Hanns-Johann Ehlen
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22.08.1999 / 27.12.2000 / 21.07.2006

Neue Funde zur Geschichte des Wortes "aufgeklärt"

Erstveröffentlichung im Internet (c) Kiel, den 06.08.1999
von Hanns - Johann Ehlen e-mail: hannes.ehlen@t-online.de

Inhalt:
Die erste Erwähnung des Wortes "aufgeklärt"
Materialien zum Verständnis des Naturrechts
Nähere Erklärung von Aufklärung und Pietismus
Der radikale Pietismus
Johann Christian Edelmann
Neuere wissenschaftliche Bearbeitung

siehe auch:
Das Natürliche Licht des Verstandes, von Michael Berns, 1711

 

Die erste Erwähnung des Wortes "aufgeklärt" in der deutschen Sprache findet sich in einer nur 78 Seiten umfassenden Streitschrift, die 1704 in Leipzig gedruckt wurde und dem Kirchenkritiker Johann Konrad Dippel (1673 - 1734) zugeschrieben wird.

Interessanter als der barock ausgebreitete Inhalt der Schrift ist ein Zitat in der Schlußbemerkung des damals 31-jährigen Theologen und späteren Chemikers (Mit-Erfinder des Berliner Blau) und Arztes.

Der unten wiedergegeben Text verwendet das Adjektiv "aufgeklärt" zeitlich vor den bisher als "Erfindern" geltenden Barthold Hinrich Brockes oder Gottsched (1700-766). Die gleichzeitige Nennung von "aufgeklärt" und "erleuchtet" ist der Versuch der Übersetzung des engl. "enlightment", ital. "illuminismo", éclairer (Leibniz 1646-1716)) und gibt ein Leitthema des 18. Jahrhunderts schon an seinem Beginn vor. Der Begriff entstammt somit der deutschen Rezeption der Naturrechtsdebatte um 1700. Der Wandsbeker Pastor Michael Berns zitiert den u.g. Absatz 1711 im Vorwort zu seinem Traktat: Licht des Verstandes.

§ 68 Zum Beschluß könnte man fragen / was doch wohl das Absehen der bisher widerlegten / und anderer dergleichen Schriften sey? Es wolte mir iemand versichern / daß hierunter eine besondere Staats-Maxime stäcke:

Es suchten nemlich die aufgeklärte und erleuchtete Gemüther / durch die Bibel das Recht der Natur zu verjagen / und wenn ihnen den dieser Schein-heilige Anschlag gelungen wäre/ so würden sie sich bemühen / die Bibel / durch ihre Erleuchtungen ebenmäßig zu vertreiben / damit sie / wenn solche Mittel denen Menschen aus den Händen gedrehet wären/ sich eines Dominats desto sicherer über Selbige anmassen könten.

Fundort S. 77f. In:
Unschuld und Nothwendigkeit des Rechts der Natur und dessen Lehre
wider das ungegründete Vorgehen des AUTHORIS des Licht- und Rechts /
dargethan von einem Liebhaber der Wahrheit.
Leipzig / In Verlegung Friedrich Lanckischens seel. Erben / 1704.
Vorhanden in den Universitätsbibliotheken Greifswald und Halle.
Dortige Signatur: Ha 179 an Ga 4745 (10)
Johann Konrad Dippel (1673 - 1734) zugeschrieben.

Ich bin in Besitz des Mikrofilms und einer Fotokopie des Originals o.g. Schrift. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich der Vorrede zu einem Traktat von Pastor Michael Berns: Das Natürliche Licht des Verstandes, Hamburg und Leipzig von 1711.
UB Kiel Cb 5275.

 

Kommentar (Hanns J. Ehlen): Das Zitat eröffnet einen weiten Überblick über die Staatsphilosophie von 1700 - 2000: Aufklärer und Pietisten haben durch die Stärkung von Erziehung und Bildung, Bibelkritik, verschiedene Bibelübersetzungen und den Rückzug auf die persönlich verstandene Frömmigkeit ein gemeinsames Ziel verfolgt: die Besserung des Menschengeschlechts, Betonung der Menschenrechte und der Menschenwürde. Während Philosophen und Pädagogen, die Öffnung des christlichen Abendlandes zur partnerschaftlichen Vielfalt der Religionen im Namen allgemeiner Ideen verkündeten, weiteten sich die europäischen Handelsbeziehungen, wurden ganze Kontinente militärisch und wirtschaftlich unterworfen oder, wie in Indien, in die Abhängigkeit getrieben, die indianischen Völker fast ausgerottet und die afrikanischen versklavt.

In Europa selbst hat diese Entwicklung aber auch die Bedeutung der Bibel und des Naturrechts als Grundlagen für den Staat nachhaltig ausgehöhlt. Im 19. und 20. Jahrhundert entstanden tatsächlich jene folgenreichen philosophischen Entwürfe, die die Herrschaft des Menschen über den Menschen mit gesellschaftlichen, sozialen, rassischen oder biologischen Argumenten begründet haben. So ging das Zeitalter der Glaubenskriege schließlich über in die Zeit der Weltkriege ideologischer Systeme, die im Namen selbst gemachter Menschenbilder geführt wurden. Mit entsetzlichen Folgen für viele hundert Millionen Menschen in Europa und der ganzen Welt. Die mit den Mitteln des modernen Verwaltungsstaates geplante und mit industriellen Methoden durchgeführte Massenvernichtung der Menschen jüdischer Herkunft war am Ende des zweiten Weltkrieges der Tiefpunkt dieser Entwicklung, aber bezeichnenderweise leider nicht ihr Ende. Diesen Sachverhalt gilt es in das Bewußtsein der nächsten Generationen verantwortlich weiterzugeben, damit sich der Einsatz neuer Technologien und philosophischer Konzepte nicht wiederum gegen den Menschen richtet.

Ein Staat (ein überstaatlicher Zusammenschluß, "das Internet") ist nicht unbegrenzt "frei". Er wir durch das Naturrecht und die Religion in vorgegebenen Grenzen gehalten (auch wenn das für "freie Geister" schwer zu akzeptieren ist). Ein Staat, der Naturrecht und Religion nicht als seine "Grund-Gegebenheiten" erkennt, gleicht - ein Bild zu gebrauchen - einem Wasserschlauch am aufgedrehten Zulauf, dessen Ende nicht gehalten wird und der deshalb der frei hin und her schlägt, ohne vernünftige Richtung und Ziel. Jedoch in beiden Händen gehalten, kann das Wasser dorthin gerichtet werden, wo die Trockenheit am größten ist.

Die umfassende, formale und effektive Stärkung von Naturrecht und der christlichen Offenbarungsreligion als Grundlagen staatlicher Ordnung und Garanten demokratischer Freiheit scheint mir zu den wichtigsten Arbeiten an den nationalen und multinationalen Verfassungen ab 2000 zu gehören: in Deutschland, auf dem Balkan, in Europa und allen überstaatlichen Zusammenschlüssen. Es ist wichtig, diese Arbeit zu vermitteln und den Kirchen, Staaten und der Politik feste Plätze im öffentlichen Bewußsein, wenn nicht des nächsten Jahrtausends, so doch für die nächsten 100 Jahre zu geben.

 

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Materialien zum Verständnis des Naturrechts

 

Aus: Hermann Avenarius: Kleines Rechtswörterbuch. Herder, Freiburg im Breisgau, 2. Auflage 19985, S. 2261 f.

