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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Eine kleine Geschichte der Hungerkunst

Die brotloseste aller Künste

Von Peter Payer

Es war eine ungewöhnliche Wette, die Dr. Henry Tanner im Sommer 1880 abschloss: 40 Tage lang wollte er ohne zu essen auskommen, nur Wasser zu trinken sollte ihm erlaubt sein. Der amerikanische Arzt, der in Ohio eine Praxis und eine elektrothermische Badeanstalt betrieb, war der festen Überzeugung, dass eine befristete Nahrungsenthaltung die richtige Behandlung für zahlreiche Leiden sei. Im Selbstversuch ging es ihm nun darum, "die Kraft des menschlichen Willens zu demonstrieren und den Materialisten zu beweisen, dass es außer Sauerstoff, Wasserstoff und Kohlensäure noch etwas anderes im menschlichen Hirn gibt".

Am 28. Juni begann Tanner in der Clarendon Hall in New York City sein Experiment. Tag und Nacht bewacht, verbrachte er seine Zeit zumeist mit Schlafen, Zeitunglesen oder im Gespräch mit seinen Besuchern, die zu tausenden kamen, um - gegen Bezahlung einer Eintrittsgebühr - den freiwillig darbenden "Hungerdoktor" zu sehen. Zwar musste Tanner mehrmals kritische Phasen überwinden, doch nach 40 Tagen hatte er glücklich die Würde eines "Champion-Hungerers" errungen. Später wiederholte er noch mehrmals derartige Vorführungen, sodass er binnen kurzer Zeit eine ungeheure Popularität erlangte.

Nicht zuletzt aufgrund des auch in finanzieller Hinsicht beachtlichen Erfolgs, verbreitete sich das Schauhungern bald auch in Europa. Hier versuchte sich erstmals der italienische Reisende Giovanni Succi an einer "Hungertour". Am 18. August 1886 begann er in Mailand mit einer 30-tägigen Fastenperiode, und das Interesse war auch in dieser Stadt enorm. Unzählige in- und ausländische Besucher reisten an, um sich persönlich vom Wohlbefinden Succis zu überzeugen.

Umgehend war er zum "berühmtesten Mann des Augenblicks" geworden. Als er eines Abends - unter ärztlicher Begleitung - im Opernhaus erschien, unterbrachen die Sänger sogar ihre Vorstellung, da die Aufmerksamkeit des Publikums nur auf die Loge des Hungerkünstlers gerichtet war.

Wie bei Tanner warf auch diese Schaustellung einen beträchtlichen Gewinn ab. Succi unternahm in der Folge Tourneen in fast alle Großstädte Europas und wurde damit zum bekanntesten und berühmtesten Hungerkünstler seiner Zeit. Allerdings hielten ihn, der von sich selbst behauptete, übermenschliche Fähigkeiten zu haben und vom "Löwengeist" durchdrungen zu sein, auch manche für verrückt oder schlicht - für einen Betrüger.

Giovanni Succi in Wien

In Wien, der Stadt mit der "ewigen Schaulust" (Stefan Zweig), konnte man den exzentrischen Hungerkünstler im Frühjahr 1896 bestaunen. Ende März begann Succi im noblen Hotel Royal in der Singerstraße seine mittlerweile bekannte 30-tägige Hungertour. Man hatte ein Überwachungskomitee zusammengestellt, dem unter anderem Primarius Dr. Ritter von Limbeck sowie zahlreiche weitere renommierte Ärzte angehörten. Sie kontrollierten täglich Succis Gewicht, nahmen Kraftmessungen vor und protokollierten die Menge des getrunkenen Wassers. Die ärztlichen Bulletins wurden dem anwesenden Publikum mitgeteilt und auch in den Zeitungen veröffentlicht. Populäre Massenblätter wie das "Illustrirte Wiener Extrablatt" berichteten jeden Tag ausführlich über den Verlauf des Experiments.

Schon bei seinen früheren Hungervorstellungen hatte Succi demonstriert, wie gewandt er mit seinem Publikum umzugehen verstand. Im Frack, die Brust mit Auszeichnungen geschmückt, empfing er seine Gäste. Stets gut gelaunt, erzählte er von seinen früheren Abenteuern, hielt er Turn- und Fechtübungen ab oder tanzte er bei einem für ihn gegebenen Konzert mit einer Besucherin. Zwischendurch rauchte er behaglich Zigarren und beantworte die zahlreichen postalischen Anfragen. Auf den Zweck seiner Darbietung angesprochen, bezeichnete er sich als "Mann des Lichts", der mit seinem Hungerexperiment die Aufmerksamkeit der Physiologen, vor allem aber der Psychologen auf sich lenken wolle.

Das wissenschaftliche Interesse an seiner Person war für Succi nichts Neues. Bereits acht Jahre zuvor war er in Florenz während einer Hungertour von einem Ärzteteam unter der Leitung des Physiologen Luigi Luciani genauestens untersucht worden. Die Ergebnisse dieser - wie man betonte - einmaligen Gelegenheit, die Auswirkungen des Hungerns am "menschlichen Versuchsobjekt" zu studieren, wurden in der medizinischen Fachwelt eingehend diskutiert und schließlich sogar in einem eigenen, auch ins Deutsche übersetzten Buch publiziert ("Das Hungern. Studien und Experimente am Menschen").

