«Ich entschuldige mich, ich schäme mich»

Wojciech Jaruzelski, Polens letzter kommunistischer Führer, liess 1981 die Freiheitsbewegung niederschlagen und muss bald vor Gericht. Ein Gespräch über Geschichte, die nie schwarz-weiss ist.

29.02.2008 von Mathias Plüss , 2 Kommentare

Er teilt Polen, immer noch. Wann immer Wojciech Jaruzelski etwas tut oder sagt, jault ein Teil seiner Landsleute auf. «Selbst wenn ich Kandidat für einen Mondflug wäre», sagte er einmal, «hiesse es, das sei gefährlich, ich würde die Atmosphäre des Mondes vergiften.»
Jaruzelski hat eine kommunistische Musterkarriere hinter sich: Kampf gegen Hitler-Deutschland, 1947 Parteieintritt, 1956 Ernennung zum General, 1968 Verteidigungsminister, 1981 Ministerpräsident und Generalsekretär der Partei, 1989 Staatspräsident. Doch seine frühe Biografie ist keineswegs typisch sozialistisch: Die Familie gehörte zum katholischen Landadel, Wojciech wuchs auf einem herrschaftlichen Gut auf. 1941 wurden die Jaruzelskis, von den Russen als «gefährliche Elemente» eingestuft, zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschleppt. Der Vater kam ins Arbeitslager und starb 1942 entkräftet. 1943 meldete sich Wojciech freiwillig bei einer in der Sowjetunion gegründeten polnischen Division, machte die Offiziersschule und zog als Aufklärer in den Krieg.
Jaruzelski ist, wie nur wenige andere ehemalige Kommunistenführer, zur Selbstkritik fähig. Zwar klingt auch er manchmal wie ein Apparatschik, doch wenn man ihn auf die Zerschlagung der Freiheitsbewegungen in der Tschechoslowakei (1968) und Polen (1981) anspricht, ringt er sich sogar zu Entschuldigungen durch. Kann man sich einen Erich Honecker vorstellen, der sich für den Bau der Mauer entschuldigt? Eben.
Kurz nach dem Gespräch mit dem «Magazin» erlitt Jaruzelski eine Lungenentzündung, seither liegt der 84-Jährige in prekärem Gesundheitszustand im Militärkrankenhaus von Warschau.

Herr General, wenn man in der Schweiz den Namen «Jaruzelski» erwähnt, erinnern sich die meisten Leute zuerst an Ihre dunklen Brillengläser. Warum tragen Sie immerzu diese Sonnenbrille?
Ich trage diese Brillen seit vielen Jahren, weil ich empfindliche Augen habe. Es begann 1941 in Sibirien, wo ich in der Taiga arbeitete. Im Winter kann dort, verstärkt durch den Schnee, die Sonne unerbittlich hell scheinen. Wir hatten keinerlei Schutz, und so bekam ich Probleme mit den Augen. Der zweite Grund war, dass es mich damals sehr nach Lektüre dürstete. Nun gab es dort aber keine polnischen Bücher, und ich konnte kein Russisch. Also habe ich die kyrillische Schrift gelernt und mich wie durch einen Dschungel durch russische Bücher gekämpft, Tolstoi, Turgeniew, Tschechow. Wir hatten kein elektrisches Licht, nur Senfgläser mit Petroleum, die man an einem Docht anzünden konnte. Das hat aber mehr gequalmt als geleuchtet. So habe ich mir, durch meine Leselust, die Augen verdorben.

Sie wurden als Zwangsarbeiter nach Sibirien deportiert, als 17-Jähriger.
Ja. Ich komme aus einer wohlhabenden, adligen Familie; ich hatte sechs Jahre in einem katholischen Internat verbracht und war damals sehr gläubig. Diese Taiga, dieses ferne Sibirien, das war für mich eine komplett fremde Welt – ich war darauf überhaupt nicht vorbereitet. Dazu kam die Arbeit, die überaus schwer war.

Was war das für eine Arbeit?
Wir mussten sibirische Arven fällen, gewaltige Bäume. Es gab keine mechanischen Hilfsmittel, nur gewöhnliche Sägen. Damit haben wir an den Bäumen gesägt, zu zweit, jeweils ein Knie am Boden. Ich habe bis heute Probleme mit der Wirbelsäule von dieser Arbeit. Aber sie hatte zwei Vorteile: Wir waren an der frischen Luft, und wir standen unter Diät. Denn ums Essen war es dort sehr schlecht bestellt. Man weiss ja, dass frische Luft und Diät gut sind für die Gesundheit, vielleicht lebe ich deswegen so lange. Das ist natürlich ein Scherz.