Unter Naturrecht versteht man ein fŸr alle Zeiten und Všlker gŸltiges Idealrecht, das seine Entstehung nicht der staatlichen Rechtsetzung verdankt, sondern von Natur aus vorgegeben ist. Das Naturrecht ist griechischen Ursprungs; es ist vor allem in der platonischen Ideen- und der aristotelischen Entelechienlehre entwickelt worden. Insbesondere Thomas von Aquin hat das antike Naturrecht, vornehmlich im RŸckgriff auf Aristoteles, fortgebildet und christlich untermauert. Nach Ansicht der thomistischen Scholastik hat Gott in der Schšpfungsordnung Werte angelegt, die dem Menschen kraft seiner Natur erkennbar sind. Durch ihre Befolgung erfŸllt der Mensch seinen natŸrlichen Daseinszweck. In der Neuzeit hŠlt das profane Vernunftrecht zwar an dem universalistischen und Ÿberzeitlichen Geltungsanspruch des Naturrechts fest, lšst es aber von seiner BegrŸndung im gšttlichen Schšpferwillen und emanzipiert es so von der Moraltheologie.

In dieser AusprŠgung fand das Naturrecht Eingang in die gro§en Kodifikationen des 17. und 18. Jahrhunderts (z.B. preu§isches Allgemeine Landrecht von 1794). SpŠtestens im Hochmittelalter zeichnen sich jedoch bereits gegenlŠufige Stršmungen ab, die den Geltungsanspruch des Naturrechts gefŠhrden. Der Nominalismus in der Schule Duns Scotus und Wilhelm Occams lehnt es ab, Gott an eine bestimmte Werteordnung zu binden. Das Gute und Gerechte lŠ§t sich nach dieser Auffassung nicht aus allgemeinen Wesensbegriffen, sondern nur aus der Hingabe an den gšttlichen Willen ableiten. Damit gewinnt das Individuelle Vorrang vor dem Allgemeinen; das persšnliche Rechtsgewissen tritt an die Stelle der objektiven Seins- und Werteordnung.

An diesen nominalistischen Voluntarismus knŸpft auch Luther an, der die Rechtfertigung des gefallenen und erlšsungsbedŸrftigen Menschen allein in der Gnade des der Vernunft verborgenen, nur im Glauben erfahrbaren Gottes grŸndet. (Von daher wird es begreiflich, da§ die protestantische im Unterschied zur katholischen Theologie dem Naturrecht zumeist mit gro§en Vorbehalten begegnet). Thomas Hobbes zieht sodann in seiner Staatslehre aus der rationalen Unableitbarkeit der ethischen Norminhalte die Folgerung, da§ zur †berwindung des sonst unvermeidlichen Krieges aller gegen alle - den er in den Glaubens- und BŸrgerkriegen seiner Zeit anschaulich vor Augen gefŸhrt sah - die staatliche AutoritŠt die real wirksame Rechts- und Friedensordnung setzen mŸsse. Hobbes gilt daher letztlich als der BegrŸnder des Rechtspositivismus.

FŸr die AnhŠnger des Naturrechts sind zumindest bestimmte wesentliche Rechtswerte - z.B. die Achtung der MenschenwŸrde, die Gerechtigkeit -, darŸber hinaus aber auch vergleichsweise konkrete Handlungsanweisungen - wie etwa das Verbot des Mordes, der Kšrperverletzung, der Freiheitsberaubung, des Diebstahls - vorstaatlich, d.h. unabhŠngig vom staatlich gesetzten Recht, gŸltig. Das Naturrecht bleibt stets dem Einwand ausgesetzt, da§ es nicht mšglich sei, Ÿberzeitlich-allgemeingŸltige Inhalte im Blick auf die konkrete geschichtliche Situation als rechtlich verbindliche Normen zu bestimmen.

Das Šndert nichts an der Feststellung, da§ das Naturrecht immer dann seine mobilisierende und revolutionierende Kraft zu entfalten vermochte, wenn das positive Recht dem Rechtsempfinden des Zeitalters nicht mehr entsprach. Gerade angesichts der extremen Auswirkungen des Rechtspositivismus, wie sie vor allem im nationalsozialistischen Unrechtsstaat zutage traten, hat es eine neue AktualitŠt gewonnen. Indem das GG die WŸrde des Menschen fŸr unantastbar erklŠrt (Art. 1 I) und das Bekenntnis zu unverletzlichen und unverŠu§erlichen Menschenrechten ausspricht (Art. 1 II), hat es ein der Verfassung vorgegebenes Wertesystem anerkannt, das auf der naturrechtlichen Tradition aufbaut.

***

Aus: Hans Heckel: Recht und Gerechtigkeit, Materialien für eine allgemeine Rechtserziehung. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Pöschel Verlag, Stuttgart 1955, S. 32-33. (zitiert nach: Informationen zur politischen Bildung 216, 3. Quartal 1987, Recht 1, Grundlagen des Rechts; hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Berliner Freiheit, 5300 Bonn.

Der Glaube an das Naturrecht als ein ewiges Recht, das Ma§stab ist fŸr Staat und Gesetz, und aus dem sich ableiten lŠ§t, was dem einzelnen und was der Gesamtheit zusteht, scheint dem Menschen eingeboren zu sein; wo unser RechtsgefŸhl sich verletzt fŸhlt, messen wir unwillkŸrlich das konkrete Recht an einem Ideal der Gerechtigkeit. So ist die Frage nach Quellen und Inhalt der Gerechtigkeit niemals verstummt, wenn sie auch zeitweise leiser, zeitweise unŸberhšrbar gestellt worden ist.

Beim Vergleich der erteilten Antworten aber zeigt sich, da§ das Naturrecht sich ins Ungreifbare verflŸchtigt, wenn man es inhaltlich nŠher zu bestimmen sucht. Wo finden sich gesicherte ewige Rechtsinhalte? Selbst wenn man der heute meist als selbstverstŠndlich anerkannten Heiligkeit des Lebens nicht gerade die Sittlichkeits- und Rechtsauffassungen der KopfjŠger und Menschenfresser entgegenhŠlt, gibt es doch allein in unserer abendlŠndischen Kultur Erscheinungen genug, die ganz abgesehen von der Institution des Krieges - erwiesen, da§ das Recht auf das Leben nicht immer selbstverstŠndlich war und da§ es selbst heute noch nicht všllig unbezweifelt ist. Die Freiheit der Person ist eine sehr spŠter Errungenschaft gegenŸber Sklaverei und Hšrigkeit, die noch bis in neueste Zeiten hinein als sinnvolle Rechtsformen au§er Zweifel standen.

Das Recht auf den Heimatboden eines Volkes ist mit den Massenaustreibungen der letzten Jahrzehnte erneut bestritten worden. Die Einehe ist nicht allen Kulturen eigen, und oft sind es mehr wirtschaftliche GrŸnde, die zu ihrer Durchsetzung gefŸhrt haben. Das Eigentum scheint einer der stabilsten menschlichen Grundbegriffe zu sein; wer aber Eigentum als Diebstahl an der Gesamtheit auffa§t, leugnet den Ewigkeitswert des Privateigentums. Die geschichtliche Rechtsordnung entspricht vielmehr den jeweiligen Auffassungen von Sittlichkeit und Gerechtigkeit, und diese entsprechen dem jeweiligen Zustand und geschichtlichen Standort der Kultur.

Naturrechtliche Inhalte als gleichmŠ§ig und dauernd gŸltige Forderungen des Gewissens lassen sich nicht nachweisen. Anscheinend ist zwar das Gewissen ein wesentliches Attribut des Kulturmenschen, aber die Inhalte des Gewissens scheinen sich mit den Zeitauffassungen zu verŠndern. Das bedeutet, da§ auch das RechtsgefŸhl, das das richtige Recht erkennen lŠ§t, nicht konstant, sondern wandelbar ist. Man hat deshalb von einem "Naturrecht mit wechselndem Inhalt" gesprochen und damit jenes Dilemma andeuten wollen, da§ zwar das GefŸhl des ewigen Rechts immer und Ÿberall lebendig ist, da§ es sich aber als ausgeschlossen erweist, die Inhalte des Naturrechts, und das hei§t die Inhalte der Gerechtigkeit, verbindlich zu bestimmen. Was jedem das Seine ist, wechselt mit Zeit und Kultur.

