die BRIGITTE-reportage

Ihr Verbrechen:
das Kind eines Deutschen zu sein

Ihre Väter waren Wehrmachtssoldaten, in Norwegen stationiert. Ihre Mütter Frauen, die Affären mit deutschen Besatzern hatten. Mehr als 9000 Kinder mussten nach dem Krieg dafür büßen: Sie wurden gedemütigt, misshandelt, in Heime gesteckt. Kiki Skjermo war eines dieser ungeliebten "Kriegskinder". Mit 140 weiteren Opfern verklagt sie die norwegische Regierung jetzt auf Wiedergutmachung

Kiki Skjermo bei einem Lagerfeuer am Fjord.
Manchmal spricht sie mit ihrem Kinderfoto: "Wenn du gewusst hättest, was dich noch alles erwartet..."

Die Hebamme hielt das Baby für tot, sie warf es schnell in eine Schublade. Die junge, geburtsmüde Mutter sah das wohl mit Erleichterung. Für ein paar Sekunden mag es ihr vorgekommen sein, als sei sie dem Schicksal gerade noch entwischt, als sei ihr Leben doch hoch nicht verpfuscht. Dann gellte aus der Schublade plötzlich ein trotziger kleiner Schrei. Es war Kiki, die da schrie, einer Welt entgegen, in der sie niemand willkommen hieß. Kiki, deren Verbrechen es war, das Kind eines deutschen Besatzungs-Soldaten zu sein. Kiki, die Schande brachte in das zwischen Fjord und Berg geklemmte Holzhaus in dem norwegischen Tal Surnadal.

Der Krieg war zu Ende, als Kiki Skjermo im August 1945 geboren wurde. Die deutschen Soldaten - eine halbe Million hatte die Wehrmacht zwischen 1940 und 1945 in Norwegen stationiert - saßen in Gefangenschaft, ihre norwegischen Geliebten wurden von hasserfüllten Landsleuten interniert, bespuckt, beschimpft, kahl geschoren. Auch Kikis Mutter nannten sie eine "Deutschendirne", doch sie hatte noch Glück: Sie kam unversehrt davon, als ihr Bruder versuchte, sie mit einer Axt zu erschlagen: eine Inhaftierung wurde ihr nur angedroht, die Haare blieben dran. Das Spargeld wurde ihr genommen, und in anonymen Briefen stand: "Solche wie du haben unsere norwegischen Soldaten ins Grab gebracht." Für Kiki blieb keine Liebe übrig. "Meine Mutter hat mich nie angefasst, mir nie den Kopf getätschelt, mich nie auf den Schoß genommen", sagt sie. "Sie ließ mich spüren, dass ich ihr Leben zerstört habe. Und ich fühlte mich schuldig."

Kikis Sätze sind Fluchten nach vorn. Sie erzählt das alles nicht gern und spricht deshalb schnell, damit es nicht so weh tut. Doch das funktioniert nicht. Die kräftige Stimme wird dünn, sobald sie von ihrer Kindheit spricht, der alte Schmerz reißt wieder auf. Sie blinzelt die Tränen weg und erzählt. Wie sie vergeblich um die Zuneigung der Mutter buhlte, die sie ganz den Großeltern überließ. Wie sie sich nach ihrem fremden Vater sehnte, von dem die Mutter nie sprach. Wie sie mit 13 zufällig in einer Blechdose auf ihre Geburtsurkunde stieß und erstmals seinen Namen las: Jürgen Böttger.

Auf der Kommode steht ein Kinderfoto im Silberrahmen: ein kleines Wesen allein auf einer Straße, Misstrauen im Blick, eine Puppe im Arm. Kiki spricht zu dem Mädchen, als sei es nicht sie selbst: "Wenn du gewusst hättest, was dich noch alles erwartet, du armes Ding." Dann nimmt sie sich zusammen, denn sie will auf keinen Fall wehleidig klingen. "Viele hatten es schlimmer als ich."