Was war Ihr schlimmstes Erlebnis im Krieg?
Die Deportation. Die kamen in der Nacht, verhafteten uns und brachten uns zum Bahnhof. Wir wurden in einen Viehwaggon gesperrt, viele zusammen, Alte und Junge, Männer und Frauen, wie Heringe in der Konserve. Am Boden des Wagens lag Stroh, und in der Mitte war ein Loch, wo man seine Notdurft verrichten konnte. Ab und zu bekamen wir eine Wassersuppe, sonst nichts. So fuhren wir fast einen Monat lang gegen Osten.

Nach Polen zurück kamen Sie kämpfend, als Aufklärungsoffizier einer polnischen Division. Die Wahrscheinlichkeit, in diesem Job zu überleben, beträgt etwa eins zu zehn, heisst es.
Nun ja, als Aufklärer ist man zuvorderst an der Front, man hat die schwierigsten Aufgaben. Ich habe manche sehr gefährliche Situation erlebt und wurde zweimal verletzt. Am schmerzhaftesten war für mich aber nicht das, was mich selber traf, sondern der Verlust meines engen Freundes Ryszard Kulesza.

Sie waren zusammen an der Front?
Ja, ich war sein Vorgesetzter. Es war während der Kämpfe an der Alten Oder in der Nähe von Berlin, wo sich Hitlers Truppen besonders hartnäckig verteidigten. Der Kommandant hiess mich, die Gegend genauer auskundschaften, und so sandte ich nach meinem Freund. Doch die Ordonnanz kam zurück und sagte: «Herr Oberleutnant, er schläft noch, er ist unheimlich müde.» Wir hatten lange Nachtmärsche hinter uns. So bin ich selber zu Ryszard gegangen und habe ihn geweckt. Ich erklärte ihm die Aufgabe, er nahm sich ein paar Soldaten, ging los – dann explodierte eine Artilleriegranate. Er starb vor meinen Augen. Ich hatte schon etliche Menschen sterben sehen, aber das war besonders bitter. Er war mein Herzensfreund, und ich hatte ihn faktisch in den Tod geschickt. Gewiss, das ist die unerbittliche Logik des Kriegs. Aber bis zum Kriegsende fehlten nur noch drei Wochen.

Sie haben einmal gesagt: «Ich liebe Russland, ich liebe die Russen, auch wenn dies heute nicht Mode ist.» Das ist nicht leicht zu verstehen. Immerhin wurden Sie von den Russen deportiert, es gab das Massaker von Katyn, wo Stalin nahezu 15000 polnische Offiziere und Soldaten kaltblütig ermorden liess…
Ich will Ihnen die Geschichte meiner Familie erzählen. Mein Grossvater nahm 1863 am Januaraufstand gegen Russland teil und musste acht Jahre nach Sibirien. Mein Vater kämpfte 1920 als Freiwilliger im polnisch-sowjetischen Krieg gegen die Russen. Unsere Familie wurde 1941 nach Sibirien verschleppt; mein Vater kam dort ums Leben. Dadurch hat sich bei mir logischerweise ein gewaltiger Hass auf Russland aufgestaut.

Und wie wurden Sie ihn los?
Das war ein langer Prozess. Zunächst habe ich gewöhnliche Russen kennengelernt, hauptsächlich Sibirer. Einfache, herzliche Leute, die mit einem ihr Brot teilten. Dann kam die russische Literatur, die mir sehr nah ist, die russische Seele. Und dann die Armee. Ich hatte russische Kollegen, russische Vorgesetzte, russische Untergebene. Nichts bringt die Menschen einander näher als der gemeinsame Kampf an der Front. Wenn einer dem anderen das Leben rettet.

Das ändert nichts an den Verbrechen von Stalin und Konsorten.
Nein, aber ich finde, man muss unterscheiden zwischen dem System und den Menschen. Es gab natürlich diese fürchterliche stalinistische Pathologie, auch später den Breschnew-Stil, das habe ich ja selber erlebt. Aber das hat nichts mit den gewöhnlichen Menschen zu tun. Die Russen, finde ich, sind uns nah, man kann sich mit ihnen anfreunden, man kann sie sogar lieb gewinnen.

Sie meinen also, die Russen hätten eine ähnliche Mentalität wie zum Beispiel die Polen oder die Schweizer?
Nun ja, jede Nation hat ihre Traditionen. Bei den Russen ist die Tradition des Gehorsams tief verwurzelt: Ein Vorgesetzter hat immer recht. Das war schon unter den Zaren so. Es gibt eine passende Redensart: «Ja natschalnik, ti durak. Ti natschalnik, ja durak.» Was so viel heisst wie: «Wenn ich der Chef bin, bist du der Trottel. Bist du der Chef, bin ich der Trottel.» Da ist etwas dran.