Eine Antwort erteilt allerdings der Glaube. Sehe ich, katholischer Rechtsauffassung entsprechend, die zehn Gebote als gšttlich gesetztes Recht an, so besitze ich ewige Inhalte gerechten Rechts. Aber diese Antwort gilt nicht au§erhalb der katholischen Welt; schon der Protestantismus erkennt die zehn Gebote zwar als sittliche, nicht aber als Rechtsnormen an. Die AufklŠrung begrŸndete das Naturrecht in der vernŸnftigen Natur des Menschen; ihre zahlreichen inhaltlich voneinander abweichenden Systeme erweisen die Unmšglichkeit, auf diese Weise verbindliche Gerechtigkeitsinhalte zu bestimmen.

Die extrem entgegengesetzte Form der Bindung der Gerechtigkeit an einen absoluten Ma§stab finden wir in der sowjetischen Rechtsideologie. Wenn es dort Aufgabe des Rechts ist, die unbedingte †berordnung der Gesellschaft Ÿber den einzelnen zu verwirklichen und die Errungenschaften der sowjetischen revolutionŠren Gesellschaft zu wahren, so da§ alle Individualrechte den Rechten der Gesellschaft weichen mŸssen, so bedeutet das die Identifizierung von Gesellschaftsinteresse und Gerechtigkeit, eine Identifizierung, die nur von dem vollzogen werden kann, der sie bedingungslos glaubt. Wir haben mit der Maxime: Recht ist, was dem Volke nŸtzt, Šhnliches erlebt.

***

 

Aus: Fiedo Ricken; Art. Naturrecht I; Altkirchliche, mittelaterliche und römisch-katholische Interpretation TRE Bd 24 S. 150,f.
Theologische Realenzyklopädie -TRE -, in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz hrsg. von Gerhard Krause + u. Gerhard Müller, 1.Aufl. 1994 (c) by Walter de Gruyter & Co Verlag Berlin - New York.

8. Gegenwärtige Diskussion

8.1. Das Zweite Vatikanische Konzil ( -> Vatikanum I und II) bezieht sich in der Erklärung über die Religionsfreiheit (Dign.hum. Art. 3) auf die Lehre des Thomas von der Teilhabe des Menschen am Ewigen Gesetz. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes erinnert in dem Abschnitt über die Vermeidung des Krieges "an die bleibende Geltung des natürlichen Völkerrechts und seiner allgemeinen Prinzipien" (Art. 79, vgl. Art. 89). Seit 1968 steht die Diskussion über das natürliche Gesetz im Schatten der Enzyklika Humanae vitae Pauls VI. (AAS 60 [1968] 48l-503). Wenn hier von den "Gesetzen, die in die Natur des Mannes und der Frau eingeschrieben sind" (§ 12) und vom "Widerspruch zur Natur des Mannes und der Frau" (§ 13) oder vom "natürlichen Zyklus der Zeugungsfunktionen" (§ 16) die Rede ist, so handelt es sich eindeutig um die biologische Natur; auf seiner Grundlage wird die Geburtenkontrolle mit künstlichen Mitteln als intrinsece (in sich) unsittlicher Akt verurteilt (§ 14). Der Papst beruft sich auf die Lehre seiner Vorgänger, das kirchliche Lehramt sei Interpret des natürlichen Gesetzes (§4). Er fordert Gehorsam "nicht so sehr wegen der beigebrachten Beweisgründe" als vielmehr wegen der Autorität des Lehramts (§ 28).

8.2. Die gegenwärtige innerkatholische Kontroverse über das Naturrecht ist eng verknüpft mit dem Streit zwischen der in der Tradition des neuscholastischen Essentialismus stehenden deontologischen und der am angelsächsischen Konsequentialismus (Proportionalismus) orientierten teleologischen Normenbegründung. Gemeinsame Basis ist Thomas v. Aquino, S.th.I-II 94a2. Umstritten ist die Interpretation der "natürlichen Neigungen": Ist jede Neigung als solche in sich normativ, d.h. ist sie im Sinne eines essentialistischen Naturbegriffs (vgl. S. th. II-II 154) zu verstehen, oder sind die natürlichen Neigungen im Sinne der natürlichen Güter des Aristoteles zu deuten, so daß in der spezifischen Situation unter ihnen eine vernünftige Vorzugswahl zu treffen ist?

9. Systematischer Ausblick

9.1. ,Naturrecht' bedeutet zunächst dasselbe wie ,kognitive Ethik': Im Bereich der Moral und des Rechts ist es sinnvoll, zwischen richtig und falsch, gerecht und ungerecht zu unterscheiden. Das Naturrecht in diesem weiten Sinn wendet sich also gegen die verschiedenen nonkognitiven bzw. positivistischen Moral- und Rechtstheorien. - Wer die Richtigkeit einer -> Norm behauptet, verpflichtet sich, sie zu begründen. Jede kognitive Ethik will zu inhaltlichen begründeten Normen kommen. Die katholische Naturrechtstradition ist der Auffassung, daß dazu formale Prinzipien allein nicht ausreichen. Inhaltliche Normen, so die gemeinsame Uberzeugung, können aber nur mit Hilfe anthropologischer Aussagen gewonnen werden. Die Wege trennen sich bei der Frage, ob diese Aussagen essentialistisch zu verstehen sind, oder ob es darum geht, auf anthropologischer Grundlage eine Güterlehre zu entwickeln.

9.2. Naturrecht als kognitive materiale Ethik ist auch heute unverzichtbar. Es muß aber folgenden Anforderungen genügen:

a) Die Unabhängigkeit der praktischen von der theoretischen Vernunft ist zu wahren. Das Naturrecht darf weder einem biologischen noch einem theologischen Naturalismus verfallen. Seine obersten Prinzipien können logisch unabhängig von der Existenz Gottes erkannt werden.

b) Die zentrale Stellung des Gerechtigkeitsbegriffs muß deutlich werden. Programmatisch ist die Thomasische These, die Gebote der zweiten Tafel enthielten die Ordnung der Gerechtigkeit (S. th. I-II 100, Sc.). Die Kontroverse zwischen deontologischen und teleologischen Theorien ist anhand des Kriteriums zu entscheiden, wie die Gerechtigkeitsnorm begründet und die verschiedenen materialen Normen von der Gerechtigkeitsforderung her einsichtig gemacht werden können.

c) Der Unterschied zwischen einer unbedingt geltenden naturrechtlichen Norm und deren Formulierung ist zu beachten. Die sprachlich formulierte Norm gilt nicht uneingeschränkt; es bedarf der praktischen Urteilkraft, um sie auf den spezifischen Fall anzuwenden.

d) ,Natur' ist nicht nur ein ontologischer, sondern auch ein erkenntnistheoretischer Begriff. Die Unterscheidung zwischen natürlichen und nichtnatürlichen Gütern bzw. Neigungen ist auf dem Stand und mit den Mitteln der gegenwärtigen Erkenntnistheorie zu rekonstruieren.

e) Die schwierigste Aufgabe besteht darin, ohne naturalistischen Fehlschluß zu anthropologisch fundierten materialen Normen zu kommen. Aus der Einheit von Vernunft- und Bedürfnisnatur des Menschen muß deutlich werden, daß die natürlichen Güter bzw. Neigungen inhaltliches Kriterium dessen sind, was gegenüber der Person als Vernunftwesen verantwortet werden kann.

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Eberhard Wölfel: Art. Naturrecht; II. in der ev. Theologie; in:
Evangelisches Staatslexikon / begr. von Hermann Kunst u. Siegfried Grundmann. Hrsg. von Roman Herzog - 3. Aufl., Stuttgart 1987, Bd 2, Sp 2226-2230.