Die Wiener Hungerveranstaltung avancierte zum gesellschaftlichen Ereignis, bei dem sich zahlreiche Prominenz einfand. Allerhöchster Gast war Erzherzog Leopold Salvator, der sich Succis Erläuterungen "mit vielem Interesse" anhörte und vor Schluss des Fastens wieder zu kommen versprach. Am Abend des 27. April beendete Succi seine Vorstellung. Auf dem Weg zum Abschlussfest im Hernalser Unterhaltungsetablissement Stalehner empfingen ihn hunderte Neugierige mit stürmischen Ovationen. Welch große Popularität der die Wiener und insbesondere die Wienerinnen durch seine Willenskraft und sein südliches Temperament beeindruckende Entertainer erlangt hatte, zeigte sich auch daran, dass ein Herrenmodengeschäft eigene "Succi-Cravatten" zum Verkauf anbot.

Nicht alle brachten dem Hungerkünstler jedoch eine derartig wohlwollende Zustimmung entgegen. In der "Stadt der Phäaken", in der Essen und Trinken traditionellerweise einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert innehatte, rief die künstliche Enthaltsamkeit Succis sogleich Misstrauen und Kritik hervor. Schon in den ersten Hungertagen hatte er zahlreiche merkwürdige Geschenke erhalten, darunter auch zwei paar Würstel mit den beigefügten Zeilen: "Wir Wiener lieben keine mageren Leut', - Haben nur an Dicken große Freud'. - Wir sind so gut, erbarmst uns sehr, - Zwei Würstel senden wir daher." Und auch in den Zeitungen fehlte es nicht an spöttischen Bemerkungen. Die immer wieder vorgebrachte Unterstellung des Betrugs sollte sich jedoch letztlich als - zumindest teilweise - berechtigt erweisen.

Zwar hatten die Mitglieder des Überwachungskomitees am 30. Hungertag ihre Schlusssitzung abgehalten und erklärt, dass das Experiment korrekt beendet worden sei, doch schon einen Tag später traten Zweifel daran auf. Ein Arzt behauptete, er habe Succi am 25. Hungertag zufällig in seinem Zimmer überrascht, wie dieser gerade ein Beefsteak aß und von einem Kellner ein Glas Sekt eingeschenkt bekam. Nach Prüfung der Sachlage musste man schließlich zugeben, dass die Hungertour genau genommen nicht 30, sondern nur 25 Tage gedauert hatte. Die ganze Angelegenheit war überaus peinlich. Primarius Limbeck versuchte den guten Ruf der Wissenschaft zu retten: "Ob der wissenschaftliche Werth einer solchen Fastenperiode, wenn dieselbe nun 25 oder 30 Tage dauert, durch diese kleine Differenz leidet, scheint mir kleinlich, zu discutiren."

Ungeachtet derartiger Vorfälle entwickelten sich die Auftritte von Hungerkünstlern auch weiterhin zu viel besuchten Spektakeln, die in keiner größeren Stadt mehr fehlen durften. Auch Wien erlag im Jahre 1905 erneut dem Hungerkünstler-Fieber. Riccardo Sacco, in den Zeitungen als "weltberühmter Hungerkünstler" angepriesen, präsentierte sich im Mai für 21 Tage im III. Kaffeehaus in der Prater Hauptallee. Sein Ruhm wurde allerdings sogleich durch eine Konkurrentin getrübt. Auguste Victoria Schenk, eine gebürtige Grazerin und ehemalige Schauspielerin, trat nur einen Monat später im benachbarten I. Kaffeehaus auf. Mit ihr war erstmals eine Frau in dieser bisher von Männern dominierten Schaustellerzunft tätig. Schenk wollte sich direkt mit Sacco messen, ein Vorhaben, das in den Zeitungen mit Ironie bedacht wurde: "Der Concurrenzkampf tobt auf allen Gebieten menschlichen Lebens; die Frau ist in vielen Berufsclassen zur gefürchteten Rivalin des Mannes geworden und nun haben die weiblichen Emancipations-Gelüste sogar die brotloseste aller Künste - die Hungerkunst, die bisher von Männern allein ausgeübt wurde, streitig gemacht. Frau Auguste Victoria Schenk, eine ehemalige Tragödin, ist die kühne Dame, die es unternommen hat, zu beweisen, daß auch das schwache Geschlecht unter Umständen einen starken Magen hat." Auguste Schenk hungerte schließlich zwei Tage länger als Sacco.

Standardisierte Inszenierung

Die Präsentation der Hungerkunst folgte mittlerweile - nicht zuletzt wegen des verbreiteten Misstrauens - einem standardisierten Ablauf. Konnte Succi während seiner Hungerzeit noch spazieren gehen und öffentliche Veranstaltungen besuchen, so fanden die Vorführungen Saccos oder Schenks nur mehr in einem einzigen Raum statt. Darin war ein transparenter Glaskasten aufgestellt, in dem der Hungerkünstler streng bewacht bis zum Ablauf der vereinbarten Zeit verblieb. Der Verzehr der letzten Mahlzeit, deren einzelne Gänge genauestens kundgetan wurden, die darauf folgende "Einmauerung" in das freiwillige Gefängnis sowie die spätere "Befreiung" daraus waren die spektakulärsten Momente jeder Hungertour, die besonders theatralisch inszeniert wurden.