Sehen Sie im heutigen Russland diese Pathologie des Systems immer noch, von der Sie gesprochen haben?
Ich sehe das Ganze nicht so dramatisch. Ich glaube an die russische Nation, und ich bin fest davon überzeugt, dass sie trotz allen Problemen eine grosse Nation bleiben wird. Natürlich ist Russland keine klassische Demokratie. Ich glaube aber, dass es auf lange Sicht eine werden kann. Es wird eine russische Variante der Demokratie sein; schliesslich ist es in jedem Land wieder ein bisschen anders. Die Schweizer Demokratie ist gewiss anders als die amerikanische, ihr habt ja zum Beispiel eure Kantone und viele weitere Besonderheiten.

Wie beurteilen Sie Putin?
Putin hat es geschafft, den Russen nach den schwierigen Neunzigerjahren das Gefühl zu geben, sie seien wieder jemand. Um das zu erreichen, musste er die Schraube anziehen. Man sollte das mit mehr Gelassenheit betrachten, unter Berücksichtigung der Mentalität und Geschichte dieses Landes.

Polen hat sich nach 1989 wirtschaftlich und politisch tief greifend erneuert. Warum ist das Russland nicht gelungen?
Man muss sehen, dass solch weitreichende Reformen, wie sie in Polen durchgeführt wurden, den Lebensstandard zunächst gewaltig hinunterdrücken. Es gab eine riesige Arbeitslosigkeit, die Sparbücher lösten sich in Luft auf, manche erlebten extreme Armut. Es war eine schwere und schmerzhafte Operation, aber sie gelang. Warum? Wenn man eine Operation machen will, braucht es eine Narkose. Und wir hatten unsere Narkose: Das alte System war weg, die Russen waren weg, die Amerikaner liessen ihre Dollars auf uns niederregnen, und dazu hatten wir noch unseren polnischen Papst. Das alles hat uns in der schwierigsten Zeit geholfen. Die Russen hingegen hatten keine Narkose, im Gegenteil: Ihr Vaterland, die Sowjetunion, war zerfallen! Die einzelnen Republiken hatten sich abgespalten. Das ist, wie wenn man jemandem einen Körperteil ausreisst. Diese Wunden sind noch nicht verheilt. Darum dauert bei ihnen alles viel länger.

2008 jährt sich die Niederschlagung des Prager Frühlings zum 40. Mal. Sie haben sich 2005 im tschechischen Fernsehen dafür entschuldigt. Warum?
Ich habe mich mehrfach öffentlich entschuldigt. Und zwar als ehemaliger Verteidigungsminister, dem die polnischen Truppen unterstellt waren, die 1968 in Prag einmarschierten. Aber auch als einer, der seither ein gutes Stück Weg zurückgelegt hat und die Angelegenheit heute ausgeglichener beurteilen kann.

Was wissen Sie heute besser als damals?
Ich habe zum Beispiel erst 1981 verstanden, dass viele sowjetische Informationen über die Tschechoslowakei manipuliert waren.

1981 sassen Sie selber in der Bredouille. Die freie Gewerkschaft Solidarnosc wurde immer stärker, Moskau drängte Sie, etwas dagegen zu unternehmen.
Es war im März 1981, ich war Premierminister. Der Generalsekretär der Partei, Stanis?aw Kania, bekam einen Anruf von Breschnew aus Moskau, und er hat mir sofort davon erzählt. Breschnew habe mit ihm laut geschimpft, wir seien viel zu tolerant mit der Opposition: «Könntet ihr nicht irgendwo zwei, drei Waffenverstecke der Solidarnosc finden?» Mir kam sofort in den Sinn, wie man uns 1968 informiert hatte, in der Tschechoslowakei seien Waffenverstecke der konterrevolutionären Kräfte gefunden worden. Wir hatten das damals geglaubt! Erst 1981 begriff ich, dass es Falschinformationen waren.

Warum konnte man die Tschechoslowakei damals nicht ihren eigenen Weg gehen lassen?
Ich will die Invasion keineswegs verteidigen – ich halte sie für schändlich, schlecht und schädlich. Aber man muss sie im Kontext der Zeit verstehen. Es war die Zeit des Kalten Kriegs, das Wichtigste war die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen den beiden Blöcken. Wir hatten Angst, dass der Prozess, der in der Tschechoslowakei begonnen hatte, dieses Gleichgewicht stören und sich auf andere Länder übertragen könnte, was zu einer Destabilisierung geführt hätte. Destabilisierung bedeutet Krieg, und Krieg bedeutet totale Katastrophe.