Entscheidend ist Luthers Auffassung vom Wesen der Sünde: Der status naturae corruptae bezieht sich nach ihm auf das Personsein als Zentrum des Menschen ("Personsünde"). Das bedeutet:

a) Auch die Heilsoffenbarung in Christo bezieht sich immer zunächst auf das Menschsein. Damit ist die im Evangelium gesetzte, neue, geistl. Freiheit "ausschließl. personhaft ... und wird unmittelbar - im Herzen - in der Erwählung des Menschen durch Gott promulgiert" (ERNST WOLF). Eine "lex charitatis" kann infolgedessen nur einen jeweils konkret zu aktualisierenden, personhaften Sinn haben, nicht generell und abstrakt rechtsinformierende Gestalt besitzen. Demzufolge erfüllt die Liebe das Gesetz, aber stellt es nicht auf. Von hier aus zeigt sich die Notwendigkeit einer eigenen Ontologie (und Hermeneutik) des Personseins und ihrer Implikationen (P. TILLICH, G. EBELING).

b) Damit wird die positive Rechtsbildung primär zu einer Sache der menschl. Vernunft und des mit dem Schöpfungssein gesetzten Rationalbereichs. Für die Erkenntnis der die "iustitia civilis" normierenden sachl. und ethischen Verhalte ist allein das "Rathaus" bzw. die Vernunft zuständig. Zwei Mißverständnisse sind hier zu vermeiden: Einmal wird die Welt damit nicht in den Säkularismus entlassen. Luthers Auffassung von "äußerlich Ordnung" und "weltlich Ding" ist keinesfalls naturalistisch zu verstehen; das verhindert schon der Schöpfungsgedanke. Zum andern ist die "Christperson" für die "Weltperson" - nach Luther eine Spannung in ein und demselben Menschen - nicht ohne Belang. Das wäre eine Mißinterpretation der - Zwei-Reiche-Lehre. Nicht nur schafft der Glaube durch sich die Liebe, orientiert damit den Christen am Nächsten und bewirkt so eine notwendige innere Bindung des einzelnen an das Gemeinschaftsgefüge; auch die Sphäre des Gesetzes und der Welt überhaupt wird nun erst entideologisiert und dadurch versachlicht; ihr wird jeder Heilswert (als könnte sie ein heilsames Gottesverhältnis setzen) bestritten. Die ideologisch aufgeladene Lehre vom "Volksnomos" etwa wird durch die recht verstandene Lehre Luthers gerade in ihren pseudoreligiösen Ansprüchen entlarvt. So dimensioniert die Entkrampfung des sich in seiner Sünde vor Gott verschließenden Menschen durch das Evangelium die Lehre von der lex naturae als Ordnung für das Geschaffene innerhalb der Klammer des kreatürl. Zusammmenlebens richtig und befreit dadurch den Menschen zur neuen Sachlichkeit überideologischer Vernunfterkenntnis.

c) Im Reich von "ius naturae seu ratio humana" (WA 20, 8,221) gilt nun freilich:"das edle Kleinod, so natürl. Recht und Vernunft heißt, ist ein seltsam Ding unter Menschenkindern" (WA 51, 211, 36). Das bedeutet, daß das faktisch vorhandene, gesetzte Recht immer im Hinblick auf die lex naturae transzendiert werden muß: Es muß weiterbildender Rechtsformung immer um das Recht gehen, das "aus Kraft der Natur geschieht, das gehet frisch hindurch auch ohn alles Gesetz, reißt auch wohl durch alle Gesetze" (WA 51, 214, 14 f.)

So ist lex naturae als verpflichtender Maßstab allen positiven Rechts erkannt. So gilt zwar, im Hinblick auf den Dekalog, zunächst, "daß die natürl. Gesetze nirgends so fein und ordentl. sind verfasset als in Mose" (WA 18,81, 18) - aber nur, sofern sie eben im Gewissen binden, d.h. durch Vernunft und natürl. Verstand als dem "Brunnenquell, daraus alle Rechte kommen und fließen" (WATr VI, Nr. 5955), erkannt werden. Gerade der dynamische Schöpfungsbegriff Luthers (creatio continua), der lebendige Gott, der in allen Kreaturen wirkt und Neues schafft, verhindert dabei alle Statik des vormaligen N., dynamisiert vielmehr das Ordnungsgefüge und zwingt den Menschen zum ständigen Transzendieren auf das Gesetz Gottes hin, in welchem sein Wille für die Welt zum Ausdruck gebracht wird, die ja der Mensch als "Larve Gottes" mitzuformen berufen ist.

Der Horizont kontinentaler Theol. erweiterte sich durch Begegnung mit der - Ökumenischen Bewegung, wo der soziale Humanismus angelsächsischer Prägung und das rationalistische Erbe der Aufklärung fruchtbar und spannungsreich einwirkt. Hier wurde auf der Weltkirchenkonferenz von Amsterdam (1948) das sozialethische Konzept der "verantwortlichen Gesellschaft" kreiert und in Evanston (1954) als Maßstab christl. - Sozialethik überhaupt interpretiert. Unverkennbar wird in diesem Konzept - von ERNST WOLF in seinem Gewicht neben die Barmer Thesen gestellt (Ordnung u. Freiheit, 1962, 30) - mit neutestamentlichen Prinzipien gearbeitet.

Hier und i.d. folg. ökumenischen Konferenzen (bes. seit 1966 Genf) gewinnt N., vor allem auch in revolutionärer Interpretation (s.o.I) an Boden. Menschenrecht und -würde als der geheime Leitfaden neuzeitl. N.intention verbinden sich dabei mit christl. Ethos zum Versuch konkreter Aktion, vor allem angesichts der sozialen und ökonomischen Probleme der Dritten Welt.

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Lexikon - Stichworte zur näheren Erklärung von Aufklärung und Pietismus

Aufklärung,
© 1999 Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG

Bez. für eine geistesgeschichtl. Epoche, Zeitalter der Aufklärung (engl. »age of enlightenment«, frz. »siècle des lumières«), die Ende des 17. Jh. in England ihren Ausgang nahm und sich im 18. Jh. in ganz Europa und Nordamerika ausbreitete. Sie wurde im Wesentlichen vom Bürgertum getragen. Ihr Grundanliegen war es, dem Menschen mithilfe der Vernunft zum »Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« (I. Kant) zu verhelfen. In diesem Sinne sind z. B. auch Teile der grch. Philosophie als Aufklärung zu verstehen.

Verschiedene Strömungen: Der Begriff Aufklärung fasst verschiedene geistige und kulturelle Strömungen zusammen; allen gemeinsam war die Kritik am absoluten Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligion und an der absoluten Monarchie. An den Humanismus anknüpfend, brachte in der Philosophie zuerst der Rationalismus neue Denkansätze hervor (Niederlande: B. de Spinoza, Frankreich: R. Descartes, Deutschland: G. W. Leibniz, C. Wolff). Dessen Theorie von den angeborenen Ideen setzte der Empirismus (England: J. Locke, D. Hume, G. Berkeley) die Abhängigkeit allen Wissens von der sinnl. Erfahrung entgegen. Zw. beiden Richtungen vermittelte Ende des 18. Jh. I. Kant. Der Erkenntnisfortschritt der Naturwissenschaften (bes. durch I. Newton) bewirkte die Ausarbeitung eines deistischen (z. B. bei Voltaire), später auch eines materialistisch-atheist. Weltbildes (u. a. bei D. Diderot, J. O. de La Mettrie, P. H. d'Holbach).

Staats- und Rechtslehre erhielten neue Grundlagen: An die Stelle göttl. Legitimation des Monarchen trat der auf das Naturrecht gegründete Gesellschaftsvertrag (Rousseau, Vertragslehre). Gegenüber dem Machtanspruch des Staates seien die Menschenrechte unverzichtbar und gültig. Darum betonte auch die Verfassungslehre bes. die Rechte des Einzelnen und die sich aus ihnen ergebenden Grenzen der Staatsgewalt sowie den Gedanken der Gewaltenteilung (Locke, Montesquieu). Das neue Gesellschaftsideal sollte durch Anleitung zum freiheitl., autonomen Vernunftgebrauch möglich werden. Auf dieser Grundlage werde die stete Vervollkommnung und Verwirklichung eines freiheitl., menschenwürdigen und glückl. Daseins in einer neuen Gesellschaft möglich (Fortschrittsoptimismus).