Mehr als 9000 Töchter und Söhne hinterließen die deutschen Soldaten in Norwegen. SS-Chef Heinrich Himmler hatte seine Leute mit dem ausdrücklichen Befehl nach Norden geschickt, so viele Kinder wie möglich zu zeugen - gern unehelich. Die Norwegerinnen galten in der Ideologie der Nazis als "Mütter guten Blutes". Blonde, blauäugige Frauen sollten "das deutsche Volk aufnorden", dem Reich viele "rassisch wertvolle" Germanenkinder schenken. Die SS richtete sogar acht so genannte "Lebensborn"-Heime in Norwegen ein. Wie daheim im Reich wurden dort Mütter und ihre unehelichen Kinder auf SS-Kosten aufgepäppelt. Es ging ihnen gut - solange der Krieg währte. Danach ließen die Norweger nicht nur die "Deutschendirnen", sondern auch ihre Kinder bitter büßen. "Jeder durfte auf uns herumtrampeln", sagt Kilo, die selbst nicht im "Lebensborn"-Heim war. "Die Experten der Regierung stuften uns als schwachsinnig ein!" Manche halb deutsche Kinder wuchsen nach dem Krieg in Irrenhäusern auf. Andere wurden in Kinderheimen untergebracht, in denen sie geschlagen und vergewaltigt wurden. Manche sollen sogar für LSD-Experimente missbraucht worden sein. Jetzt haben sich 140 Kriegskinder zu einem Verband zusammengeschlossen, um den norwegischen Staat auf Entschädigung für die vielen Demütigungen zu verklagen. Kiki gehört zum Vorstand des "Krigsbarnforbundet Lebensborn".

Gemeinsam haben sich die Kriegskinder eine Anwältin in Oslo genommen, haben ihr ihre Geschichten erzählt und gefragt, ob eine offizielle Rehabilitation möglich sei. Randi Hagen Spydevold, so heißt die junge Anwältin, war entsetzt über das, was sie hörte: "Wir harten in der Schule gelernt, dass wir Norweger im Krieg Helden waren. Von wegen! Diese unschuldigen Kinder wurden wie Abschaum behandelt." Ihre Klienten nennen sie freundschaftlich Randi, obwohl sie ihnen knallharte Fragen stellte. Die Glaubwürdigkeit jedes Einzelnen sei im Gerichtssaal enorm wichtig, erklärte sie ihnen. 40 Fälle hat sie abgelehnt, "weil sie unsere Sache hätten schwächen können". Leicht war das alles nicht. "Viele haben ihre Lebensgeschichte bei mir zum ersten Mal erzählt und sind danach in ein tiefes Loch gefallen." Randi Hagen Spydevold möchte, dass diesen Menschen das Schuldgefühl genommen wird, unter dessen Gewicht sie sich durchs ganze Leben geschleppt haben: "Viele haben miterlebt, wie ihre Mütter vergewaltigt oder mit Müll beworfen wurden. Sie fühlen sich für alles Elend dieser Welt verantwortlich." Doch es ist durchaus nicht sicher, dass die Klage Erfolg hat. Bisher sperrt sich die Regierung gegen den Vorwurf der Menschenrechtsverletzung ,argumentiert mit Verjährung. "Meine Klienten erwarten so viel von mir, dass es mir fast unheimlich ist", sagt die Anwältin.

Kiki geht heute schon zum zweiten Mal den steilen Weg zum Briefkasten hinunter, um zu sehen, ob Post von Randi da ist. In diesen Tagen soll das Gerichtsverfahren in Oslo beginnen - wann wird sie selbst in den Zeugenstand treten können? Die Sache ist Kiki sehr ernst. Sie betont, es gehe ihr vor allem um all die anderen, die wegen ihrer Vergangenheit depressiv und krank sind, die von Sozialhilfe leben, früh arbeitsunfähig wurden. "Im Vergleich dazu bin ich ja mit heiler Haut davongekommen", sagt Kiki. Es klingt entschuldigend, so, als wäre ihre Geschichte nicht schaurig genug, um erzählt zu werden. Dabei muss sie nur von der Terrasse ihres Hauses über den Fjord schauen, um an ihren eigenen Horror erinnert zu werden.