Es war also klar, dass man einmarschieren musste?
Aus damaliger Sicht schon. Wissen Sie, wir haben das nicht gern gemacht. Man hat es getan, weil es nicht anders ging. Die Gespräche mit Alexander Dub?ek, der den Prager Frühling eingeleitet hatte, dauerten Monate. Ich kann mich gut an eine Konferenz Anfang 1968 in Prag erinnern. Dub?ek machte auf mich den Eindruck eines ehrlichen, aber schwachen Menschen. Er hatte Tränen in den Augen. (Mit weinerlicher Stimme:) «Aber wir wollen hier doch nur das Beste, wir sind Sozialisten, wir lieben die Sowjetunion, bei uns ist doch alles in Ordnung» und so weiter und so weiter. Ich spürte bei ihm eine überwältigende Schwäche. Daran habe ich 1981 immer gedacht, als bei uns die Invasion drohte: Auf keinen Fall Schwäche zeigen! Wer schwach ist, braucht Hilfe. Wenn ein Vakuum entsteht, wird einmarschiert. Darum habe ich immer betont, unsere Armee sei diszipliniert, wir könnten unsere Probleme selber lösen.

Herr General, wir müssen über den 13. Dezember 1981 sprechen, die Ausrufung des Kriegsrechts.
(seufzt) Ach wissen Sie, das war wahrscheinlich die schwerste Entscheidung meines Lebens. Das Interessante ist: Es ist nun 26 Jahre her, und ich weiss heute bedeutend mehr als damals. Und je mehr ich weiss, desto überzeugter bin ich, dass der Entscheid richtig und unvermeidlich war. Was mir das Gefühl einer gewissen Befriedigung gibt, ist, dass bis heute eine Mehrheit der Polen meine Meinung teilt – trotz der ganzen Propaganda, die mich beschuldigt.

Im April 2007 wurde am Bezirksgericht Warschau ein Verfahren gegen Sie und weitere Verantwortliche von damals eröffnet. Im schlimmsten Fall müssen Sie acht Jahre ins Gefängnis.
Ja. Ich habe mal scherzhaft dazu gesagt, dass das für mich sehr optimistisch klingt. Offenbar glauben die Staatsanwälte, dass ich noch so lange lebe.

Wie denken Sie über das Verfahren?
Besonders bitter für mich ist, dass mir die Anklage vorwirft, ich sei «Leiter einer organisierten verbrecherischen Vereinigung» gewesen. Das ist doch lächerlich! Wir waren doch die legale Macht im Staat, wir haben im Rahmen der Gesetze gehandelt, wir haben keinen Staatsstreich begangen! Wie kann man da von einer «verbrecherischen Vereinigung» sprechen? Das ist ein Strafartikel, der normalerweise auf Gangsterbosse angewendet wird.

Wie ist der Stand des Verfahrens?
Im Moment wird die Angelegenheit zwischen den Gerichten hin- und hergeschoben wie eine heisse Kartoffel. Die wollen möglichst nichts damit zu tun haben. Aber wahrscheinlich wird früher oder später jemand verknurrt, den Prozess zu führen. Dabei hätte ich ja die Möglichkeit gehabt, dies alles zu verhindern.

Wie denn?
Es hätte im Rahmen der Verhandlungen am Runden Tisch 1989 die Möglichkeit gegeben, diese Akte für immer zu schliessen. Doch für mich war es unter meiner Offizierswürde, mir einen Schein ausstellen zu lassen, der mich für die Zukunft absichert. Nun, kurz darauf wurde ich Präsident. Wissen Sie, warum ich Präsident wurde?

Erzählen Sie!
Ich wollte nicht Präsident werden. Es gab damals eine Welle von Anschuldigungen, auch von Lech Walesa, den ich ja sonst schätze und mag, sodass ich offiziell verkündete, nicht fürs Präsidentenamt zu kandidieren. Im Juli 1989 stattete Präsident George Bush senior Polen einen Besuch ab. Das Folgende hielten Sie vielleicht für übertrieben, wenn ich es Ihnen erzählte, aber Bush hat es in seinen Memoiren festgehalten: «Es gab ein Treffen mit General Jaruzelski. Geplant war ein Höflichkeitsbesuch, zehn Minuten beim Kaffee. Daraus wurden zwei Stunden.» Ich zitiere Ihnen das wörtlich: «Und ich musste», schrieb Bush, «einen kommunistischen Leader dazu überreden, Präsident werden zu wollen. Denn er wollte nicht. Ich aber hielt es für notwendig, um diesen übergang flüssig, elastisch, ohne Kollisionen zu meistern.»