Beschäftigung mit der Geschichte: Der Gedanke des Fortschritts führte zu eingehender Beschäftigung mit der Geschichte: P. Bayle begründete schon Ende des 17. Jh. die Quellenkritik, umfassende Werke der Geschichtsschreibung (Hume, E. Gibbon, Voltaire) und Geschichtsphilosophie (Montesquieu, M. J. A. Condorcet, J. G. Herder) entstanden. Die Reaktion der Machtinhaber auf die neuen Ideen war unterschiedlich: Friedrich d. Gr. und Kaiser Joseph II. bemühten sich um Reformen (aufgeklärter Absolutismus), in Frankreich unterdrückte das Ancien Régime alle Ansätze zu Veränderungen; Schriften mit aufklärer. Inhalt mussten meist illegal erscheinen. Hier brachte die Aufklärung ihre radikalsten Vertreter hervor. Die Sammlung und Aufbereitung aller Wissensgebiete im Sinne der Aufklärung gelang den Enzyklopädisten. Die Unabhängigkeitserklärung der USA und die Frz. Revolution, bes. in ihren Anfängen, waren dann entscheidend von den Gedanken der Aufklärung bestimmt, in der Folge auch der Liberalismus des 19. Jh. Ost- und Südosteuropa nahmen die Aufklärung (ohne deren kirchenfeindl. Tendenz) in der 2. Hälfte des 18. Jh. auf. Sie trug hier zur nationalen Emanzipation (v. a. gegen das Osman. Reich) bei.

Theologie: In der Theologie führten Rationalismus, Optimismus, Antiklerikalismus, Individualismus und Utilitarismus in Auseinandersetzung mit der kirchl. Orthodoxie zur Entwicklung einer eigenständigen Theologie der Aufklärung. Jesus erscheint als Weisheitslehrer und Prophet der "natürl. Religion". (Deismus), das Evangelium als Lehre von der Weltverbesserung; der Mensch ist mündiges Individuum, die Vernunft normative Instanz zur Beurteilung des christl. Dogmas, die Predigt zweckgerichtete Nützlichkeitsrede über die prakt. Dinge des Alltags; Vorbild der allg. geforderten religiösen Toleranz ist G. E. Lessings "Nathan der Weise". In Dtl. erreichte die Theologie der Aufklärung ihren Höhepunkt in der Neologie; als Gegenbewegung formierte sich der Pietismus; Kulturprotestantismus, kath. Modernismus und die historisch-krit. Bibelwissenschaft des 19. Jh. haben ihre Wurzeln in den der Theologie durch die Aufklärung des 18. Jh. vermittelten Impulsen.

Erziehungswesen: Das Erziehungswesen ist für die Aufklärung stets von besonderem Interesse gewesen. Sie forderte eine Erziehung zu naturgemäßer, nicht von Überlieferungen, sondern von Vernunft (und auch Gefühl) bestimmter sittl. Lebensweise und die Anwendung wiss. Verfahrensweisen auch auf prakt. Tätigkeiten (Realbildung, landwirtsch. und gewerbl. Erziehung), Ausdehnung der Erziehungsbestrebungen auf alle Volksschichten, auch auf die Frauen, und Weiterbildung der Erwachsenen. Diese Gedanken wurden von Rousseau, J. B. Basedow, J. H. Campe und J. H. Pestalozzi vertieft und im höheren und Volksschulwesen, z. T. in neuen Schulformen, verwirklicht.

Gesellschaftliches Leben: Im gesellschaftlichen Leben trat neben der höf. Kultur die bürgerl. stärker hervor. Gegen den heiteren Lebensgenuss des Rokoko, der auch in manchen bürgerl. Kreisen Eingang gefunden hatte (Leipzig als "Klein-Paris"), wandte sich ein betonter bürgerl. Moralismus. Starken Einfluss gewannen aufklärer. Geheimgesellschaften (Freimaurer, Rosenkreuzer). In einseitiger Nachfolge des Pietismus entwickelte sich als Gegenströmung zum Rationalismus ein Gefühls- und Freundschaftskult (Empfindsamkeit).

Literatur: Neue Inhalte und Formen fand die Literatur der Aufklärung in den »Moral. Wochenschriften«, auch die Belletristik hatte oft stark didakt. Charakter. Neue Genres waren bürgerl. Trauerspiel, Rührstück, Idylle und bürgerl. Roman (bes. in Briefform), auch Fabel und Satire wurden gepflegt. Hinzu kam, bes. in Frankreich, die »galante Literatur«.

Musik: Die Musik des Aufklärungszeitalters folgte eigenen Gesetzen (neue Formen der Instrumentalmusik; Vorklassik und Wiener Klassik), zeigt aber auch direkte Verbindungen zur Geistes- und Sozialgeschichte (bürgerl. Singspiel, Ausdruck humanitärer Gedanken in Oper und sinfon. Musik).

Bildende Kunst: In der bildenden Kunst vollzog sich zunächst der Übergang vom Barock zu dessen Spätblüte, dem Rokoko: Helle Farben, heiter schwingende Linien, weltl. Inhalte und Verweltlichung religiöser Darstellungen wurden kennzeichnend. Seit der Mitte des 18. Jh. wurde das Rokoko allmählich abgelöst durch den strengeren Klassizismus, dessen oberstes künstler. Ziel die Nachahmung antiker Kunst war. Wie das Religiöse suchte man auch das Künstlerische verstandesmäßig zu erfassen. So entstand eine systemat. Kunstkritik und als neuer Zweig der Philosophie die Ästhetik (A. G. Baumgarten).

Wirkungsgeschichte: Seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jh. wurde die Aufklärung von neuen Geistesbewegungen (Neuhumanismus, Romantik, Sturm und Drang) überlagert. Während man die Aufklärung lange Zeit mit dem abwertenden Blick der Romantik sah, ist heute der Verdienst der Aufklärung um die Entwicklung der Wiss., die Förderung neuer Forschungszweige (bes. Volkswirtschaftslehre, Soziologie, Statistik), die Humanisierung des sozialen und kulturellen Lebens, die Achtung der Menschenwürde und der Gleichheit aller Menschen anerkannt. Letzteres wurde zur geistesgeschichtl. Voraussetzung für eine Reihe gesellschaftspolit. Entwicklungen in der Gegenwart (Emanzipation, Gleichberechtigung, Mündigkeit). Neuere Kritik richtet sich gegen ihre absolute Abwertung der Tradition und gegen gewisse Folgeerscheinungen wie Fortschrittsgläubigkeit und Herrschaft eines rein positivist. Wissenschaftsbegriffes.

Unter den in neuerer Zeit entstandenen Bezugnahmen auf die Aufklärung ragt bes. das im Rahmen der krit. Theorie der Frankfurter Schule entwickelte Programm einer »zweiten Aufklärung« heraus (Befreiung des Einzelnen aus fremdbestimmten Zwängen).

Literatur:

Pütz, P.: Die dt. A. Darmstadt 4/1991.
Möller, H.: Vernunft u. Kritik. Dt. A. im 17. u. 18. Jh. Frankfurt am Main 3/1993.
Horkheimer, M. u. Adorno, T. W.: Dialektik der A. Philosoph. Fragmente. Tb.-Ausg. Frankfurt am Main 32.36. Tsd. 1994.
Was ist A.? Thesen u. Definitionen, hg. v. E. Bahr. Neudr. Stuttgart 1994.
Das 18. Jh. A., hg. v. P. Geyer. Regensburg 1995.