Weiße Strände und sattgrüne Berge sieht man dort, davor das Sägewerk. Dunkle Stämme, ordentlich aufgeschichtet, ein gewaltiges Holzlager, auf das die Sprenkler tagaus, tagein Fjordwasser sprühen. Es war der Sommer, in dem Kiki zehn Jahre alt wurde. Sie radelte gerade zum Badeplatz am Sägewerk, als ein Mann sich ihr in den Weg stellte. Er schlug sie mit einer Colaflasche und vergewaltigte sie. "Ich habe in meinem ganzen Leben keine Cola mehr getrunken", sagt Kiki. Dann zeigt sie auf ihren neunjährigen Enkelsohn Kristoffer, der nebenan in der Stube Zeichentrickfilme guckt und sich dabei mit seinen kleinen Händen eine von Omas Waffeln in den Mund stopft: "Ich war doch kaum älter als er."
 

Die Klage der Kriegskinder

Nach Abzug der deutschen Besatzer befand eine norwegische Regierungskommission, unter den Kriegskindern seien "verhältnismäßig mehr Psychopathen" zu erwarten als bei anderen Kindern, weil ein großer Teil der Mütter "schwach begabt" sei, einige seien "asoziale Psychopathen und sogar Geisteskranke". Daraufhin wurden viele Kinder ihren Müttern weggenommen und wuchsen in Kinderheimen und Irrenhäusern auf, in denen sie teilweise missbraucht und misshandelt wurden. Aber auch Kinder, die in ihren Familien blieben, hatten zu leiden - von ihren Müttern ungeliebt, in der Schule gemobbt. Die Klage in Oslo basiert auf dem Vorwurf der Menschenrechtsverletzung durch den norwegischen Staat. Je nach Schwere des Falles (die Anklage lautet von Ehrverletzung bis hin zu Folter) und dem finanziellen Verlust, der durch psychosomatische Erkrankungen entstanden ist, verlangen die Kläger bis zu 500 000 Mark.
 

Dunkle Stämme, sauber aufgeschichtet: das Sägewerk, wo Kiki vergewaltigt wurde. Neun war sie damals, kaum älter als ihre Enkel heute

Sie setzt sich ins Auto und fährt zu der Stelle, an der es passierte. Holzspäne liegen am Boden, ein Geruch von frisch gesägtem Holz hängt in der Luft. Kiki spricht leise: "Mir wird flau im Bauch, sobald mir das in die Nase kommt." Das Schlimmste an der Vergewaltigung war der Satz, den der Mann dabei aussprach: "Solche wie du sind dafür geboren, dass man das hier mit ihnen macht." So oft die kleine Kiki diesen Satz in ihrem Kinderkopf wendete, konnte er nur eins bedeuten: Der Mann hatte sie vergewaltigt, weil sie das Kind einer "Deutschendirne" war. Deshalb sprach sie mit niemandem über das, was geschehen war, quälte sich allein mit dem Gedanken, das alles irgendwie verdient zu haben. Immer wieder stand sie auf der Brücke über den Fjord, kurz davor, herunterzuspringen.

Statt dessen half sie den anderen beiden Deutschenkindern in der Schule, wenn sie gemobbt wurden, prügelte sich für sie mit den schlimmsten Rüpeln. Kiki zeigt ein bisschen stolz ihre Narbe: Nasenbeinbruch im Kampf um die Gerechtigkeit, für Karl, der heute den Campingplatz betreibt, auf dem der Kriegskinder-Verband im Herbst seine Generalversammlung abhält. Dort, wo früher die Grundschule war, steht heute nur noch langes Gras. Direkt darüber hat Kiki ihr Haus an den Hang gebaut. Das Grundstück war nicht zufällig gewählt. Mitten im Garten liegt ein flacher Fels: "Wenn es in der Schule besonders schlimm war, bin ich immer zu ihm hoch gekrochen, um mich auszuweinen."

Im Zeugenstand wird Kiki auch von den vielen kleinen Demütigungen erzählen, die sie in ihrer Jugend ausgestanden hat. Zum Beispiel, als ihre Großtante sagte: "Sie hat Schweineborsten, Pferdezähne, Katzenaugen und ist noch dazu Deutschenkind. Was soll aus der schon werden?" Oder als ein Nachbar sich am Nationalfeiertag darüber aufregte, dass "die da" im Fahnenzug mitmarschieren durfte. Oder der grausame Augenblick, als ein Tanzpartner sie mitten auf der Tanzfläche stehen lief, weil sie zugab, ihr Vater sei Deutscher. Keine strafbaren Handlungen, aber in ihrer Häufung genug, um eine Seele zu zerdrücken. Kiki verteidigte sich nie. "Ich schämte mich dafür, Deutschenkind zu sein."