Bush hat Sie überzeugt?
Ja. Als ich wusste, dass mich die Amerikaner unterstützen, habe ich zugesagt. Aber was ich eigentlich erzählen wollte: Ich war bis Ende 1990 Präsident. Als ich zurücktrat, wurde sofort eine Untersuchung gegen mich eingeleitet. Man kam zum Schluss, die Einführung des Kriegsrechts sei durch höhere Gewalt erzwungen worden, und hat das Verfahren 1996 eingestellt. Jetzt, elf Jahre später, kommt das nächste.

Woher nehmen Sie die Kraft, weiterzukämpfen?
Die Kraft, nun ja. (seufzt tief) Wissen Sie, für mich ist das alles sehr bitter. Ich habe mein ganzes Leben für Polen gekämpft, habe die höchsten Orden bekommen, habe, wie ich meine, das Land 1981 vor einer gewaltigen Katastrophe gerettet. Und nach alledem wird man angeklagt wie ein Wegelagerer, wie ein Bandit, wie ein Bankräuber. Eigentlich hatte ich gehofft, nach meiner Präsidialzeit ein wenig verschnaufen zu können. Aber wohin! Vom ersten Tag an Kommissionen, Staatsanwaltschaften ohne Unterlass. Siebzehn Jahre dauert das nun schon.

Es wird Sie bis an Ihr Lebensende begleiten.
Was mich am meisten schmerzt, ist nicht, dass ich jetzt der Sündenbock bin. Sondern: Ich hatte den Ehrgeiz und fühlte mich angesichts meines Lebenswegs auch dazu verpflichtet, eine Autobiografie zu schreiben. Leider war mir das nicht vergönnt. Ich kannte doch alle Grossen dieser Welt! Breschnew und Gorbatschow, Reagan und Bush, Brandt und Kohl, aber auch Fidel, Qadhafi und Kim Il-sung. Ich hätte schreiben können, wie es war – natürlich aus meiner Sicht, aber Sie haben ja selber gehört, dass ich zu Selbstkritik fähig bin, in Sachen Tschechoslowakei etwa oder Kriegsrecht.

Nun, in Sachen Kriegsrecht…
(überbetont) Ich bedaure, es tut mir leid, ich entschuldige mich, ich schäme mich sogar dafür, dass es diese Vorkommnisse gab, dass Menschen Unrecht angetan wurde, dass es unnötige Repressionen gab, von denen ich zum Teil nicht einmal wusste, dass es Racheakte gab, dass Menschen umgekommen sind.

Wie erklären Sie sich, dass viele Historiker ganz andere Geschichten erzählen als Sie?
Das hat natürlich politische Gründe. Es besteht eine politische Nachfrage nach diesen Geschichten.

Laut Aufzeichnungen aus dem Politbüro hatte Moskau keine Absicht, in Polen einzumarschieren. Die Invasionsgefahr, die Sie als Grund für das Kriegsrecht angeben, bestand also gar nicht.
Ich bitte Sie, bleiben wir doch bei den Fakten. Auf irgendeiner Poltibüro-Sitzung sollen irgendwelche KPdSU-Mitglieder gesagt haben, in Polen werde nicht einmarschiert. Andere haben für den Einmarsch plädiert, aber das wird natürlich nie erwähnt. Man hat nicht einmal die Kopie eines Protokolls, geschweige denn das Original, sondern bloss einen Auszug davon, und so etwas gilt dann als heilig. Wir aber (schreit beinahe), wir hatten Fakten, Fakten, Fakten!

Was für Fakten?
Wir hatten Berichte, dass Moskau gewaltige Truppenmengen zusammenzog. In unseren Nachbarländern standen Dutzende von Panzerdivisionen an der Grenze. Die Sowjettruppen auf polnischem Boden wurden pausenlos von Transportflugzeugen angeflogen. Dann kam Anfang Dezember 1981 der Eisenbahnverkehr an den polnischen Grenzen zu erliegen, angeblich aus technischen Gründen, Tausende von Waggons waren blockiert. Nach der Einführung des Kriegsrechts war die Blockade natürlich sofort weg. Das sind doch eindeutige Zeichen.

Für Sie gibt es nicht den geringsten Zweifel: Die Invasion stand unmittelbar bevor?
Es gibt viele Zeugen dafür. Zum Beispiel der russische General Atschalow, der damals Führer einer Luftlandedivision in Litauen war. Er ist vor zwei Jahren im polnischen Fernsehen aufgetreten und hat bestätigt, dass die Intervention vorbereitet wurde. Er war Anfang 1981 in geheimer Mission mit einigen Männern nach Warschau gereist, um die wichtigsten Gebäude für den Ernstfall zu erkunden: das Gebäude des Zentralkomitees der Partei, das Regierungsgebäude, das Parlament. Und Atschalow ist nicht irgendjemand: Seine Division war 1968 mit Fallschirmen in Prag gelandet und hatte Dub?ek festgenommen, die hatten Erfahrung. Ein anderes Beispiel: Michail Gorbatschow.