Die Zuschauer rekrutierten sich zu einem beträchtlichen Teil aus Angehörigen des liberalen Bürgertums, denen der Anblick der Darbenden gleichermaßen zum Ausdruck des (wissenschaftlichen) Fortschritts wie zur anthropologischen und sozialen Selbstverortung diente. So orientierte sich denn auch die gesamte Inszenierung an Versatzstücken aus dem (bildungs)bürgerlichen Leben - von der gemütlichen, beinahe wohnzimmerartigen Einrichtung der "Zelle" mit Sofa und Lesefauteuil bis hin zur entsprechenden schöngeistigen Lektüre (Schenk las beispielsweise Schillers Maria Stuart).

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg verlor das Schauhungern allmählich an Attraktion; der Reiz des Neuen war, wie es schien, erschöpft. Auch Franz Kafka, der die Aufführungen der Hungerkünstler stets mit besonderem Interesse verfolgte, bemerkte in seiner berühmten Erzählung "Ein Hungerkünstler", dass sich "wie in einem geheimen Einverständnis . . . überall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet" habe. Erst in der von Inflation und Arbeitslosigkeit geprägten Nachkriegsgesellschaft kam es zu einer spektakulären Neubelebung. Im Unterschied zu den Darbietungen der Jahrhundertwende, bei denen die Suche nach neuen medizinischen Erkenntnissen noch eine gewisse Rolle gespielt hatte, entwickelte sich nun allerdings eine immer mehr rein ökonomisch ausgerichteten Unterhaltungsform. Ein Jahr ist dabei besonders hervorzuheben: 1926.

Es begann am 13. Februar, jenem Tag, an dem der Deutsche Jolly in Berlin auftrat, wo er einen neuen Hungerweltrekord von 44 Tagen aufzustellen gedachte. Die erfolgreiche Beendigung seines Vorhabens wurde zur ungeheuren Sensation, bei der eine Hysterie ausbrach und sich die Menschen im Getümmel die Kleider vom Leibe rissen. Insgesamt zählte man bei der Veranstaltung 350.000 (!) Besucher, der Reingewinn Jollys soll rund 130.000 Mark betragen haben.

Dies löste in ganz Europa einen wahren Hungerkünstler-Boom aus. Schon während des Auftritts von Jolly begannen in Berlin Ventego, Fastello, Harry, Wahlmann und die Kollegin Daisy mit ebensolchen Darbietungen. Harry Nelson trat in Leipzig auf, Harry Leut in Dresden, Rolf Petersen in Breslau, Jacky Jack und Don Polo in Halle, Tantalus in Chemnitz, Horst in Hamburg. In Paris hungerte Wolly, in Stockholm Sidi Hassan, in Budapest Alberti und eine Tirolerin namens Grete. Und auch in Wien kam es zu einem regelrechten Wettkampf um die Gunst des Publikums, bei dem die Hungerkünstler Nicky, Fred Ellern und Max Michelly sich gegenseitig zu überbieten suchten. Tatsächlich gelang es auch einigen von ihnen, Jollys Rekord zu übertreffen. So schafften die gemeinsam in ihrer "Zelle" eingeschlossenen Harry und Fastello 45 Tage, Max Michelly konnte schließlich sogar 54 Hungertage überstehen.

Angesichts der demotivierenden Flut an neuen Rekorden hielten allerdings immer weniger Akteure ihren Auftritt bis zum Ende durch. Die Berichte über physische und vermehrt auch psychische Zusammenbrüche häuften sich. Der finanzielle Ertrag all dieser Anstrengungen blieb - im Vergleich zu Jolly - weit hinter den Erwartungen. Dies lag vor allem auch daran, dass immer häufiger Fälle von Betrug auftauchten. Als prominentester Schwindler entpuppte sich kein geringerer als Jolly selbst, der heimlich Schokolade verzehrt hatte. Andere hatten in Absprache mit ihren Wächtern in der Nacht Hühnerbouillon oder Biomalz-Zuckerln zu sich genommen. Derart in Misskredit gebracht, verlor das Schauhungern rasch an Anziehungskraft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte die Kunst des Hungerns nur mehr für kurze Zeit eine gewisse Popularität. Der deutsche Hungerkünstler Heros wurde zum letzten, auch international bekannten Vertreter seines Faches. Die sich herausbildende Wohlstandsgesellschaft suchte ihr Unterhaltungsbedürfnis künftig auf andere Weise zu befriedigen.

Peter Payer ist Historiker und Autor des Buches "Hungerkünstler in Wien. Eine verschwundene Attraktion", das demnächst im Sonderzahl-Verlag Wien erscheinen wird.



Freitag, 14. Dezember 2001 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 14:57:00

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