Sigurd war der erste Mensch, der Kiki je richtig in den Arm nahm. Die Verwandten gaben dem Paar zwei Jahre - heute sind es über 40. Rechts: Der Fjord von Surnadal. Kiki zog trotz aller Demütigungen nie von hier weg.

Dann zog ein junger Busfahrer aus dem Nachbartal nach Surnadal. Mit 14 Jahren lernte Kiki ihn am Busbahnhof kennen: Sigurd, der schon 20 war, attraktiv, bedächtig, verlässlich. Die beiden verliebten sich sofort. "Sigurd war der erste Mensch, der mich je richtig in den Arm genommen hat", sagt Kiki. Ein Jahr später war sie schwanger, und die beiden heirateten; weil die Braut minderjährig war, brauchten sie eine Sondergenehmigung des Königs. Keiner glaubte an diese Ehe, die eine Flucht war, raus aus denn Haus am Fjord, in dem Großeltern, Mutter und Kind sprachlos nebeneinander herlebten. Die Großtanten gaben dem Paar zwei Jahre - inzwischen sind es über 40. Zwei Kinder haben sie großgezogen, drei Enkel bekommen, und noch immer legt Sigurd den Arm um sie wie ein junger Verliebter. Zusammen haben sie das Jahr überwunden, als Kikis verdrängtes Leid nach oben spülte und sie immer wieder die zweieinhalb Stunden in die Psychiatrie von Trondheim fahren musste, bis die Depression auskuriert, das Schuldgefühl eingedämmt, ein bisschen Selbstwertgefühl gefunden war. Da war Kiki 30. Zusammen haben sie auch den Krebs überstanden, an dem Kiki vor vier Jahren erkrankte. Da war sie knapp über 50. Seither kann sie keine Touristen mehr führen, ist Frührentnerin und Vollzeit-Oma. Gerade schmiert sie Brote für ihre Enkel, wechselt dann dem Nachbarsjungen die nassen Socken, bereitet nebenbei einen Elchbraten fürs Abendessen. Im Alltag ist Kiki eine fröhliche, energische Frau, die ihre Familie zusammen- und warm hält. Sie lacht gern, raucht viel und drückt ihre Kinder oft an ihr Herz. "Sie sollten nicht das Gleiche erleben wie ich."

Nachdem sie Sigurd geheiratet hatte, begann Kiki, ihrem Vater in Gotha zu schreiben. Die Adresse hatte sie sich über die norwegische Botschaft in Ostberlin beschafft. Doch erst 1980, mit 35 Jahren, konnte sie ihn zum ersten Mal in der DDR besuchen. Ein norwegisches Wochenblatt reiste mit: "Lieber Papa, ich habe dich noch nie gesehen!", titelte die Zeitschrift. Angespannt und aufgekratzt sei sie gewesen vor diesem Treffen mit dem Vater, den sie ein Leben lang herbeigesehnt hatte. Und dann stand er plötzlich vor ihr, sah sie minutenlang an, bevor er sie weinend in die Arme nahm. Die Zeitschrift zeigte das Bild einer glücklichen Kiki, die nicht nur ihren Vater Jürgen Böttger, sondern auch seine deutsche Ehefrau und die Halbschwester umarmt. Kiki hütet dein Artikel wie einen Schatz. "Als ich Papa getroffen habe, hat sich in mir endlich alles beruhigt." Es war mutig von Kiki, sich öffentlich als Deutschenkind zu outen - die meisten verschwiegen ihre deutsche Herkunft damals noch. Ein paarmal hat der Vater Kiki danach in Norwegen besucht, von der Terrasse das Lichtspiel über dem Fjord bestaunt und ihr endlich etwas über seine Jahre in Surnadal erzählt.

Norwegen war bei den deutschen Soldaten beliebt. "Schlagsahnefront" nannten sie es, denn zu essen gab es genug. Die meisten Männer wurden zur Erholung nach Norden versetzt, nachdem sie an der Ostfront verletzt worden waren - auch Kikis Vater, der 1941 nach Surnadalsöra kam. Das heute schläfrige Nest war damals ein Handelszentrum. Mit Pferd und Wagen kamen die Ballern aus dem ganzen Tal, um bei den Kolonialwarenhändlern, in den Fleischereien, den Bäckereien oder im Blumenladen einzukaufen, um in den Cafes zu sitzen, die Schuhe zum Schuster zu bringen oder das Pferd beim Schmied beschlagen zu lassen. Sogar zwei Goldschmiede gab es und drei kleine Konfektionsfabriken, in einer davon war Kikis Mutter Näherin.