 

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Pietismus
© 1999 Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG

[lat. pietas »Frömmigkeit«] der, Ende des 17. Jh. entstandene Bewegung des Protestantismus, die eine geistl. Erneuerung der Kirche zum Ziel hatte. Gegen die einseitig auf die Lehre ausgerichtete evang. Theologie betonte der Pietismus das Ideal eines an der Bibel orientierten prakt. Christentums, das sich in lebendiger (Christus-)Frömmigkeit und tätiger Nächstenliebe äußert und seine Grundlagen im regelmäßigen Bibelstudium und der individuellen »Wiedergeburt« (Bekehrung) hat.

Begründer des luth. Pietismus ist P. J. Spener (*1635, +1705). Die Anhänger wurden spöttisch Pietisten (Frömmler) genannt. Zentren des Pietismus bestanden in Halle (A. H. Francke; *1663, +1727), Württemberg (J. Bengel, * 1687, + 1752; F. C. Oetinger, * 1702, + 1782) und am Niederrhein (G. Tersteegen); maßgeblich von ihm beeinflusst war N. L. Graf von Zinzendorf. Der Pietismus prägte nachhaltig die gesellschaftl., polit. und pädagog. Entwicklung, wirkte auf die dt. Literatur (Empfindsamkeit) des 18. Jh.; im 19. Jh. fand er seine Fortsetzung in den Erweckungsbewegungen und wird heute v. a. durch die Gemeinschaftsbewegung repräsentiert.

Literatur:
Scharfe, M.: Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- u. Sozialgeschichte des P. Gütersloh 1980.
Schmidt, Martin: P. Stuttgart u. a. 31983.

 

Deutlicher noch wird das Verhältnis von Pietismus und Aufklärung durch den Blick auf den radikalen Pietismus in Deutschland, dessen vielfältige religiöse Strömungen und Personen hier nur soweit wiedergegeben werden, wie sie für das Verhältnis von Aufklärung und Pietismus bedeutsam sind.

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Der radikale Pietismus in der Spannunng zwischen der Frömmigkeit des Einzelnen
und der allgemeinen Herrschaft der Vernunft

Aus: Art. Pietismus von Martin Brecht TRE Bd 26 S. 616 - 618
Theologische Realenzyklopädie -TRE -, in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz hrsg. von Gerhard Müller, 1.Aufl. 1996 © by Walter de Gruyter & Co Verlag Berlin - New York.

Als einer der bedeutendsten radikalen Pietisten gilt Gottfried -> Arnold, der in Dresden durch Spener zum Pietisten geworden war, sich dann aber dem mystischen und kirchenkritischen Spiritualismus öffnete. Der in Wittenberg historisch geschulte Arnold stellte polemisch die normative Bedeutung des frühen Christentums und den späteren Abfall heraus. Seine historische Professur in Gießen gab er nach kurzer Zeit wieder auf und entschied sich für den "Ausgang aus Babel", dem der begabte Dichter auch, an Schärfe kaum mehr überbietbar, Babels Grab-Lied sang. Epochal für die -> Kirchengeschichtsschreibung wurde die Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700) die sich spiritualistisch von der bestehenden Kirche distanzierte und mit den Außenseitern sowie den "Stillen im Lande" - der aus Ps 35,20 genommene Ausdruck wurde zu einer der Selbstbezeichnungen der Pietisten - sympathisierte. Arnold beschäftigte sich dann mit der böhmistischen Sophienmystik, heiratete aber 1701 zum Mißfallen J.G. Gichtels gleichwohl und nahm ein kirchliches Amt an, ohne damit seine Grundüberzeugungen aufzugeben. Durch Arnold in Gießen wurde Johnann Konrad -> Dippel vollends für den Pietismus gewonnen. Seine Schriften destruierten die lutherische Orthodoxie und Kirche gleichermaßen, so daß sich auch Spener von ihm distanzierte. Wegen seiner Polemik wurde Dippel mehrfach festgesetzt; 1719 bis 1726 befand er sich deswegen in dänischer Haft. Bei seinem anschließenden Aufenthalt in Schweden beförderte er dort das Aufkommen des vorher schon von Finnland her virulenten radikalen Pietismus was dann zu Spaltungen innerhalb des schwedischen Pietismus führte. Langfristig hat Dippels Bestreitung des Strafleidens Christi und dessen Ersatz durch eine Verwandlung des Menschen in der Wiedergeburt auch in manchen pietistischen Kreisen am stärksten Eindruck gemacht. ...

Zu einem Hort verschiedener radikalpietistischer Gruppen wurden die Wittgensteiner und Wetterauer Grafschaften. ...

Als Mittelpunkt aller Separatisten in Westdeutschland gilt der in Halle bekehrte Andreas Groß, einer der aus Straßburg ausgewiesenen kirchenkritischen Pietisten, der sich seit 1710 in Frankfurt um Druck und Verbreitung radikalpietistischen Schrifttums bemühte. Durch den Wittgensteiner Grafen Casimir (gest. 1741) wurde Berleburg zu einem Zentrum der philadelphischen Bewegung. Unter der Ägide des gleichfalls aus Straßburg vertriebenen Theologen Johann Heinrich Haug (gest. 1753) wurde hier zwischen 1726 und 1742 die Berleburger Bibel, das monumentale und einflußreiche Bibelwerk des Philadelphismus, herausgegeben. Von dem Arzt Johann Samuel Carl (1676- 1737), der zeitweilig wie Groß und Haug den Inspirierten nahegestanden hatte, wurde ab 1730 die Geistliche Fama, die Zeitschrift des radikalen Pietismus, publiziert. Zu den Mitarbeitern Haugs gehörte auch Johann Christian -> Edelmann, der sich dann aber zum aufgeklärten Rationalisten und Bibelkritiker entwickelte. [Zwischen 1740 und 1750 war er der bekannteste "Reliogionsspötter" seiner Zeit; zit. nach Trinius, 1751; H.J.E]

Von den Gesamtwirkungen des radikalen Pietismus wird man zuerst die Destabilisierung kirchlicher Bindungen und die Indifferenz ihnen gegenüber nennen müssen. Positiv haben sie dabei zum Aufkommen religiöser, sozialer und literarischer -> Toleranz beigetragen. Nicht zu unterschätzen sind die durch einzelne radikale Pietisten erbrachten literarischen Leistungen und der dadurch ausgeübte Einfluß.

Das soll nun durch den Blick auf den Lebenslauf von J.C. Edelmann anschaulich gemacht werden. Ein Reprint des "Lebens-Lauf", 1849 in Hamburg von Carl Rulolph Wilhem Klose herausgegebenen Manuskripts erschien 1976 im Rahmen der von Waltern Grossmann erstellten Gesamtausgabe der Sämtlichen Werke J.C. Edelmanns (Verlag Frommann-Holzboog). Edelmann ist ein radikaler Pietist und Frühaufklärer mit bedeutender Wirkungsgeschichte im liberalen Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts. Er ist kaum mehr bekannt.

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Ein Leben zwischen radikalem Pietismus und Rationalismus:
Johann Christian Edelmann

von Hanns - Johann Ehlen

 

Johann Christian Edelmann wurde am 9. Juli 1698 als Sohn eines Kammermusikers und Pageninformators in Weißenfels in Kursachsen geboren. Nach dem Besuch der Schulen in Lauban und Altenburg studierte Edelmann 1720-24 in Jena Theologie.

Der im Streit zwischen Orthodoxie und Pietismus vermittelnde Professor Buddeus prägte Edelmanns Interesse für Kirchengeschichte und seine frühe Ablehnung des Wolffianismus.

Nach dem Predigerexamen 1724 ging Edelmann 1725-1731 als Informator (Hauslehrer) zu den protestantischen Reichsgrafen Kornfeil und Auersperg nach Österreich, ließ sich durch die Lektüre von B.H. Brockes 'Irdischen Vergnügen in Gott' und Martin Chemnitz 'Examen concilii tridentini' beeinflussen und kam beim Wiener Kaufmann Mühl für einige Monate mit dem hallischen Pietismus in Berührung.