Was sagt er?
Gorbatschow hat in einer schriftlichen Stellungnahme an unser Parlament bestätigt, dass in einer extremen Situation die Panzerdivisionen an den polnischen Grenzen in Gang gesetzt worden wären. Und was heisst das, extrem? Ich hatte vorhin von der Bedeutung des Gleichgewichts gesprochen. Eine extreme Situation wäre dann eingetreten, wenn die Lage derart instabil geworden wäre, dass der Warschauer Pakt nicht mehr funktioniert hätte. Polen war wegen seiner geografischen Lage ein Schlüsselland. Der Warschauer Pakt hätte ohne Bulgarien, Rumänien oder die DDR funktionieren können, aber nicht ohne Polen. Diese extreme Situation stand unmittelbar bevor, und dann wäre der Einmarsch unvermeidlich gewesen. Ich musste die schwere Pflicht auf mich nehmen, dies zu verhindern.

Warum stand die Destabilisierung in Polen unmittelbar bevor?
Weil die Solidarnosc für den 17. Dezember 1981 riesige Demonstrationen mit Hunderttausenden von Teilnehmern angekündigt hatte. Es gab Pläne, das Radio und Fernsehen zu übernehmen und vieles mehr. Das Benzin war also ausgegossen, und das hätte eine Explosion gegeben! Es hätte Bürgerkrieg bedeutet, es hätte ein zweites Budapest gegeben, nur viel schlimmer als 1956. Wir mussten präventiv eingreifen.

Sie übertreiben!
Lesen Sie die Mitteilung, welche die polnische Bischofskonferenz Ende November 1981 veröffentlicht hat. Ich zitiere wörtlich daraus: «über unserem Land ziehen sich schwarze Wolken zusammen, es droht ein Bruderkonflikt.» Mit anderen Worten: ein Bürgerkrieg.

Warum haben Sie nicht das Gespräch gesucht mit der Solidarnosc?
Das habe ich doch. Auf meine Initiative fand Anfang November das «Treffen der Drei» statt: Primas Józef Glemp, Walesa und ich. Wir haben dort vereinbart, dass die Solidarnosc an der Macht beteiligt werden soll. Das ist schriftlich festgehalten, aber es wird von diesen angeblichen Historikern natürlich ignoriert. Und Walesa war einverstanden, er war ein Realist. Aber seine Kollegen von der Solidarnosc haben ihn desavouiert. Die radikaleren Solidarnosc-Führer befanden, die Regierung liege bereits am Boden, es gebe nichts mehr zu verhandeln.

Herr General, Sie haben drei verschiedene Polen erlebt: die Zweite Republik vor dem Krieg, die kommunistische Volksrepublik und jetzt seit 1990 die demokratische Dritte Republik.
Welche halten Sie für die beste?

Ich glaube, die Dritte Republik wird die Beste sein. Die Anlagen dazu sind vorhanden. Heute ist es üblich, die Zweite Republik zu glorifizieren, aber die hatte auch schwere Mängel. Es war ein halbdiktatorisches System, und die soziale Ungerechtigkeit war enorm.

Die Familie Jaruzelski gehörte damals zur Oberschicht.
Ja. Sie kommen aus einem Land, wo man sich das wahrscheinlich kaum vorstellen kann: Meinem Vater haben die alten Frauen noch die Hände geküsst, wenn sie ihn um etwas baten. Vor mir haben sich die alten Leute verbeugt und mich mit «junger Herr» angesprochen. In die öffentliche Schule bin ich nur zwei Tage gegangen – was sollte ich als junger Herr mit diesen barfüssigen Kindsköpfen? Gleichzeitig sah ich das Elend der Arbeiter, auch auf unserem Gut. Es gab also enorme Gegensätze. Aber es ist dumm, die Zweite Republik deswegen zu verdammen, wie man das nach dem Krieg getan hat. Man darf die Geschichte nicht schwarz-weiss betrachten. Schliesslich war das Land 150 Jahre lang geteilt und besetzt gewesen, und man musste es ab 1918 neu aufbauen, Armee, Administration, Schulwesen und so weiter. Das waren grosse Errungenschaften.

Das Gut Ihrer Familie wurde 1944 enteignet.
Es wurde im Krieg total zerstört. Das Land wurde parzelliert und an die Arbeiter verteilt. Ich bin vor ein paar Jahren mal hingefahren. Da habe ich den Sohn unseres ehemaligen Kutschers getroffen, der damals vier Hektaren bekam. Stellen Sie sich vor, der hat heute eine grössere und bessere Villa als ich! Also man darf nicht vergessen, was der Sozialismus diesen Massen gebracht hat, die aus den Lehmhütten kamen. Und ich sage das als einer, der davon nicht profitiert hat.

