte: ‚Ja.’ ‚Na gut’, hab ich gesagt, und seitdem trägt sie ihn.“

Kenza Drider:
„Mein Vorbild im Islam ist die erste Frau des Propheten. Sie war selbständig, trieb Handel und durfte frei ihre Meinung sagen. Die Frauen hatten damals einen hohen Rang. Das hat mich sehr beeindruckt, auch als ich gelesen habe, dass sie sich so kleiden.“

Kenza vertritt damit eine Minderheitenmeinung im Islam, die der so genannten Salafisten. Die Mehrheit der Muslime glaubt nicht, dass der Koran den Frauen vorschreibt, ihr Gesicht zu verhüllen.

Nicolas Sarkozy geht noch einen Schritt weiter: Er will den Ganzkörperschleier per Gesetz verbieten lassen – was er schon im vergangenen Sommer feierlich vor den Parlamentariern erklärt hat:
„Es ist unerträglich, dass in unserem Land Frauen in einem Gefängnis aus Stoff leben, ohne eigene Identität und ohne sozialen Kontakt. Das passt nicht zu Frankreichs Bild von der Würde der Frau.“

Verschleiert und selbstbewusst

Kenza mit ihren Kindern auf der Straßelupe Bildunterschrift: Kenza mit ihren Kindern auf der Straße ]
Ein solches Gesetz könnte in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Bibliotheken oder Krankenhäusern gelten – das wäre kein Problem für Kenza. An diesen Orten würde die Hausfrau und Mutter von vier Kindern ihren Schleier dann lüften. Anders wäre es allerdings, wenn der Niqab auch auf der Straße verboten würde:

Kenza Drider:
„Egal, was passiert, ich werde voll verschleiert bleiben.“

„Warum?“

„Weil es mein gutes Recht ist, meine Religion auszuüben und mich frei zu bewegen – solange ich keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle. Ich sehe nicht ein, warum ich mich einem solchen Gesetz beugen sollte, das ich für lächerlich halte.“

Ein Gesetz gegen die Freiheitsrechte

Edwy Plenellupe Bildunterschrift: Edwy Plenel ]
Wie viele Frauen überhaupt betroffen wären, ist unklar. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 2.000 in Frankreich den Ganzkörperschleier tragen. Kritiker halten ein Gesetz deshalb für unverhältnismäßig – so auch die Journalisten der unabhängigen Internetzeitung Mediapart.

Edwy Plenel, Journalist und Chefredakteur Mediapart:
„Man kann nicht per Gesetz vorschreiben, wie man sich zu kleiden hat. Das verstößt gegen die Freiheitsrechte und ist verfassungswidrig. Der Präsident will damit nur von den echten Problemen ablenken, wie die Wirtschaftskrise oder die Arbeitslosigkeit. Das gilt für den Ganzkörperschleier genauso wie für die Debatte über die nationale Identität.“

Die nationale Identität – darüber will dieser Minister mit den Franzosen diskutieren. Eric Besson ist im Auftrag des Präsidenten unterwegs und soll die Frage klären, was es heißt, heutzutage Franzose zu sein. Während der vergangenen drei Monate hat der Minister 350 solcher Treffen organisiert; wie immer spricht er über die Geschichte Frankreich und die Werte der Republik – und wie immer schlagen die Teilnehmer im Laufe des Abends ausländerfeindliche Töne an.

Ein alter Mann:
„Unsere französische Identität wird von außen bedroht – von einer Bevölkerung oder einer Ideologie, die sich Islam nennt.“

Ungute Töne über den Islam

Ein Mann bei einer Identitätsdebattelupe Bildunterschrift: ]
Ein Mann in der ersten Reihe:
„Die Kommunen finanzieren indirekt den Bau von Moscheen. Das kann doch nicht sein!“

Dieser Franzose mit algerischen Wurzeln verteidigt sogar die Ideen des rechtsextremen Front National:
„Die französische Staatsangehörigkeit erbt man oder man muss sie sich verdienen.“

Ob das Kalkül des Ministers aufgeht? Er will die Stimmen am rechten Rand einsammeln, für die kommenden Wahlen. Mit dem, was jetzt passiert, hat er nicht gerechnet:

Ein Mann sagt:
„Diese Diskussion löst bei mir einen Brechreiz aus…“

Tatsächlich haben drei Aktivisten bis zum Ende ausgeharrt. Dass die Debatte sie anwidert, stellen sie drastisch dar. Die Gruppe ruft: „Unsere Identitäten sind nicht national!“

„Das sind Linksextreme“ antwortet der Franzose mit den algerischen Wurzeln – und greift hart durch. Zum Schluss singt er noch die Marseillaise…

Edwy Plenel, Journalist:
„Diese Debatte ist nicht entgleist – es war von Anfang an klar, dass es nur darum ging, den Islam zum Sündenbock zu machen. Der Präsident hat die Muslime immer wieder undifferenziert dargestellt und dadurch mit Extremisten gleichgesetzt. Sie erscheinen damit als Problem unserer Gesellschaft – dabei sind sie ganz einfach ein Teil unserer Geschichte…“

Notbremse die Identitätsdebatte

Premierminister François Fillon und Minister Eric Bessonlupe Bildunterschrift: Premierminister François Fillon und Minister Eric Besson ]
Frankreich ist seit jeher ein Einwanderungsland, mit seinen ehemaligen Kolonien und engen Verbindungen nach Afrika. Sechs Millionen Muslime leben hier – soviel wie in keinem anderen europäischen Staat. Auch deshalb hat die Debatte über die nationale Identität die Franzosen nicht überzeugt: 53 Prozent halten sie laut Umfragen für ein Wahlkampfmanöver.

Deshalb ist der Präsident auch nicht anwesend, als die mageren Erkenntnisse der Diskussionen präsentiert werden. Der Premierminister verkündet ein paar Maßnahmen und erklärt, dass die Debatte von nun an durch eine Kommission aus besonderen Persönlichkeiten fortgeschrieben werden soll.

François Fillon, Premierminister:
„Wir wollen den Stolz stärken, Franzose zu sein. Dieser Stolz wird dadurch genährt, dass wir unsere gemeinsamen Werte besser kennen und die Symbole der Republik respektieren.“

Zu diesem Zweck soll auch die Marseillaise einmal pro Jahr in jeder Schule gesungen werden. Das ist ganz im Sinne des Präsidenten – der sich erst im April wieder zur nationalen Identität und zum Ganzkörperschleier äußern will. Nach den Regionalwahlen…

Autorin: Ellen Ehni / ARD Paris

 

Dieser Text informiert über den Fernsehbeitrag vom 14.02.2010. Eventuelle spätere Veränderungen des Sachverhaltes sind nicht berücksichtigt.

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