Bei ihren Großeltern wurden damals gleich mehrere Deutsche einquartiert, denn sie betrieben eine Pension mit acht Zimmern. Jürgen Böttger aus Gotha war ein kleiner, geschmeidiger Mann, vor dem Krieg war er Zirkusakrobat gewesen. Die Frauen des Hauses mochten ihn, er durfte sogar mit der Familie Weihnachten feiern. Irgendwann kurz vor dem Weihnachtsfest 1944, als es draußen bitterkalt war und die Gischt des Fjords bis an die Fenster spritzte, muss er zur Tochter des Hauses ins warme Bett gekrochen sein. 25 war Marie, keine Schönheit, in Jürgen verschossen. Dass er gleichzeitig auch eine deutsche Krankenschwester in einem Ort hinter den Bergen zur Freundin hatte, wusste sie wohl nicht. Und als Kiki geboren wurde, machte das sowieso keinen Unterschied mehr, denn Jürgen saß längst in Gefangenschaft und wurde schließlich nach Deutschland zurückgeschickt, ohne je sein Kind gesehen zu haben.

1993 besuchte Jürgen Böttger seine Tochter in Norwegen und traf dabei nach 48 Jahren Kikis Mutter Marie wieder. Er habe sie heiraten wollen, sagte er ihr - Marie war überglücklich, sie fühlte sich rehabilitiert.

Bei seinem letzten Besuch in Norwegen begegneten sich Jürgen und Marie wieder. Das Wochenblatt war auch diesmal dabei: "Sie traf ihren Geliebten nach 48 Jahren wieder!" In einem Herz daneben steht: "Tochter brachte Eltern zusammen." Und auf einem Bild sitzt die alte Marie in feiner Bluse, den Rücken zusammengesunken, die Hände geschwollen, aber die Augen stolz direkt in die Linse gerichtet. "Sie fühlte sich öffentlich rehabilitiert, weil er sagte, er habe sie damals heiraten wollen", sagt Kiki. Sie lacht. Das sei zwar erlogen gewesen, aber das war ja längst egal. Jürgen Böttger war eben ein Gentleman. Seit seinem Tod ist außer Kiki und den zwei Halbschwestern aus erster und zweiter Ehe auch noch ein Halbbruder aufgetaucht, von dem bis dahin keiner etwas wusste. "Wir würden uns nicht wundern, wenn er nicht der letzte war", sagt Kiki.

Wenn sie in Surnadalsöra die Straße entlanggeht, grüßt sie alle Vorbeifahrenden. Warum sie nie aus ihrem Heimatort weggezogen ist, in dem jeder ihre Geschichte kennt, ist für sie schwer zu erklären. Sigurd und sie hätten das wohl real vorgehabt, aber darin war erst die Großmutter, später die Mutter krank geworden. Und schließlich hat Kiki gelernt, sich mit den Leuten und der Vergangenheit zu arrangieren. Längst ist sie mit den Nachbarsjungen versöhnt, die damals die Deutschenkinder mobbten. Einmal ist sie sogar in die Stadt Alesund gefahren, weil sie ihren Vergewaltiger sehen wollte. Doch der hatte sich kurz zuvor von der Kaimauer gestürzt.

Der Mutter hat sie die Hand gehalten, als sie vor zwei Jahren starb. Nah sind sie einander bis zum Ende nicht gewesen, doch Kiki hat den Mut gehabt, ihr zu verzeihen. Sie hat verstanden, dass die Mutter von ihrer Umgebung dazu getrieben wurde, ihr Kind nicht anzunehmen. Heute ist es der norwegische Staat, von dem Kiki Genugtuung will: "Nicht nur für uns, sondern auch für unsere Mütter."
 

TEXT NINA FREYDAG
FOTOS KERSTIN EHMER
 

Brigitte
DAS MAGAZIN FÜR FRAUEN

23/2001