Sie haben doch Karriere gemacht!
Nun ja, ich habe mich um diese hohen Positionen nie gerissen. In Wahrheit gehörte ich zu jenen, die alles verloren hatten. Als der Krieg zu Ende ging, hatte ich bloss einen Rucksack und darin ein Ersatzhemd, das wars. Vater war begraben, Mutter und Schwester waren in Sibirien, das Haus war weg, alles weg. Mein einziges Zuhause war die Armee.

Man hat Ihnen alles genommen, und trotzdem sind Sie Kommunist geworden?
Ich habe mich ganz bewusst auf ihre Seite gestellt, weil die Verhältnisse nun mal so waren. Es hat sich ein Brief erhalten, den ich am 21. Juni 1945 an meine Mutter und Schwester nach Sibirien geschrieben habe. Wir waren damals noch in Deutschland stationiert, in Cottbus. Dieser Brief ist für mich sehr wichtig. Ich habe geschrieben, es geschähen in Polen nun viele Dinge, die schwierig zu verstehen seien. Doch man müsse dem realen Polen dienen, wie auch immer es aussehe und was für Opfer auch immer es von uns verlange. Wenn ich heute auf mein langes, vielleicht schon allzu langes Leben blicke, so kann ich sagen, dass ich dieser Philosophie treu geblieben bin. Man muss jenem Polen dienen, das in der Realität existiert.

Glauben Sie weiterhin an die Idee des Kommunismus?
Ich möchte nicht einfach alle schönen und ehrenwerten Ideen auf den Müllhaufen werfen, die mit dem Kommunismus verbunden sind, Gerechtigkeit, Gleichheit und so weiter. Aber man muss sagen, dass bei der Umsetzung schreckliche Fehler und Verbrechen begangen worden sind. Von diesem primitiven Kommunismus, der Bankrott gemacht hat, bin ich weit entfernt, und ich darf unbescheiden sagen, dass ich selber zu seinem Ende beigetragen habe. Aber ich gebe zu, dass ich lange Zeit geglaubt habe, der reale Sozialismus lasse sich erhalten, indem man ihn demokratischer, effizienter, menschlicher macht. Eine Art dritter Weg. Aber das hat sich als unrealistisch erwiesen.

Wenn Sie auf das heutige Polen blicken: Sind Sie optimistisch?
Ich bin gemässigter Optimist. Wir haben zwar jetzt eine Demokratie, aber sie hat Verfahrenscharakter. Wir halten Wahlen ab, aber eine richtige Zivilgesellschaft hat sich noch nicht entwickelt. Und dann ist da dieses ewige Zurückblicken, das gibt es in keinem anderen Land. Statt sich um die heutigen Probleme zu kümmern, muss man ständig in den alten Wunden stochern. Jedes Jahr am 13. Dezember gibt es eine grosse Diskussion wegen des Kriegsrechts. Dabei war unser Sozialismus doch relativ menschlich, verglichen mit jenem in der DDR oder in der Tschechoslowakei, von Rumänien ganz zu schweigen. Der Zynismus des Westens besteht darin, dass man unser Kriegsrecht verdammte, als wäre es das grösste übel der Welt, und gleichzeitig Ceau?escu hofierte, wo der doch das Kriegsrecht faktisch zwanzig Jahre lang hatte, auch wenn es nicht so hiess. Er wurde mit allen Ehren empfangen, bekam Medaillen und Orden, einen Adelstitel der britischen Krone und so weiter.

Warum?
Weil er sich gockelhaft aufführte und damit die Russen ein wenig nervös machte. Ich erinnere mich an all diese Konferenzen und Besprechungen: Immer musste Ceau?escu eine andere Meinung haben, selbst bei Nebensächlichkeiten. In der Praxis hatte das keinerlei Bedeutung. Doch dem Westen galt er als wichtig, weil er angeblich so selbstständig war.

Was haben Sie heute für eine Beziehung zu den USA?
Ich gehöre zu jener Politikergeneration, die Amerika als ihren Hauptfeind betrachtete. Das ergab sich aus der Logik der Teilung dieser Welt. Heute sehe ich das anders. Ich schätze die historische Rolle der USA, von meiner Bewunderung für das zivilisatorische und kulturelle Niveau gar nicht zu sprechen. Ich war mehrmals dort, eingeladen von Universitäten und Kollegen des Generalstabs, ich habe viele Leute kennengelernt, ich habe viel Sympathie für Präsident Bush senior und andere Politiker. In einem allgemeinpolitischen und persönlichen Sinn ist meine Beziehung zu den USA sehr positiv.