Die Neigung zur Streittheologie führte den exegetisch und dogmatisch wenig ausgebildeten Edelmann nach seiner Rückkehr nach Sachsen 1731 zu einer immer kritischer werdenden Betrachtung lutherisch-orthodoxer Lehre. Als Informator bei dem orthodoxen Pfarrer Werstler in Brockendorf 1731-1733 beschäftigt, verliefen mehrere Versuche, ein Pfarramt zu erhalten, ergebnislos.

In seiner Bemühung, Anschluß an die in jenen Jahren geführte Diskussion zwischen Pietismus, Separatismus und Orthodoxie und um die Fragen von Wiedergeburt und Kindertaufe zu gewinnen, gerät Edelmann in immer stärkeren Gegensatz zu kirchlichen Lehre, die in Dresden auf den Seite von V.E. Löscher, auf der Seite des kirchlichen Pietismus von B.W. Marperger vertreten wurde.

Um Klarheit ringend, lernt Edelmann durch eine Schrift des Leipziger Lic. G. Gaudlitz gegen Adam Bernd separatistische Gruppen und deren Lehrmeinungen kennen. Die Lektüre von Gottfried Arnolds 'Kirchen und Ketzerhistorie' verstärkt seinen Gegensatz zur lutherischen Orthodoxie.

Wohl 1733, als Hofmeister des Grafen Callenberg in Dresden, gerät Edelmann über die Frage des Verdienstes Christi in eine schwere theologische Krise, in deren Verlauf er den Besuch des Abendmahles aufgibt.

Anfang 1734 nimmt Edelmann Kontakt mit dem Grafen Zinzendorf auf, den er im Juni des gleichen Jahres in Herrnhut besucht. Gleichzeitig beginnt er versuchsweise die als Monatsschrift aufgemachten 'Unschuldigen Wahrheiten' zu schreiben, die Ende 1734 erstmals und ab 1735 fortlaufend gedruckt werden und später insgesamt 15 Stücke umfassen.

Schon 1735 sieht Edelmann seinen schriftstellerischen Beruf als "göttlich" an. Er unterstreicht in seiner Lebensbesbeschreibung 1750 diese Einschätzung mit der Schilderung seiner Berufung durch eine für göttlich gehaltene innere Stimme, die ihm sagt: "Schreib unschuldige Wahrheiten".

Da sich ein geplantes Medizinstudium in Herrnhut zerschlägt, und Edelmann als Schriftsteller erfolgreich ist, wendet er sich diesem neuen Beruf zu und gerät darüber mit Zinzendorf in Streit.

Ende 1734 wird er durch einen befreundeten Gichtelianer mit den Schriften J.C. Dippels näher bekannt gemacht. Die weitgehende Übernahme von dessen Lehren und heftiger Schreibart setzen den Anfangserfolg fort und führen Edelmann in den Kreis der Frankfurter Separatisten um Andreas Groß, der ihn 1736 nach Berleburg holt.

Edelmann nimmt dort an der von Johann Friedrich Haug geleiteten Bibelübersetzung teil und wird mit der quietistischen Mystik der Mme Guyon und Antoinette Bourignon bekannt. Er übersetzt den ersten Teil von Pierre Poirets 'Oeconomie divine'. Wegen Edelmanns Kommentierung des 2.Tim, Tit und Phil kommt es schon 1737 zum Bruch mit Haug. Edelmanns heftige Polemik gegen das Abendmahl im 11. und 12. Stück der 'Unschuldigen Wahrheiten' führt auch zur Trennung von Andreas Groß.

Darauf wendet sich Edelmann der Inspiriertengemeinde des Johann Friedrich Rock zu, dessen Gebetsversammlungen er 9 Monate bis Anfang 1738 besucht. Er weigert sich, das laute, freie Gebet zu sprechen, weil er darin eine unzulässige Kontrolle der Vorsteher über die Gemeindeglieder erblickt. Im Verlauf des Streites vernimmt Edelmann in einer Audition die Worte aus dem Johannes Evangelium: "theos en 'o logos" - Gott ist die Vernunft".

Edelmann befreit sich von den tiefen Bindungen an die Inspirierten mit Hilfe des "Bruders" Langenmeyer und der "Schwester" Schelldorfin, die sich mit ihm im Gebrauch ihrer Vernunft üben. Gemeinsam lesen sie die Bibel und Schriften Christian Hoburgs u.a. und versuchen, ihre Trennung von allen religiösen Gruppen durch die Erkenntnis der Nähe Gottes in der Natur zu überwinden.

Religiös in einer neuen Krise, finanziell mittellos, legt Edelmann die Perücke ab und trägt einen Bart und den Mennonitenkittel. Er geht ein 3/4 Jahr bei Br. Langenmeyer in die Bortenwirkerlehre. Wohlhabende, Handwerks-, Mediziner- und Kaufmannskreisen angehörende Leser der Schriften Edelmanns fangen jedoch schon ab Ende 1738 an, zu seinem Lebensunterhalt beizutragen, seine Bibliothek zu erweitern, und die Herausgabe neuer Schriften zu fördern. So abgesichert, erweitert er seine Kenntnis der theologischen Literatur.

Durch Spinozas 'Theologisch-Politischen Traktat' und die 'Chartheken' des sogenannten Gewisseners Matthias Knutzen beeinflußt, schreibt Edelmann 1740 'Moses mit aufgedecktem Angesicht' Die in streckenweise ausfallender Polemik vorgetragene Bibel-, Kirchen- und Sozialkritik wird zum Skandal, der sich in Verbrennung und Beschlagnahme der erreichbaren Exemplare des 'Moses' auswirkt. Der sich anschließende Edelmannsche Streit dauert bis 1755, umfaßt 172 Schriften und macht Edelmann als Religionsspötter in Deutschland sprichwörtlich bekannt.

Durch französische Veröffentlichungen und durch die Kommentierung ausländischer theologischer Literatur in den Zeitungen von Sigmund Baumgarten und Valentin Ernst Löscher hat Edelmann den englischen Deismus kennengelernt. In seinen Schriften vermittelt er die Gedanken Thomas Browns, Lockes, Tolands, Tindals und Collins, der Holländer Bekker, von Dale, Cuperus u.a..

Edelmanns 1746 in Neuwied auf Drängen des Grafen veröffentlichtes 'Glaubens-Bekenntnis' wird zum Anlaß neuer heftiger Streitigkeiten um Edelmanns Verständnis von Schrift, Offenbarung und Christologie.

Edelmann hält die Bibel für "eine Sammlung alter Schriften, deren Urheber nach Maß ihrer Erkenntnis von Gott und göttlichen Dingen geschrieben" sind. Gott redet noch gegenwärtig in dem Gewissen eines jeden". Ferner ist Jesus "eine erleuchtete und von Gott hochbegabte Person und hat sich nie "einen Sohn Gottes, sondern allemal des Menschen Sohn" genannt.

Diese und andere Formulierungen haben Edelmanns Gegner veranlaßt, seine Übereinstimmung mit den Ansichten vieler falscher Lehrmeinungen nachzuweisen. Edelmann hat die zugewiesenen Positionen solidarisch verteidigt, weil sie der Position seiner orthodoxen Gegner widersprachen, ohne diese jedoch für sich selbst gelten lassen zu wollen.

Diese Bemühung wird besonders deutlich in dem 1749-1753 verfaßten 'Lebens-Lauf', den Edelmann in Berlin, unter Benutzung seiner früheren Schriften, gegen den Vorwurf der Religionsspötterei verfaßte.

Drei Ereignisse hatten 1749/50 die Lage Edelmanns so zugespitzt, daß er die Verhängung der Reichsacht befürchten mußte: Die letzte seiner gedruckten Schriften wurde im theologisch sonst toleranten Preußen auf Veranlassung des Markgrafen von Schwedt verbrannt; Mitte desselben Jahres gab es in Hamburg eine Skandal um fingierte Todesanzeigen Edelmanns, in denen die Geistlichkeit verspottet wurde; 1750 befahl die Frankfurter Bücherkommission die Verbrennung seiner wichtigsten Schriften.

