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- Historikergalerie des Instituts für Geschichtswissenschaften -

Liberaler Staatswissenschaftler und chauvinistischer Historiker.

Zum 100. Todestag Heinrich von Treitschkes


  Was geht die Humboldt-Universität der 100. Todestag Heinrich von Treitschkes an, der am 15.9.1834 in Dresden geboren wurde, sich von einem kritisch liberalen Sachsen zu einem nationalistischen Preußenverehrer wandelte, am 28.4.1896 in Berlin starb und auf dem Alten Kirchhof der St.Matthäus-Gemeinde an der Großgörschenstraße in Schöneberg beigesetzt wurde? Eine Hochschule, die sich mit den Historikern Leopold von Ranke und Theodor Mommsen schmückt, darf Treitschke nicht ignorieren; mit ihm verbindet sie eine schwierige Beziehungsgeschichte.

War Treitschke überhaupt ein Historiker, und war der Berliner Treitschke der ganze Treitschke? 1874 wurde er als Nachfolger Rankes nach Berlin berufen, nachdem - eine Ironie der Historiographiegeschichte - der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt den Ruf abgelehnt hatte. Nun entstand seine unvollendete, in fünf Bänden bis zum Revolutionsausbruch 1848 reichende Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, die in kaum einem bildungsbürgerlichen Bücherschrank fehlte; vom Berliner Katheder aus schrie der zunehmend taube Treitschke seine glänzend formulierten Polemiken gegen "Reichsfeinde", seine expansionistische Agitation und sein historiographisches Bekenntnis "Männer sind es, die Geschichte machen" in den Hörsaal; er beeinflußte wie kaum ein anderer Historiker seiner Zeit das politisch-historische Bewußtsein der nachrückenden Führungsschichten, und er galt Briten und Franzosen im Weltkrieg als prototypische Negativfolie für einen planmäßig inszenierten deutschen Chauvinismus mit kriegerischen Weltmachtgelüsten.

Den Zeitgenossen galt er als bedeutender Historiker, zumal er in Rankes Nachfolge 1886 Historiograph des preußischen Staates wurde, auch wenn er die Geschichte ohne kritische Distanz in den Dienst seiner politischen Überzeugungen stellte und der Methode der historischen Quellenkritik eher spöttisch begegnete. Mit aristokratischer Arroganz verkündete er, daß "keine Kultur ohne Dienstboten auskäme", und in die Berliner Zeit fielen 1874 seine scharfen Attacken gegen den Sozialismus und vor allem gegen seine "Gönner", womit er den sozialreformerischen "Kathedersozialismus" seines späteren Ortskollegen Gustav Schmoller meinte, und seine antisemitischen Parolen "Die Juden sind unser Unglück" in den jahrzehntelang von ihm redigierten "Preußischen Jahrbüchern", welche 1880 den berühmt-berüchtigten Antisemitismusstreit mit seinem Ortskollegen Theodor Mommsen auslösten.

Die Berliner Universität hat sich in einem emblematischen Ensemble über diesen Grundsatzstreit zwischen nationalistischer Ausgrenzung und liberalem Rechtsempfinden hinweggesetzt. Zu beiden Seiten des 1899 im Vorhof der Universität aufgestellten Helmholtz-Denkmals wurden mit jeweils großer öffentlicher Anteilnahme am 9. Oktober 1909 das Treitschke-Denkmal und am 1. November 1909 das Mommsen-Denkmal enthüllt. Das Denkmal des altliberalen Geschichtsforschers und Nobelpreisträgers überdauerte mehrere Ortswechsel und befindet sich wieder am alten Platz. Treitschkes Konjunktur sank in den 20er Jahren, und schnellte in den 30ern empor, auch sein Denkmal wurde mit der Renovierung 1935/36 in den Seitenhof versetzt, 1951 dann abmontiert und eingeschmolzen. Entspricht diese Demontage dem Urteil der Geschichte, entsorgt sie die Geschichte dieser Universität von einem anrüchigen Erbe?

Ein neues Treitschke-Denkmal wird niemand wollen, aber die zu DDR-Zeiten übliche Feindbild-Darstellungen verstellen den Blick auf den ganzen Treitschke. Seine Biographie steht für sich, aber sie spiegelt zugleich charakteristisch die konservative Wende der maßgeblichen deutschen Bildungsschichten im Bismarckreich. Wie eine Grenzscheide teilen die Jahre um 1870 das politisch-wissenschaftliche Lebenswerk des Journalisten, Parlamentariers und Hochschullehrers. Begonnen hatte er als liberaler Staatswissenschaftler. Seine Habilitationsschrift von 1858 über die "Gesellschaftswissenschaften" bestritt zwar Robert von Mohls Lehre einer Trennung von Staat und Gesellschaft, charakterisierte soziale Gegensätze als politische Machtfragen, folgte Hegel in der Unterscheidung von gesellschaftlichen Partikularinteressen und staatlich ordnender Versittlichung, doch in den "Preußischen Jahrbüchern" vertrat er liberale bürgerliche Positionen, kritisierte er Preußen und dann vor allem Bismarck, und bewunderte der spätere Anglophobe das englische Unterhaus und die britische Aristokratie.

Als Hochschullehrer in Leipzig, Freiburg, Heidelberg, Kiel und auch in Berlin belebte er in staatswissenschaftlicher Tradition die zu einem dünnen Rinnsal ausgetrocknete Politikwissenschaft. Mochte er auch politisch als Kronzeuge eines neuen nationalistischen Ungestüms gelten, so verkörperte der Gelehrte weniger eine moderne, professionell-methodengenaue Fachhistorie, er repräsentierte vielmehr den Ausklang einer altliberal staatswissenschaftlichen Tradition, die Jurisprudenz, Ökonomie und Geschichte in politischer Absicht umschloß, kulturelle und gesellschaftliche Dimensionen einbezog und sich gegen disziplinäre Abschottungen verwahrte. Was die Zeitgenossen an ihm als aufregend modern bewunderten, erscheint heute als zeitverhaftet, abgestanden und als demagogischer Irrweg; wo sie den Historiker priesen und den Staatswissenschaftler vergaßen, da wird nun eben der frühe Treitschke wissenschaftsgeschichtlich interessieren. Und das Anstößige sollte dazu anstoßen, im Kontext der jüngeren Bürgertumsforschung Transformationen politischer Kultur im Deutschland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in biographischer Tiefenschärfe aufzuspüren. Ein Treitschke redivivus, in welcher Metamorphose auch immer, ist nicht vonnöten, wohl aber eine kritische Auseinandersetzung, die mehr Erkenntnisgewinn verspricht, als vertraute Unwertsurteile erwarten lassen.


Autor der biographischen Notiz: Rüdiger vom Bruch    -   Datum der letzten Überarbeitung: 29.11.96


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