Aber?
Amerika ist ein Imperium. Nicht ein kriegerisches Imperium, nicht eines, das erobern will, aber eines, das seine Interessen manchmal auf sehr unzimperliche Art verteidigt.

Sie haben fast das ganze 20. Jahrhundert durchlebt. Wie beurteilen Sie es?
Ich würde sagen, es war das Jahrhundert mit den grössten Umbrüchen überhaupt. Einerseits waren da die Weltkriege, die verbrecherischen Regimes, dieses unglaubliche Leiden – in diesem Sinn war es sicher ein Rekordjahrhundert. Anderseits gab es gegen Ende Jahrhundert aber auch diese positiven Umbrüche: die Beseitigung des Kolonialsystems, der Zerfall des Ostblocks. Wir sind nun in ein Zeitalter getreten, das man moderne Zivilisation nennen könnte. Nicht nur im technisch-materialistischen, sondern auch im geistigen Sinn.

Was meinen Sie damit?
Am brutalsten und blutigsten waren immer die Kriege der Religionen und Weltanschauungen. Dass wir die ideologischen Gegensätze überwinden konnten, dass der Kalte Krieg zu Ende ist, dass es heute – mit Ausnahme der islamischen Territorien – diese Aufteilung der Welt nicht mehr gibt, das ist eine grossartige Sache. Und ein optimistisches Signal für die Zukunft.

Gibt es Altersweisheit?
Das wäre jetzt prätentiös, wenn ich als sehr alter Mensch sagen würde, dass mit dem Alter die Weisheit zunimmt. Gewiss, man ist reicher an Erfahrungen, und Erfahrung ist auch eine Form von Weisheit. Meine Erfahrungen möchte ich, so sehr ich es noch vermag, nutzen und weitergeben. Gleichzeitig verliert man seine Gewandtheit, physisch und intellektuell.

In einem Gespräch mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» wurden Sie einmal gefragt, welches Lebensziel Sie hätten. Sie haben geantwortet, Sie hätten nur ein Ziel: diese Welt möglichst rasch zu verlassen. Wenn ich hier sehe, wie Sie sich engagieren, kann ich kaum glauben, dass Sie das wirklich gesagt haben.
Wissen Sie, ich habe immer wieder Krisenphasen, wo ich genug habe von diesem Gerichtsprozess und all diesen Dingen und mich frage, wozu ich mich damit herumquäle. Anderseits, wenn ich jetzt aufgäbe, wäre das eine Art Desertation, und ich möchte nicht desertieren, nicht kapitulieren. Ich habe keine Angst vor dem Tod, er ist unausweichlich, früher oder später wird er auch Sie treffen. Aber ich habe Angst davor, hilflos zu werden. Einer der mir am nächsten stehenden Stellvertreter, General Janiszewski, hatte einen Hirnschlag; nun liegt er seit acht Jahren unbeweglich wie ein Klotz. Nicht einmal Selbstmord kann er machen. Was ist denn das für ein Leben!

Befürworten Sie die Sterbehilfe?
Ja. So etwas ist doch Menschenquälerei. (Klopft auf Holz) Im Moment bin ich ja noch, wie Sie sehen, in einer Verfassung, die mir erlaubt, einigermassen geistesgegenwärtig mit Ihnen zu sprechen. Körperlich habe ich viele Probleme, aber irgendwie funktioniere ich noch. Doch das hängt alles an einem seidenen Faden, der jeden Moment reissen kann. Und dann bin ich entweder tot, oder schlimmer, und davor fürchte ich mich eben, es beginnt ein langsamer Sterbeprozess. Ich bemühe mich, nicht daran zu denken. Im Moment würde ich jedenfalls nicht sagen, dass ich die Welt möglichst rasch verlassen möchte. Seit wenigen Jahren habe ich einen Enkel, er ist jetzt dreieinhalb und macht uns grosse Freude. Ich möchte noch ein bisschen dableiben, damit er sich an seinen Grossvater erinnern wird.

Die Diskussion

2 Reaktionen

  1. Hansrudi Brawand

    Ein hochinteressanter Artikel von einem Mann in schwierigen Situation

  2. Fux Uli

    Ja, guter Artikel – bin froh, dass ich ihn noch gelesen hab, obwohl ich dachte, dass er sich nicht lohnen würde. Leider wurden einige wichtige, naheliegende Fragen nicht gestellt – das muss man an Herrn Plüss’ Arbeit kritisieren. Es wär auch gut gewesen, etwas mehr zu den Gesprächsumständen und zur Kommunikation erfahren zu haben.

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