Unter der Auflage, nichts mehr drucken zu lassen, fand Edelmann in Berlin Ruhe vor weiterer Verfolgung. Vermutlich hat er für seine heute kaum dem Namen nach bekannten Förderer Übersetzungen französischer Schriften angefertigt, sicher ist die Abfassung, weitere Stücke zum 'Moses' in den Jahren 1753-56. Edelmann war bemüht, theologisch auf der Höhe der Zeit zu bleiben.

So scheint er 1750 das Hauptwerk des englischen Deismus, Thomas Morgans 'Moral Philosopher' in englischer Sprache gelesen zu haben; in den ungedruckten Stücken des 'Moses' setzt er sich mit A.G. Masch und Jacob Koch auseinander.

Durch Abschriften, die seiner Freunde anfertigten und die durch den Tod eines Freundes und Beschlagnahme dessen Besitzes schon 1761 in den Besitz der Hamburger Stadtbibliothek gelangten, sind einige dieser Arbeiten erhalten geblieben. Nach 1759 fehlt jede Nachricht über seine Lebensumstände. Lediglich Edelmanns Tod am 15. Februar 1767 in Berlin wurde in verschiedenen Zeitungen notiert.

Edelmanns Bedeutung liegt in der frühen Vermittlung der französischen, holländischen und englischen Literatur an ein breites, an diesen Fragen interessiertes, deutsches Publikum. Edelmanns eigentliche Leistung unterhalb der deutschen Frühaufklärung bestand in der schonungslosen Aufdeckung von Widersprüchen in den traditionellen theologischen Lehrmeinungen, an die er mit zunehmendem Wachstum seiner Erkenntnis, den Maßstab der Vernunft anlegte.

Trotz der aktiven Verbreitung der Gedanken Spinozas und des Deismus blieb Edelmann im Grunde seines Wesens geprägt von seinen ersten theologischen Erfahrungen. Sein Wirken als theologischer Schriftsteller war eng mit den Erlebnissen seines an inneren Krisen reichen Lebens verbunden. Seine frühe Neigung zum Pietismus wurde durch J. Bethke, J.G. Gichtel, J.C. Dippel und P. Poiret vertieft und radikalisiert. Dies stellt ihn, mit G. Arnold und C. Hoburg als Vermittlern, in die mystisch-spiritualistische Tradition Caspar Schwenkfelds und Jakob Böhmes.

Die Verbindung der Streittheologie mit der durch den Pietismus geförderten Dynamik innerer Krisen hat Edelmann in bewegte Auseinandersetzungen um die Sakraments- und Erlösungsvorstellungen seiner Zeit geführt. So scheint es mir zulässig, ihn als "pietistischen Streittheologen" zu apostrophieren.

Edelmann hat seine heftigen religiösen Affekte auf eine Weise veröffentlicht, die den tiefemfpundenen Abscheu seiner theologischen Gegner erregte. Sein energisch geführter Kampf gegen seine Zurechnung zu bestimmten philosophischen und religiösen Systemen, und die erklärte Absicht, keine neue Sekte gründen zu wollen, lassen es angemessen erscheinen, auf den grundsätzlich beobachtenden Charakter hinzuweisen, mit dem Edelmann seine religiösen Erfahrungen beschreibt, ohne die von seinem Schöpfer verliehenen Autonomie des Verstandes, der Vernunft und der Sinne in ihrem Kern preiszugeben. Eine solche religiöse Position , die in der innerlichen Evidenz der Stimme Gottes im Gewissen gegründet ist, schlage ich vor, als "theologischen Empirismus" zu umschreiben.

Dieser hat Edelmann in Gegensatz zu den Lehrautoritäten der evangelischen Kirche seiner Zeit und zur Abkehr von der in der Bibel bezeugten Offenbarung von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus geführt, ließ ihn aber dennoch - vielleicht im Gegensatz zum gleichzeitig in Berlin wirkenden LaMettrie - an der metaphysischen Begründung seiner Religion festhalten. Es ist bemerkenswert, wie Edelmanns scheinbar gewonnene Befreiung aus der dogmatischen Bevormundung der Orthodoxie sich in neu bindet an Vorstellungen des Spiritismus und der Seelenwanderung.

So hoch sein Beitrag zur Entwicklung der modernen Religionswissenschaft zu veranschlagen ist, so wenig vermochte er, der Wahrheit der lutherischen Lehren von der Rechtfertigung und vom unfreien Willen in der Tiefe seines Gemütes inne zu werden.

Zu wünschen wären historische Untersuchungen über den Umfang und das Gewicht der von Edelmann in seinen Schriften verwendeten Quellen, sowie systematische Arbeiten über deren Einfluß und Auswirkung auf seine theologische Entwicklung. Ferner sind die ansatzweise bekannten Wirkungen auf den Antiklerikalismus und Atheismus gebildeter Kreise des aufstrebenden Bürgertums des 18. und 19. Jahrhunderts bislang noch wenig untersucht. Im Einzelnen sind zu nennen: Die Kenntnis und Benutzung Edelmanns durch Bruno Bauer und D.F. Strauß ( in seinen späteren Jahren), durch Friedrich Engels und Max Stirner. Auf die geistesgeschichtlichen Wirkungen Edelmanns auf Friedrich Nietzsche hat zuletzt Ernst Benz nachdrücklich hingewiesen.

Nachweise dazu in meiner kirchenhistorischen Hausarbeit zum ersten theologischen Examen, 'Die kirchliche und geistiges Situation des 18. Jahrhunderts im Spiegel der Selbstbiographie von Johann Christian Edelmann'; Kiel 1981.

+++

Neuere wissenschaftliche Bearbeitung erfuhr Johann Christian Edelmann durch die philosophische Dissertation (1994) von Annegret Schaper:

Ein langer Abschied vom Christentum. Johann Christian Edelmann (1698-1767) und die Deutsche Frühaufklärung.
Tectum Verlag, Marburg

Durch Vergleich der Handschriften in der Hamburger Staatsbibliothek hat sie nachgewiesen, dass Edelmann engen Kontakt zu Freimaurern in Hamburg und Berlin gehabt hat. Ich vermute, dass er nach der öffentlichen Verbrennung seiner Bücher nur noch Übersetzungen damals verbotener Schriften angefertigt hat, die als Handschriften innerhalb der Logen zirkulierten.

Eine solche Schrift scheint diese Vermutung zu bestätigen und ist kürzlich neu herausgegeben worden:

Anonymus [= Johann Joachim Müller]: De imposturis religionum (De tribus impostoribus). Von den Betrügereyen der Religionen. Dokumente, kritisch herausgegeben und kommentiert von Winfried Schröder. Verlag Fromann-Holzboog (Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung, Abt. I: Texte und Dokumente Bd. 6), Stuttgart/Bad Cannstatt 1999.

Angelika Dörfler-Dierken schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung vom 11.09.1999 in einer kurzen Besprechung des Bandes:

"Auch dem bedeutenden Religionskritiker Johann Christian Edelmann blieb die Schrift Müllers [De imposturis religionum] nicht unbekannt. Er übersetzte sie im Jahre 1761 (sic! HJE) ins Deutsche und verfasste einen ausführlichen Kommentar dazu. Leider ist diese Übersetzung nur in einem handschriftlichen «Extract» erhalten. Immerhin geht daraus hervor, dass Edelmann weniger Atheist als fromm und gerade deshalb kirchenkritisch eingestellt war. Er nimmt Jesus gegen den Verdacht betrügerischer Machenschaften ausdrücklich in Schutz; eine verhängnisvolle Rolle für die Christentumsgeschichte habe erst Paulus gespielt. "


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